Er sitzt im Schneidersitz auf der verschneiten Straße, trinkt Bier und scheint immun gegen den Frost zu sein. Energisch drückt er seinen mageren Rücken gegen ein Schaufenster, brüllt sein Mantra in die Welt hinaus:„Gimme some loooove, womman, gimme some loooove.“ Ein paar Passanten beschleunigen ihre Schritte. Seufzend geht ein Punk mit ausgewaschenem Iro neben ihm in die Hocke. „Na Digga, brauchste noch Pfand? Hab zwei Flaschen über, was sagste dazu, hä Kumpel?“ „Gimme some loooove, womman, gimme some loooove“, lautet die Antwort. Spucketropfen fliegen. „Okay, ich pack se in deine Tüte, hab noch wat vor. Kannst ja später in Park kommen, Digga.“ „Gimme some loooove?“ Kopfschüttelnd steht der Punk wieder auf, drückt die Knie durch und geht Richtung Innenstadt davon. Er sitzt nur weiter auf der Straße, das Bier jetzt leer, der Pappbecher auch, der vor ihm steht und langsam im Bodenfrost festwächst. Rhythmisch bewegt er den Körper zu der Melodie in seinem Kopf. „Gimme some loooove, womman, gimme some loooove!“
„Sieht dir wieder ähnlich, den ganzen Tag fett auf der Couch sitzen und die Bude versiffen lassen, blöde Schlampe!“ Das ist Vaters Mantra und Mutter weiß, was jetzt kommt. Wie jeden Abend versucht sie, seinen Schlägen auszuweichen, ist aber viel zu betrunken. Gesoffen hat er auch, aber schlagen kann er dann immer noch, vor allem seine Frau. Und das macht er jetzt. Mit Hingabe. Im Nebenzimmer hockt der Filius, hat selbst ein blaues Auge, weil er verdammt schlechte Noten nach Haus gebracht hat. Er hört nicht, was Mutter kreischt, denn er presst die Kopfhörer seines Walkmans fest gegen die Ohren. „Gimme some loooove, womman…“ singt irgendwer, er hat keine Ahnung von wem die Nummer ist. Die Kassette hat er einem Schulkollegen aus der Tasche gezogen, als er Turnen schwänzte. Morgen fahren die anderen auf Klassenfahrt. Sportwoche. Aber Vater meinte, die Idee, dass er da mitfahren könne, kann er sich direkt in den blöden Arsch schieben. Und dann hagelte es blaue Flecken. Er drückt den Repeate-Knopf und in der kurzen Zeit, während die Kassette zurückspult, hört er aus dem Nebenzimmer schluchzendes Heulen. „Gimme some loooove, womman, gimme some loooove“ murmelt er. Drückt seinen schmerzenden Rücken gegen das speckige Kinderbett und versteht den Rest des Textes überhaupt nicht.
„Alter, was ist denn das für ein Pisser?!“ empört sich eine Stimme. Beine kommen in sein Blickfeld, er sieht Turnschuhe und eine Blue-Jeans. „So ein verfickter Penner, hockt hier auf der Straße und brüllt die Leute über den Haufen, hat der sie noch alle?!“ regt sich die Stimme weiter auf und überschlägt sich dabei pubertär. „Pisser“ zischt es und die Turnschuhe treten ihn aus dem Schneidersitz. Er kippt einfach zur Seite, hebt zögerlich eine Hand. „Gimme some loooove, womman?“ „Alter, ich geb dir gleich was ganz anderes!“ herrschen ihn die Turnschuhe an und ein paar Sneakers daneben kichern. Die Schuhe beginnen einen Tanz auf seinem Körper, treten ihn in den Bauch, treten gegen seinen Kopf, treten in seine Weichteile. „Du scheiß Penner!“ lachen die Sneakers und zielen auf seinen Mund. Er spuckt Blut und Zähne. Eine Flasche kracht auf seinen Schädel.
„Weißt du, was ich wirklich an dir mag?“ fragt sie ihn, nachdem er leise gefragt hat, ob sie mit ihm ausgeht. „Weiß ich nicht.“ murmelt er verzagt und wird rot. „Ich auch nicht.“ meint sie und stolziert unter dem gegacker ihrer Freundinnen davon. Er zuckt wie ein geschlagener Hund. Blickt sich verlegen um und hat das Gefühl, dass der gesamte Schulhof mit dem Finger auf ihn zeigt. Geschlagen schlurft er vom Feld, nie Eroberer, nie Held und schwört sich, dass er nie wieder mit Mädchen reden wird. Er schließt sich im Klo ein. Setzt sich seinen Walkman auf die Ohren. „Gimme some loooove, womman, gimme some loooove!“ schallt es aus den Kopfhörern. Aus seiner Tasche holt er Klebstoff und eine zerfledderte Plastiktüte. Inhaliert bis er fast ohnmächtig wird.
„Scheiße, ich glaub der Pisser ist hinüber.“ sagen die Turnschuhe und treten zur Sicherheit noch einmal hinterher. „Fuck, Alter, lass jetzt endlich, ich hab keinen Bock mehr!“ greinen die Sneakers. Kleine Blutspritzer kleben an ihnen. Plötzlich zuckt Blaulicht über sie hinweg. Schnell rennen sie davon. Etwas später beugt sich ein Polizist über den reglosen Körper. „Ich glaube für den brauchen wir keinen Krankenwagen mehr.“ stellt er trocken fest.
„Ich liebe dich“ flüstert sie ihm zärtlich ins Ohr, während er die weiche Haut an ihrem Hals streichelt. „Ich liebe dich wirklich“, wiederholt sie und schaut ihm dabei tief in die Augen. „Aber ich muss dir etwas sagen.“ Er schaut zurück, in diese wunderschönen, blauen Augen und versinkt in ihrem Blick. „Ich hab mich für das Kunststudium in Berlin beworben und sie haben mich genommen. Ich zieh nach den Sommerferien nach Berlin.“ Er wacht schlagartig aus seiner Trance auf. „Ich denke, wir werden uns dann nicht mehr oft sehen, denn das Studium ist sehr anstrengend und außerdem hast du nen Job hier und ich glaube nicht, dass du mit nach Berlin kommen wirst, oder?“ Der letzte Satz ist keine echte Frage. Das hört er genau. „Natürlich werde ich dir schreiben und außerdem kannst du mich ja manchmal besuchen, aber ich glaube es macht echt keinen Sinn, wenn wir weiter zusammen bleiben. Weißt du was ich meine?“ Das war eine Frage. Er kennt die Antwort. Nickt. „Ich hab dir unseren Song aufgenommen, du weißt schon, der den du mir vorgespielt hast, als wir uns das erste Mal geküsst haben. Auf der Kassette ist nur die eine Nummer, damit du nicht immer zurückspulen musst. Ich liebe dich wirklich, vergiss mich bitte nicht.“
„Hast du schon gehört, den Rastaman hats neulich erwischt, den haben sie weggetreten.“ erzählt ein paar Tage später ein Mädel dem Punk. „Scheiße, ehrlich?“ fragt der und kneift wütend die Augen zusammen. „Diese Wichser, das ist dieses Jahr schon der dritte Penner, den sie umgebracht haben.“ „Ja, stand gestern auch in der Zeitung.“ sagt das Mädel und drück ihm mitleidig die Schulter. „Angeblich war er erst 33, kannst du dir das vorstellen? Dachte immer er wär schon älter. Außerdem haben sie geschrieben, dass die Stadt jetzt wieder verstärkt Kontrollen fahren will.“ Der Punk spuckt nur wütend auf den Boden. „Weißt du, dass er mir einmal eine Kassette geschenkt hat? Meinte sie würde mir helfen, wenn es mal ganz dick kommen würde. Hab keine Ahnung was da drauf ist, hab nix wo ich sie abspielen könnte.“ Er gießt einen Schluck seines Bieres auf den Boden. „Hier Digga, das ist für dich.“ brummt er müde. „Ich glaub meine Mutter hat noch einen Kassettenspieler zu Hause, den kann ich dir mitbringen, wenn du Bock hast. Dann kannst mal reinhören, scheint ihm ja viel bedeutet zu haben.“ „Fast schon ganz alles“, murmelt der Punk traurig „fast schon ganz alles.“
© Sybille Lengauer