Archiv für Mai, 2017

oder: Daumenlos durch den Nachmittag (eine versuchte Hommage am Rainald Grebe)

Ich weiß, dass für dich nur Geschwindigkeit zählt,

Eine Klingel erscheint da entbehrlich,

Da die aerodynamische Schnittigkeit fehlt,

Denkst du: „Weg mit dem Teil, jetzt mal ehrlich!“

Doch mein Haar, es weht lange und spielt mit dem Wind,

Da kommt’s schon mal vor, dass Insekten drin sind,

Und dann fahr ich mir kräftig durch’s Haar,

Ja dann fahr ich mir kräftig durch’s Haar…

„Autsch!“

Ich weiß, dass dir sehr schnelles Fahren gefällt,

Vielleicht sind deine Freuden sonst spärlich,

Kann schon sein, dass man in einen Rauschzustand fällt,

Ohne Klingel ist das sehr gefährlich.

Denn mein Haar, es weht lange und spielt mit dem Wind,

Und wenn’s dann mal passiert, dass Insekten drin sind,

Dann fahr ich mir kräftig durch’s Haar,

Ja dann fahr ich mir kräftig duch’s Haar,

„Aua!!!“

Vielleicht habe ich vorschnell mein Urteil gefällt,

Du stehst gar nicht auf irres Geradle,

Sondern kamst einfach nur ohne Daumen zur Welt,

Und jetzt blutet dein Auge, wie schade!

Denn mein Haar, es weht lange und spielt mit dem Wind,

Und dann kann es gescheh’n, dass Insekten drin sind,

Und dann fahr ich mir kräftig durch’s Haar,

Ja dann fahr ich mir kräftig durch’s Haar,

„Autsch!“

Schallala-lala-lalalala,

Ja dann fahr ich mir kräftig durch’s Haar,

Schallala-lala-lalalala,

Dein Veilchen kannst du jetzt deiner Freundin erklären…

* fade out *

© Sybille Lengauer

Heute, Bahnhof Recklinghausen. Auf einer Bank am Gleis Zwei sitzt eine adrett frisierte Dame um die Fünfzig. Sie trägt lila Schuhe mit kleinen Absätzen, eine farblich dazu passende Strumpfhose, ein schickes Kostüm. Sie sagt, als ich mich setze:„Fake, alles Fake.“ und schüttelt missmutig den Kopf.

Auftritt einer jungen, ausländisch aussehenden Frau. Die Dame neben mir schaut sie böse an. Dann mich. „Die Welt gehört den Menschen, nicht den Monstern.“, sprudelt es aus ihr heraus. Ich sage nichts. „Von Mutter und Vater gezeugt. Alles andere sind Roboter. Nichts als Gestank. Boring!“

Ich bin, auf eine fast perverse Art, fasziniert.

Das junge Mädel hüpft ein wenig auf und ab. Es ist nicht gerade warm heute. Die Dame sieht ihr dabei zu. „Die spielen einfach ihr Programm ab, aber das nützt ihnen nichts. Weil sie nicht selbst denken können. Teufelskreis. Immer wieder neu wird Dreck auf die Erde geschmissen, aber das ist jetzt vorbei.“ Ich atme langsam ein. Überdenke meine Strategie.

Ein Buch wäre jetzt nicht schlecht. Also hole ich „Golf Monster“ von Alice Cooper aus meiner Tasche und schlage es am Lesezeichen auf. Am Anfang des siebenten Kapitels. Alice posiert auf einem großen Foto in magischer Pose. Er ist schwer geschminkt. Trägt eine riesige Blume im auftoupierten Haar und sonst nur Wickelfolie…

Die Dame neben mir sieht natürlich hin. Atmet hörbar durch die Nase ein. Ich kann fast mit den Händen greifen, was ihr gerade durch den Kopf geht. Entschlossen steht sie auf und geht erhobenen Hauptes so weit weg, wie sie kann. „Jesus.“, höre ich sie noch murmeln, dann sind ihre lila bestrumpften Beine aus meinem Blickfeld verschwunden. „Ach, Alice.“, murmle ich zurück. Ganz liebevoll.

(c) Sy