Gebet
Was hat die Sonne am ersten Tag getan? Aufstehen.
Was haben wir am ersten Tag getan? Schlafen gehen.
Was hat die Sonne am zweiten Tag getan? Sie hat die Pflanzen verbrannt.
Was haben wir am zweiten Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am dritten Tag getan? Sie hat die Tiere verbrannt.
Was haben wir am dritten Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am vierten Tag getan? Sie hat die Meere verbrannt.
Was haben wir am vierten Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am fünften Tag getan? Sie hat die Menschen verbrannt.
Was haben wir am fünften Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am sechsten Tag getan? Sie hat die Ödnis erschaffen.
Was haben wir am sechsten Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am siebten Tag getan? Schlafen gehen.
Was haben wir am siebten Tag getan? Aufstehen.
Die Schatten wurden merklich länger, doch Mi-Jai weinte nicht. Sie verabschiedete sich steif und mit angemessenen Worten von Vater und Mutter, ihr gepacktes Bündel lag neben der Tür breit. Vater übergab ihr ein robustes Tuch, das er in den letzten Tagen gewebt hatte. Die gedämpften Farben drückten eine Traurigkeit aus, die er nicht in Worte fassen konnte. Mutter übergab ihr nichts. Sagte nichts.
Die Sonne senkte sich dem Erdenrund entgegen, doch Mi-Jai weinte nicht. Sie schulterte ihr Bündel, sah noch einmal in die resignierten Augen ihrer Eltern, verbeugte sich leicht. Dann ging sie zum Haus der Ältesten und verharrte respektvoll vor deren Eingang. Hoch über ihrem Kopf kamen die Sonnenräder in den Hügeln langsam zu einem quietschenden Halt, als die rote Himmelsscheibe hinter dem Horizont versank. Die Mühlen standen still. Aus dem Fenster eines Lehmhauses schimmerte schwaches Kerzenlicht. Mi-Jai dachte daran, dass jedes Haus in der Stadt heute Nacht eine kleine Kerze ins Fenster stellen würde. Sie hatte es oft genug selbst getan.
Die Nacht brach herein, doch Mi-Jai weinte nicht. Sie wartete vor der Tür der Ältesten, zeigte kein Zeichen von Unruhe. Als Hera-Nagi schließlich krumm und gebeugt aus dem Haus schlurfte, kniete Mi-Jai nieder und richtete ihren Blick auf den Boden. Lauschte nur auf das vertraute Klimpern, das die Ketten aus zarten Tierknochen um Hera-Nagis Fußgelenke hervorriefen. Sie roch den betörenden Duft der Räucherwurzeln, der die alte Frau umgab. Sog ihn in sich auf. „Unfruchtbare Tochter der Jai, dies ist dein Lebewohl.“ rief Hera-Nagi feierlich, während sie langsam näher kam und schließlich eine faltige Hand auf Mi-Jais Kopf legte. „Möge sich die Ödnis deines Leibes mit der großen Ödnis verbinden. Möge dein Staub Eins werden mit dem Staub des Landes. Mögest du aufkeimen in der Leere oder vergehen in der Dunkelheit.“ Mi-Jai spürte, wie warmes Öl ihren Kopf hinunterrann. Roch den Duft scharfer Kräuter, als die alte Frau sich über sie beugte und sanft ihren Scheitel küsste. „Gehe nun zur Mutter.“ sprach die Hera-Nagi und übergab Mai-Jai ein kleines Räuchergefäß. Diese erhob sich und versuchte ebenfalls feierlich zu wirken, als sie den Weg zum Heiligtum antrat.
Die Sterne funkelten am samtschwarzen Himmel doch Mi-Jai weinte nicht. Sie betrat die Kultstätte barfuß und mit geöltem Haupt. Trug das kleine Räuchergefäß, aus dem süßlicher Duft sickerte. Irgendwo in der Dunkelheit weinte ein kleines Kind. Das Weinen fuhr schmerzhaft in Mi-Jais Eingeweide. Sie verharrte in ihrer Bewegung und blieb unsicher stehen, wusste nicht recht, ob sie weitergehen sollte. Eine Priesterin trat hinter dem riesigen Frauenkopf hervor, der das Heiligtum dominierte. Halb versunken in der Erde, starrte das metallene Gesicht der Mutter in einen Sternenhimmel, der teilnahmslos auf sie zurückblickte. Ihre verrostete Strahlenkrone war mit Gebetsfahnen und Wunschtüchern behangen, die im sanften Nachtwind flatterten. Mi-Jai übergab das Räuchergefäß der Priesterin, während ihr Blick ehrfürchtig über das Antlitz der Mutter glitt. Dann folgte sie der Priesterin in den hinteren Bereich des Heiligtums, in dem hunderte Kerzen brannten. Eine kleine Gruppe Frauen erwartete sie dort bereits. Kunstvoll gewebte Roben raschelten über den Boden, als sie sich im Kreis um Mi-Jai aufstellten. „Unfruchtbare Tochter der Jai, dein Lebewohl wurde gesprochen. Es ist nun an der Zeit, dein Zeichen zu empfangen.“ „Priesterin der Mutter,“ erwiderte Mi-Jai mit zitternder Stimme, „ich bitte um das Zeichen der Kriegerin. Wenn unser Dorf mich in die Ödnis entsendet, möchte ich seinen Namen durch meine Taten in Ehren halten.“ „Dein Ansinnen ist Edel, Tochter der Jai, aber die Mutter hat ein anderes Los für dich entschieden.“ erwiderte eine der Frauen. Mi-Jai schluckte und schloss verkrampft die Augen. „Wenn unser Dorf dich in die Ödnis entsendet, wirst du seinen Namen durch deine Worte in Ehren halten. Du wirst das Zeichen der Erzählerin tragen.“ sagte eine der Frauen feierlich. „Aber ich kann keine Geschichten erzählen!“ entfuhr es Mi-Jai, die sich erschrocken die Hände vor den Mund schlug, kaum waren die Worte aus ihrem Mund geschlüpft. „Dann wirst du es lernen.“ antwortete eine Priesterin streng. „Die Mutter fällt das Los nie unbedacht.“ sagte eine der Frauen. „Ihr Blick ruht in einer Zukunft, die für uns verschlossen bleibt.“ übernahm eine andere. „Nimm das Zeichen an und verneige dich vor der Mutter.“ flüsterte eine dritte Stimme eindringlich. Mi-Jai nahm die Hände vom Mund und verneigte sich still. Die Priesterinnen führten sie zu einer geflochtenen Matte, halft ihr dabei, sich hinzulegen. Mi-Jai empfing das Zeichen.
Die Tätowierung schmerzte, doch Mi-Jai weinte nicht. Sie biss die Zähne fest zusammen, bis es in ihren Ohren klingelte. Ertrug die hämmernden Stöße gegen ihre Stirn. Zählte bis hundert. Und dann wieder von vorn. Aus dem riesigen Kopf der Mutter erklang mehrstimmiger Gesang. Mi-Jai begriff, dass sie die Nachtgesänge der Mutter ein letztes Mal hören würde. Sie spürte, wie sich Tränen in ihre Augen drängten. Schluckte sie hinunter. Konzentrierte sich auf den Schmerz, den die Nadel hervorrief. Eine der Priesterinnen räusperte sich. „Nun da du das Zeichen der Erzählerin empfängst, gebe ich dir deine erste Erzählung. Sie soll der Faden sein, dem viele weitere folgen werden, bis das Gewebe der Geschichten dich tragen kann. Höre, Tochter der Jai: Vor langer Zeit herrschte die Sonne friedlich über diese Welt. Sie spendete Licht für die Samen, auf dass sie keimten und in den Himmel wuchsen. Sie spendete Wärme für die Tiere, auf dass sie sich regten und freudig mehrten unter ihrem Angesicht. Sie spendete Hoffnung für die Menschen, auf dass sie sich aus dem Staub erhoben und ihren Namen priesen. Und die Menschen erhoben sich. Doch sie priesen nicht den Namen der Sonne. Gefräßig suchten sie, sich die Kraft der Sonne zu Eigen zu machen. Sie stahlen ihr heiliges Licht und brachten großes Leid über die Erde. Sie fraßen sich in den Boden, fraßen sich in den Himmel, fraßen sich in die Meere. Die Sonne verbarg ihr Antlitz, weil sie das Unglück nicht schauen konnte. Dunkelheit erfasste die Welt und die Meere brandeten über das Land. Aber die Menschen störte das nicht. Sie fraßen sich weiter voll mit den Geschenken der Sonne und dankten ihr niemals dafür. Als die Menschen begannen sich selbst zu fressen, stiegen ihre gellenden Schreie in den rauchschwarzen Himmel. Die Sonne hörte die Schreie und wandte sich der Erde zu. Aber sie konnte nicht ertragen was sie sah. In ihrem Schmerz verbrannte sie die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. Sie fegte ihre Asche in die Ozeane. Sie schuf die Ödnis und übergab sie unseren Vormüttern, auf dass wir ihren Segen preisen. Wir sprechen das Gebet, um uns an diese Zeit des Feuers zu erinnern.“ Die Priesterin verstummte. Mi-Jai lag regungslos auf der Matte und ließ die Tätowierung weiter über sich ergehen. Im Stillen dachte sie, dass sie ausgerechnet diese Geschichte schon auswendig kannte. Weil jeder sie kannte. Die Geschichte der tausend Sonnen und wie ihre Vormütter aus dem Ewigen Schlaf erwacht waren, um die Erde neu zu besiedeln. Als kleines Kind hatte Mi-Jai diese Geschichte gemocht. Aber dann hatte sie das Interesse an Geschichten verloren. Hatte die Erzählerinnen nicht besucht, wenn sie vor den Toren der Stadt lagerten. Und jetzt…
Die Minuten verstrichen. Der sphärische Gesang aus dem metallischen Kopf der Mutter verebbte und die Stille der Nacht senkte sich über das Heiligtum. Das Hämmern der Nadel endete. Die Priesterinnen rieben neues Öl auf ihre Stirn und halfen Mi-Jai zurück auf die Beine. „Erzählerin, du wirst unsere Stadt durch das südliche Tor verlassen und sie nie wieder betreten. Du bist nun kein Teil unserer Gemeinschaft mehr. Du bist nun keine Tochter der Jai mehr. Gehe Namenlos aus unserer Stadt. Wenn du durch das Tor gehst, blicke nicht zurück.“ Mit diesen Worten schickten die Priesterinnen sie in die Nacht hinaus.
Ein stetiger Wind blies über die Ödnis, als das namenlose Mädchen aus dem Stadttor trat. Der Mond ging langsam über den Hügeln auf und tauchte die Sonnenräder in silbriges Licht. Ein Narga rief in der Ferne sehnsüchtig nach seinem Weibchen. Das Mädchen schaute auf den schmalen Weg, der vor ihr lag, schaute in den grenzenlosen Himmel, der sich über ihrem Kopf ausbreitete, schaute nicht zurück. Als sie losging, flossen Tränen über ihr Gesicht.
© sybille lengauer
Gefällt mir sehr gut, weil es doch eine Hoffnung vermittelt, nämlich dass es doch jemanden gibt, der nachkommenden Generationen berichtet, was wir falsch gemacht haben und was sie daraus lernen können.