„Guck mal Mama, da ist Scheißblut am Boden.“ Eine piepsige, leicht verrotzt klingende Stimme drängelt sich durch die mäßig gefüllte Straßenbahn bis an meine Ohren. Sie gehört einem kleinen, vielleicht drei Jahre alten Jungen, dessen Mutter gerade karmesinrot zu leuchten beginnt. „Pscht“, zischt sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und glotzt verlegen in die desinteressierte Runde. Ihr gequälter Mutterblick huscht von links nach rechts. Als sie merkt dass ich sie ansehe, huscht ein um Entschuldigung heischendes Lächeln über ihr Gesicht. „Aber Mama, da ist wirklich Scheißblut am Boden, jetzt guck doch mal!“ In nörgelndem Tonfall zupft der Kleine an meinem Trommelfell. Seine Hand zupft derweil ruppig am Jackenärmel der Mutter und ich kann ihr ansehen, wie unendlich peinlich die Situation für sie ist. „Pscht, Thomas, schäm dich. Sowas sagt man doch nicht, also wirklich.“ Wieder das Entschuldigungslächeln in meine Richtung. Als ob mich der Ausdruck Scheißblut interessieren würde. Thomas schnieft und steckt den Daumen seiner linken Hand in den feuchten Schmollmund. Seine Mutter denkt jetzt wahrscheinlich darüber nach, ob sie an der nächsten Haltestelle aussteigen soll. Ich denke daran, dass sich klein Thomas bei einer Vollbremsung den linken Daumen abbeißen würde. Dann gäbe es erst richtig Scheißblut hier in der Straßenbahn. Jetzt hat auch Thomas entdeckt dass ich in seine Richtung sehe. Mit einem sanften Schmatzer zieht er den Daumen aus dem Mund und guckt darauf, als hätte er ihn gerade neu entdeckt. Er sieht auch neu aus, der saubergelutschte Daumen. Wie er so im Sonnenlicht glänzt, das durch die zerkratzten Fenster der Straßenbahn scheint.
Eine Etage höher ist seine Mutter immer noch damit beschäftigt peinlich berührte Blicke in meine Richtung zu werfen, aber das wird mir zu langweilig. Thomas ist viel spannender als seine Wurfkiste. Ich schenke ihm mein berühmtes „Hey, ich bin echt cool, du auch?“ Lächeln und er grinst zurück. Zieht einen kleinen Schleimfaden hoch, der langsam aus seiner Nase läuft. Ja, Thomas ist auch echt cool, das merke ich jetzt und ich bin froh, dass die Straßenbahn vorhin keine Vollbremsung hingelegt hat. Jetzt deutet er mit seinem knubbeligen Zeigefinger auf den Boden vor sich. „Guck mal, Scheißblut.“ sagt mir sein Blick. Ich gucke und tatsächlich. Direkt vor Thomas ist eine kleine Lache getrockneten Blutes auf dem Boden. Irgendwer hat es vor einiger Zeit hier auf dem Boden verloren, aber es ist nicht genug als dass es der ehemalige Besitzer tatsächlich vermissen würde. Könnte aus einer Nase stammen, oder aus einem aufgeschnittenen Finger. Nichts spektakuläres. Ich runzle leicht die Stirn und signalisiere Thomas, dass seine Entdeckung bei weitem nicht die Aufregung wert ist, die er verursacht. Er versteht und beschließt spontan, die Situation etwas aufzulockern. „Scheißblut, Weißhut, Scheißblut, Weißhut!“ krakeelt er fröhlich. Ich muss grinsen, seine Mutter wird kreidebleich. Unsere Blicke treffen sich erneut und ich könnte schwören, dass sie mir die Schuld für das spontane Ständchen ihres Sohnes zuschiebt. Während ich mir denke, dass „Scheißblut, Reißwut!“ noch um ein Stück cooler als „Scheißblut, Weißhut“ klingen würde, zerrt sie den aufgekratzten Sohnemann an seiner Jacke zum Ausstieg und drückt den Knopf. Jetzt wirft sie mir keinen Entschuldigungsblick mehr zu, jetzt starrt sie stur geradeaus. Wünscht sich wahrscheinlich, sich in Luft auflösen zu können. Thomas findet die ganze Aufregung offensichtlich Scheiße. Vor allem das Gezerre macht ihm zu schaffen. Er ruckelt hin und her, bis ihm der Kragen der Jacke bis über das Kinn reicht. Dann stößt er ein paar heulende Laute aus, die an Seehunde erinnern. Leider hält die Straßenbahn und Mutter drängt hinaus. Sie klemmt sich den Kleinen kurzerhand unter den Arm und schon ist sie draußen. Wirft keinen Blick zurück und verschwindet im Getümmel der Einkaufsmeile. Ich denke nicht, dass sie hier wirklich raus wollte. Sie hat die Flucht angetreten. Feige Scheißblutmutter. Ich habe das Gefühl, dass es gleich ein wenig dunkler in der Straßenbahn geworden ist. Jetzt wo der kleine Entertainer weg ist. Die anderen Fahrgäste sind erzlangweilig. Man starrt aus dem Fenster, auf den Boden, auf das Handy oder in die Zeitung. Ein Pärchen nutzt die kurze Zeit der Verliebtheit für zärtliche Blicke und schüchterne Küsse, wobei ich dem Mädel bei der Kürze des Rockes und dem Lippenrot die Schüchternheit garantiert nicht abkaufe. Macht aber nichts, Hauptsache sie amüsiert sich.
Ich langweile mich. Schaue mir noch einmal den Klecks Scheißblut am Boden an. Auch langweilig. Bei der nächsten Station muss ich raus. Also raffe ich schon mal meinen Rucksack und krieche aus dem knarrenden Plastiksessel. Unbequem, die Dinger. Als die Straßenbahn hält, springe ich die drei Stufen auf einmal hinunter. Ich lande und sofort keift eine ältere Dame, dass ich sie gefälligst nicht so erschrecken soll. Jugend von heute. Wie blöd ist das denn. Ich streife sie mit meinem berühmten „Du mich auch“ Blick, aber sie schaut mich gar nicht an. Unterhält sich mit ihrer ebenfalls hundertjährigen Freundin über degenerierte Generationen und ich denke mir, dass das ein ziemlich geiler Bandname wäre. Zumindest für eine Punkband. So eine, die in dreckigen Kellern spielt, wo der Schweiß von der Decke tropft und die Polizei nach drei Songs vor der Tür steht, weil die Nachbarn den Ausbruch des dritten Weltkriegs gemeldet haben. Ich hätte wirklich Lust, jetzt gleich so eine Band zu gründen. Ich wäre Leadkreischerin und würde mich Scheißblut nennen. Geht aber nicht, ich hab zu tun. Während ich so durch die Straßen latsche kreisen meine Gedanken immer wieder um die Punkband. Ich stelle mir vor, wie wir vor fünfzehn besoffenen Punkern spielen, die zusammen mehr Lärm machen als unsere Instrumente. Ich stelle mir vor, wie ich unheimlich energisch ins Mikro gröle und dazu meinen buntgefärbten Irokesenschädel schüttle. Ich stelle mir vor, wie es plötzlich an der Tür wummert und bam! da steht die Polizei, mindestens zehn Stück Grünspanfressen die alle gleichzeitig versuchen sich durch den Türrahmen zu quetschen. Sie schauen erzgrimmig drein und ich schreie ihnen wahnsinnig tolle, superreflektierte Schimpfkaskaden an die Köpfe. Natürlich werden wir verhaftet, mit Polizeigewalt und einer Menge Scheißblut. Coole Sache das. Leider kenne ich niemanden, der sich ein Instrument leisten könnte. Daran wird das Projekt wohl scheitern. Wer will schon eine A-Cappella-Punkband hören. Obwohl, irgendwie hätte das auch was. Ich kaue den Gedanken, schiebe ihn von der linken Gehirnhälfte in die rechte. Kaue noch ein wenig mehr darauf herum und irgendwann fällt mir auf, dass meine Füße von ganz allein zum Einkaufszentrum gelaufen sind. Brave Dinger. Ich atme tief durch und tauche ein.
Zäh wie Lava schiebt sich eine Menschenmasse zwischen den Geschäften hin und her. Irgendwo erdröhnt hysterisches Mädchengekicher. Bestimmt haben sie einen „süßen Boy“ entdeckt und hoffen jetzt, dass er sie alle gleichzeitig fragt, ob sie mit ihm zum Justin Bieber Konzert gehen möchten. Ich wünsche dem armen Bastard viel Glück. Habe jetzt keine Zeit ihn in supermanmanier zu retten. Soll er sehen wo er bleibt. Nein, ich muss mich selbst vor einer Woge Mensch retten, lasse mich von ihr an den Schaufenstern vorbeitreiben bis ich fast zufällig den Eingang treffe, den ich brauche. Das Bewegungsmoment spült mich in den Parfumladen und sofort schwebt eine bezaubernde Verkaufsfee auf mich zu. Umflötet mich mit einem herzlichen Hallo, was darf ich für Sie tun? Im Magen leicht verkrampft suche ich in den Taschen meiner Hose nach dem Zettel, auf dem ich den Namen des Lieblingsparfums meiner Mutter notiert habe. Kann mir partout nicht merken wie das Zeug heißt. Und apropos Zeug, hier dringt ein ganz schöner Gestank aus allen Ecken und Ritzen auf mich ein. Der ganze Laden ist geschwängert von Gerüchen, ein Konglomerat aus Parfüms, Cremes, Lotionen und Schweiß, der sich zur Faust geballt durch meine Nasenlöcher presst. Ich fühle mich auf eine perverse Art vergewaltigt, während ich der tänzelnden Verkaufstante den Zettel in die Hand drücke. Versuche flach durch den Mund zu atmen. Kackidee. Jetzt habe ich den Scheiß auf meiner Zuge kleben. Die Parfumuschi lächelt und geleitet mich zu ihrem Tresen. Ich kichere derweil über das Wort Parfumuschi, das mir gerade eingefallen ist. Parfu-Muschi. Das muss ich nachher ein paar Leuten auf Facebook schicken. Ich kann die LoLs und Rofls schon vor meinem inneren Auge sehen. Klaus schickt mir bestimmt ein Muhahaa. Der wäre ein toller Bassist für meine Punkband.
Aus einem Regal zaubert Parfu-Muschi das Mutterlieblingsparfum und noch ehe ich etwas sagen kann, sprüht sie mir einen Batzen davon mitten ins Gesicht. „Ist es das? Das ist es doch, nicht wahr?“ Nein, nicht wahr. Darf nicht wahr sein. Mit tränenden Augen stelle ich mir vor, dass ich sie in einem Bottich ihres blöden Parfums ersäufe. Nicke aber nur, immerhin ist ein Auftrag ein Auftrag. Sie packt es mir eines schön ein, kringelt eine hübsche Schleife darum. Ich bezahle und wünsche mir Thomas wäre hier um durch den Raum zu krakeelen. Was er sich für einen Reim auf „Scheißgestank“ machen würde? Wäscheschrank vielleicht. Wir könnten die Verkäuferinnen mit ihren Flakons bewerfen bis sie umfallen und dann vielleicht noch seine Mutter quer durch das Einkaufszentrum jagen. Das wäre irgendwie cool. Meine Augen tränen immer noch, als ich den Rückzug antrete. Zurück durch die Menschentrauben. An den ganzen Geschäften vorbei, in denen hungrige Verkäufer auf Kundenbeute lauern. Ich bin wirklich erleichtert, dass ich diesen Gang hinter mir habe. Bis Weihnachten sehen die mich hier nicht wieder, das schwör ich. Gerade kommt mir ein Mann mit Kinderwagen entgegen. Darin hockt eine Rotzgöre, die sieht fast aus wie Thomas. Ich werfe ihr einen verschwörerischen Blick zu und glaube zu erkennen, dass auch sie den Ausdruck „Scheißblut“ ziemlich anturnend finden würde. Daddy schiebt den Wagen aber zu schnell aus meinem Blickfeld, ich habe keine Chance, ihr etwas zuzuflüstern. Draußen auf der Straße hat es angefangen zu regnen. Eben noch Sonnenschein, jetzt Regenschleim. Ich bohre ein wenig in der Nase um das Wetter darauf hinzuweisen, dass es auch schon mal spannender war. Dann schlurfe ich möglichst demotiviert zurück zur Straßenbahnhaltestelle. Sehe mir ein wenig die Wassertropen an, wie sie auf den Boden klatschen. Wassermusik. Blöd nur, dass ich das Auto übersehe, das mich jetzt gerade über den Haufen fährt. Blöd nur, dass ich echt nicht aufgepasst habe. Jetzt sind nicht nur ein paar Rippen gebrochen, sondern auch die Parfumflasche meiner Mutter. Neben dem Scheißblut, das mir aus dem Körper rinnt, läuft auch noch das sündteure Stinkewasser in den Rinnstein. Thomas, wo bist du wenn man dich braucht, jetzt gäbe es eine Menge Scheißblut, auf das du mit dem Finger zeigen könntest.
Irgendwo schreit jemand. Klingt diesmal nicht nach Justin-Bieber-Hormonschwadronen. Eher nach Horror, so Zeter und Mordio. Scheint als wäre das hier ein spektakulärer Anblick. Es laufen ganz schön viele Menschen auf mich zu. Ich liege ein wenig auf dem Beton herum. Wundere mich, dass eigentlich gar nichts weh tut. Es pocht nur ein bisschen. Und irgendwie fließt immer mehr Scheißblut um mich herum. Ich denke daran, dass ich jetzt noch einmal in dieses verdammte Einkaufszentrum muss. Noch einmal in den Parfumladen. So verflucht kann auch nur ich sein. Aber schon verfliegt der Gedanke wieder, irgendwie auch egal. Dann hole ich eben nochmal so ein Ding. Ist eh nicht mein Geld, das ich dafür ausgeben muss. Irgendwer beugt sich über mich. Ich kann nicht so deutlich sehen wer. Vielleicht schwellen mir schon die Augen zu. Wirkt recht hektisch, wie sich die Gestalt so über mir abstrampelt. Zumindest der Lärm, das Zeter-und-Mordio-Konzert wird jetzt leiser, dafür bin ich dankbar. Langsam tut es nämlich doch weh. Und zwar überall. Aber irgendwie auch nicht richtig. So dumpf. Der Irgendwer über mir wird immer undeutlicher. Ich denke ich sollte vielleicht die Augen ein kleines bisschen zumachen. Ist mir zu anstrengend, wenn ich eh nicht richtig gucken kann. Und vielleicht sollte ich ein klein wenig Schlaf nachholen, den gab es in letzter Zeit eh nicht so reichlich, bei all den Schularbeiten. Eigentlich keine schlechte Idee. Bestimmt kommt sowieso gleich der Krankenwagen, da wecken sie mich eh wieder auf. Blaulicht und Sirenen. Eigentlich auch kein schlechter Bandname. Ich werde Klaus fragen, welchen er besser findet. Wahrscheinlich stimmt er für „Muhahaa“. Und Thomas, gute Nacht und schlaf gut, vielleicht sehen wir uns ja morgen wieder. In der Straßenbahn. Dann kann ich dir davon erzählen, dass ich heute noch einen Riesenbatzen Scheißblut gesehen habe. Fändest du bestimmt cool. Naja, bis morgen dann.
© Sybille Lengauer