Archiv für April, 2019

Die Hirschfrau

Veröffentlicht: April 26, 2019 in Kurzgeschichten
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Es ist nie still im nächtlichen Sommerwald. Emsige Lebewesen knistern im dichten Unterholz, Wind flüstert in den Wipfeln der Bäume. Fledermäuse sirren durch die Dunkelheit, jagen geisterbleichen Motten hinterher. Ein Waldkauz jammert klagend. In einem Tümpel rufen Frösche sehnsüchtig zur Balz auf. Über den rauschenden Baumkronen spannt sich der grenzenlose Himmel, bauschige Wolken durchziehen seine samtblaue Weite. Funkelnde Sterne treten gegen einen sichelförmigen Mond an, der ein sardonisches Lächeln in die Nacht reißt.
Clemens fühlt sich einsam inmitten der Fülle. Er hört nicht den Nachtgesang der Frösche, hört nur die Stille in seinem Herzen. Er sieht nicht, wie das Licht des Mondes durch die Bäume schimmert, sieht nur das Ende seines Weges, an einem glatten Buchenast. Clemens erhängt sich. Zumindest ist das seine Absicht. Bisher hat er es vom Waldparkplatz bis zur kräftigen Buche geschafft, die er ausgesucht hat.
„An diesem Ast könnte man sich prima aufhängen.“ dachte er vor drei Monaten, als sein Bruder ihn schwatzend durch das Naturschutzgebiet schleifte. Die jungen Blätter des Baumes hatten in der Frühlingssonne beinah neongrün geleuchtet und Clemens war kurz stehengeblieben, hatte sich vorgestellt, wie er friedlich unter dem hellgrünen Blätterdach im Wind schaukelte. Der Gedanke wirkte beruhigend auf ihn. Es fiel Clemens leichter, den Schwall der Worte zu ertragen, den sein Bruder über ihm ausgoss. Es fiel Clemens leichter, den sinnlosen Spaziergang zu ertragen. Die Fahrt zurück im stickigen Auto und auch den nächsten Tag, mit all seinen Hindernissen. Und so blieb der Gedanke. Lungerte in seinem Gehirn, weckte ihn manchmal auf, wenn er abends vor dem Fernseher einschlief und zeigte ihm das Bild seiner schaukelnden Leiche.
Clemens ist schon lange schwer depressiv. Bisher fehlte ihm der Antrieb, um sich das Leben zu nehmen, aber sein Therapeut hat neue Tabletten verordnet. Dr. Mertens hofft, dass Clemens durch die veränderte Medikation mehr aus sich heraus und in die Umarmung eines sozialen Umfelds treten könnte, doch der springt stattdessen über seinen eigenen Schatten und überwindet die letzte Hemmschwelle. Clemens leuchtet mit seiner Stirnlampe den glatten Stamm der Buche empor. Der Ast reckt sich hoch über seinem Kopf in die Dunkelheit, blickt nicht zurück, sieht nicht einladend oder abweisend aus, ist einfach nur ein stabiler Buchenast. Clemens überprüft den Inhalt seines Rucksacks. Starrt auf das Seil, ohne es wirklich anzusehen. Dann schlingt er seinen Ledergürtel um den Stamm des Baumes und klettert ungelenk nach oben. Seit seiner Jugend ist er nicht mehr auf Bäume geklettert, doch im Grunde ist es wie mit dem Fahrradfahren. Man verlernt es nie. Clemens zieht sich auf den untersten Ast. Keuchend legt er eine Pause ein. Der wackelnde Lichtkegel seiner Stirnlampe macht ihn seekrank. Ärgerlich schaltet er das Lämpchen ab, wartet auf dem Ast, bis sich seine Augen an die Nacht gewöhnt haben. Dann klettert er weiter nach oben, bis er, verschwitzt und außer Atem, den hohen Ast erreicht. Clemens ist am Ziel. Er empfindet Erleichterung. Das Seil ist präpariert, der Knoten ist geübt, Clemens weiß, was er tut. Keine drei Minuten später sitzt er sieben Meter über dem Waldboden, die Schlinge um den Hals gelegt, das Seil fest um den Ast geschlungen. Zum ersten Mal nimmt Clemens seine Umgebung wirklich wahr. Er riecht den harzgeschwängerten Duft des Waldes, hört die Blätter der Buche in der sanften Brise rauschen, spürt ihre kühle Rinde unter seinen Händen. Durch das dichte Laubdach funkeln vereinzelte Sterne. In diesem Augenblick leuchten sie nur für ihn. Clemens springt. Schmerz folgt auf den kurzen Fall, blendender, gellender Schmerz. Schmerz der aufhören will. Nicht mehr gespürt werden will. Der atmen will. Der gequälte Körper bäumt sich auf, wehrt sich krampfhaft gegen das straffe Seil, das gnadenlos den Kehlkopf zerdrückt. Clemens zuckt und schaukelt wild hin und her.

Dunkelheit. Nichts als Dunkelheit. Zeit vergeht nicht. Zeit existiert nicht. Nur Dunkelheit. Keine Schmerzen, keine Gedanken, keine Richtung. Nur ein Körper, der an einem Seil im Nichts hängt. Clemens wartet. Hängt da und wartet darauf, dass etwas passiert. Dass sich die Dunkelheit auflöst, oder ein Abgrund sich auftut, aber es bleibt einfach nur Finster. Er erschrickt heftig, als plötzlich eine Frau vor ihm steht, die ein mächtiges Hirschgeweih auf dem Kopf trägt. Mit dunklen Augen sieht sie ihn ausdruckslos an. Ein Blumenkranz aus Lungenkraut, Waldmeister und Goldnessel windet sich durch ihr langes Haar, rankt das ausladende Geweih empor. Ihr Körper verschwindet in einem dicken Mantel aus rotbraunem Fell, der bis zu ihren nackten Füßen reicht. Weidenröschen sprießen zwischen ihren Zehen hervor. Ein intensiver Geruch nach Moschus und Jasmin hüllt Clemens ein, der an seinem Seil baumelt und die Augen aufreißt. „?“ fragt die fremde Frau. Clemens versteht nicht. Er hängt nur sprachlos im Nichts und starrt die Hirschfrau an. „?“ fragt sie erneut, dann zieht sie ein kleines Messer unter ihrem Mantel hervor und schneidet mit einer fließenden Bewegung das Seil durch. Clemens fällt entgeistert ins Nichts. Er landet auf weichem Boden, spürt knisterndes Laub zwischen seinen Fingern, obwohl er nichts sehen kann. Verwirrt blickt er zu der Fremden auf. Die Hirschfrau neigt den schönen Kopf, lächelt und streckt eine schlanke Hand zu ihm aus. Clemens denkt nicht lange nach und ergreift sie. Um ihn herum erwacht die Dunkelheit zum Leben. Schatten von riesigen Bäumen wachsen aus dem Nichts. Recken sich in einen sternlosen Himmel, über den fahle Polarlichter wandern. Hunderte Waldblumen sprießen aus einem federweichen Boden. Prächtiger Fingerhut blüht in leuchtenden Farben, Waldveilchen entfalten sich in einem dicken Teppich aus Sauerklee und Moos. Farne entrollen riesige Blätter, Weißdornbüsche schießen auf und tausende, schneeweiße Blüten verbreiten süßlichen Duft. „?“ fragt die Frau wieder. „Ich kann dich nicht verstehen.“ sagt Clemens und fasst sich erschrocken an den Hals. Er hat den Schmerz nicht vergessen. Er hat die Todesangst nicht vergessen. Die Fremde nickt wissend. Sie zieht Clemens auf die Beine. Hält seine Hand fest und sieht ihm sanft ins Gesicht. Ihre Haut fühlt sich warm und weich an. Ihre großen, dunklen Augen sprechen von Geborgenheit. „Bin ich tot?“ fragt Clemens mit leiser Stimme. „Im Moment zappelst du noch ein wenig.“ antwortet es rau in seinem Rücken. Clemens dreht sich schaudernd um. In einer jungen Esche sitzt ein Rabe und erwidert herausfordernd seinen Blick. „Krah.“ macht der Rabe. „!“ sagt die Frau. Der Rabe flattert zornig auf und verschwindet krächzend zwischen den mächtigen Bäumen. Clemens sieht ihm erstaunt hinterher. „Was war das?“ fragt er. Die Fremde berührt sein Gesicht, wendet es sanft dem ihren zu. Die Hirschfrau haucht ein Lied. Die Melodie ist simpel und doch komplex. Traurig und trotzdem heiter. Leise und dabei so laut, dass der Wald erzittert. Clemens spürt das Lied in seinem Kopf, fühlt, wie die Töne auf seiner Haut prickeln und sein Innerstes berühren. Er drückt die Hand der Fremden, so fest er kann. Weint, lacht, weiß selbst nicht, was er empfindet. Während sie singt, rankt der Blumenkranz im Haar der Hirschfrau langsam über ihren Rücken, den langen Mantel hinunter. Verschmilzt mit dem dichten Blütenteppich auf dem Waldboden. Fingerhut beginnt, ihren Rücken hinauf zu wachsen. Zu ihren Füßen reifen Erdbeeren. Clemens lauscht verzaubert, saugt die Melodie in sich auf, spürt, wie sein ganzer Körper mit den Tönen schwingt. Berauscht gerät er ins Taumeln, lässt die Hand der Hirschfrau los und fällt jäh ins Nichts. Erschrocken starrt Clemens die blumenumrankte Gestalt an, die in der absoluten Dunkelheit vor ihm steht. Das Lied ist verklungen, der Wald ist verschwunden, Clemens zittert. „Wer bist du?“ fragt er. Die Fremde antwortet mit einer traurigen Geste. „?“ fragt sie ihn und streckt erneut die Hand aus. Clemens liegt auf dem Rücken im Nichts, starrt auf ihre Hand, starrt auf die Erdbeeren, die immer noch zwischen ihren Zehen reifen. Er hebt den Kopf. Über ihm baumelt sein Körper am Seil. Seine Füße treten wild durch die Luft, seine Hände versuchen krampfhaft, die enge Schlinge zu lösen. „Ich sterbe gerade.“ stellt er nüchtern fest. Die Hirschfrau sieht ebenfalls zu seinem zuckenden Körper hinauf, sie nickt langsam. „Du bist so etwas wie ein Engel.“ flüstert Clemens und kommt sich dumm vor. Die Fremde sieht ihn sanft an und streckt wieder die Hand aus. „Okay.“ sagt er nur und greift nach ihr. Schon steht er wieder im dichten Blütenmeer, sein baumelnder Körper verschwindet, hohe Bäume ersetzen den bitteren Anblick. Polarlichter ziehen wieder über einen nachtschwarzen Himmel. Clemens atmet den intensiven Duft von Moschus und Jasmin, verliert sich in der Farbenpracht des Waldes. „Sing mir dein Lied.“ bittet er. Im Geweih der Frau erblüht roter Fingerhut, als sie erneut die überirdische Melodie haucht. Clemens beobachtet gebannt, wie sich ihre vollen Lippen teilen. Sein Blick gleitet über ihr betörendes Gesicht. Vorsichtig berührt er die glatte Haut ihrer Wange. Die Hirschfrau schließt die Augen, tritt näher an ihn heran. Clemens nimmt sie in die Arme, versinkt in der wohligen Wärme ihres Pelzes. Das Lied schwingt in ihm, er zertritt achtlos die Beeren, die zu seinen Füßen wachsen. Schmiegt sich an ihren weichen Körper, verliert sich im Augenblick. Die Fremde öffnet die Augen und beendet ihr Lied. Die Melodie schwingt trotzdem weiter, wird von den Blüten und Blättern des Waldes getragen. Klingt in den Polarlichtern am Himmel. Clemens atmet tief ein und küsst sie. Eng umschlungen stehen sie da, unter den wogenden Zweigen der gewaltigen Bäume. Der Wald erzittert in einer großartigen Harmonie. Die Hirschfrau legt ihren Mantel um Clemens Schultern, erwidert fordernd seinen schüchternen Kuss. Clemens kriecht in ihre innige Umarmung, versinkt in ihrem animalischen Duft. Zarte Blumen beginnen in seinem Haar zu sprießen.
Ein Fuchs beobachtet das Liebespaar. Er liegt unter einem Weißdorn und zuckt ungeduldig mit den Ohren. „Wann können wir endlich anfangen?“ fragt er. Oben im Weißdorn hockt der Rabe. „Wen meinst du mit wir?“ fragt er zurück. „Bruder, du gibst mir doch etwas ab.“ bettelt der Fuchs und hechelt treuherzig zum Raben empor. „Mein Fund, mein Fest.“ antwortet der. „Es ist doch genug für uns beide da.“ bittet der Fuchs und zeigt beim Lächeln alle Zähne. „Das wird sich zeigen.“ brummt der Rabe. „Wir könnten ein Spiel spielen.“ schlägt der Fuchs vor. „Ich kenne deine Spiele.“ versetzt der Rabe. „Andererseits, warum nicht. Es dauert eine Weile, bis sie seine Seele gefressen hat.“ Der Fuchs nickt wissend. Gemeinsam ziehen sie sich tiefer in den Wald zurück.

© sybille lengauer

Bob ist ein Arschloch
(Veröffentlicht in DUM Das Ultimative Magazin)

„Bob?“
„Ja, Liebes?“
„Du bist schon wieder so still.“
„Tut mir leid.“
„Du weißt was Doktor Tomalla gesagt hat. Schweigen untergräbt das Fundament unserer Beziehung.“
„Ja, Liebes. Entschuldige. Es war eine lange Fahrt.“
„Möchtest du davon erzählen?“
„Da gibt es nichts zu erzählen.“
„Wir haben uns vier Tage nicht gesehen.“
„Es ist eben nichts passiert.“
„Ach, Bob.“
„Vielleicht sollte ich eine Runde mit dem Hund gehen.“
„Wie du meinst.“
Bob schiebt bedächtig den unangetasteten Teller mit Pellkartoffeln und Sahnehering von sich. Seine Frau lässt ihn dabei nicht aus den Augen. Ihr Blick bohrt sich vorwurfsvoll in seinen massigen Leib, der sich ungelenk hinter dem Küchentisch hervorschält. „Komm, Rocky.“ grunzt Bob und ein dicker Jack Russell Terrier krabbelt freudig aus seinem Körbchen. Der Hund wackelt auf krummen Beinen über den Laminatboden und wedelt dabei sanft mit dem kurzen Schwanz. „Bis später.“ sagt Bob und er hört die Missbilligung in dem kurzen „Bis dann“, das ihm seine Frau hinterherschickt. Schnaufend quält sich Bob die Stufen des Treppenhauses hinab. Der Fahrstuhl funktioniert seit Wochen nicht mehr und Bobs Wohnung liegt im vierten Stock, es ist ein langer Weg nach Unten. Rocky wackelt vor ihm die Treppen hinunter, humpelt gelegentlich, weil seine Jack Russell Kniescheiben aus ihren Gelenken springen. Die schwankenden Hopser des Hundes harmonieren in grotesker Weise mit dem schaukelnden Seegang seines Herrchens. Der Kleine macht drei Sprünge, der Große einen Schritt. Im Parterre befestigt Bob ächzend eine Flexi-Leine an Rockys Halsband, dann verlässt er das Mietshaus, trottet hinter seinem kleinen Hund die abendliche Straße hinunter. Bob ist durstig.

Es ist stockdunkel im vollgepackten Laderaum des LKW. Eine dicke Abdeckplane sperrt die Lichter der Autobahn aus. Das monotone Brummen des veralteten Motors übertönt die geflüsterten Worte der jungen Frau, die zusammengekauert in der schaukelnden Finsternis hockt und leise betet. Mehr bleibt ihr nicht zu tun, sie ist dem Los der Straße ausgeliefert, kommt entweder unentdeckt ans Ziel, oder eben nicht. Und vielleicht helfen ihre geflüsterten Stoßgebete an all die Götter, die gerade zuhören. Wer weiß das schon?

„Noch ein Bierchen, Bob?“
„Gerne.“
„War wieder eine harte Tour, hm?“
„Wie immer.“
„Ändert sich nie was, hm?“
„Genau.“
„Genau.“
Bob nickt zustimmend und reicht sein leeres Glas über den Tresen. Der Wirt der kleine Eckkneipe nimmt es entgegen, füllt am Zapfhahn nach und reicht das volle Glas zurück. Bob lümmelt gemütlich auf seinem Stammplatz an der Theke, Rocky schläft zusammengerollt unter einer Holzbank. Da keine weiteren Gäste in der Kneipe sind, hat der Wirt das Rauchverbot aufgehoben. Immerhin ist er selbst Raucher. Der gläserne Aschenbecher quillt schon ein wenig über, der Tresen war bestimmt schon einmal sauberer, die Schlagermusik aus den billigen Boxen war nie besser oder schlechter als an diesem Abend. Schmalzige Liebeslieder verschmelzen in ihrer eintönigen Beliebigkeit zu immer gleichem Gedudel. Bob wippt mit dem Fuß im Takt, trinkt genüsslich das perlende Bier aus und schmatzt anerkennend. „Noch ein Bierchen, Bob?“ wiederholt der Wirt die ewige Frage. „Nein danke, Franz. Das Bett ruft.“ „Na dann.“ Der Wirt kassiert, man rundet ab unter Freunden. Rocky wird wachgetätschelt und bekommt eine Erdnuss ins Maul geschoben, weil er ein artiges Hundchen war. Genüsslich zerbeißt der Hund die Nuss und Bob sieht ihm zufrieden dabei zu. „Kommst du morgen zum Turnier?“ fragt der Wirt. „Muss arbeiten.“ brummt Bob. „Wirst was verpassen.“ Franz wischt nachlässig mit einem feuchten Tuch über den Tresen. „Ist doch nur Darts.“ Bob zuckt mit den Achseln und legt Rocky die Leine an. Er nickt noch einmal gutmütig dem Wirt zu, schwankt dann aus der schummrigen Eckkneipe und summt den ganzen Weg bis nach Hause ein kleines Lied. Bob ist beschwingt.

Der LKW wird langsamer und die junge Frau hält ängstlich in ihrem Gebet inne. Als der Wagen weiter abbremst und der Motorenlärm schließlich verebbt, schlägt ihr Herz wild gegen ihren verkrampften Brustkorb. Mit schreckgeweiteten Augen kriecht sie tiefer in die Dunkelheit, presst ängstlich die Hände vor den Mund, lauscht angestrengt nach Draußen. Die Geräusche der Autobahn ziehen am LKW vorbei. Autotüren werden zugeschlagen. Stimmen nähern sich. Die junge Frau kann nicht verstehen was sie sagen. Sie spricht die Sprache nicht. Das Gespräch umrundet den Hänger, jemand klopft dabei hart gegen die fest gespannte Abdeckplane. Die Stimmen verweilen am Ende der Ladefläche.

„Nicht.“
„Ach bitte.“
„Ich will nicht.“
„Ach bitte.“
Bob stellt sich das brünette Mädchen aus der Duschgelwerbung vor, während er wohlig das schlaffe Hinterteil seiner Frau massiert. Die liegt steif neben ihm und ist mit seiner betrunkenen Begierde nicht einverstanden. „Du stinkst.“ schmollt sie ins Kissen. „Bitte.“ flüstert Bob. Er rückt näher an ihren desinteressierten Leib, drückt seinen mächtigen Bauch gegen ihren abweisenden Rücken, bedeckt ihren Nacken mit zärtlichen Küssen. „Das kitzelt. Und du stinkst. Hör jetzt auf damit, Robert.“ Unwillig zieht sie sich aus seiner fordernden Umarmung. Das Bild des hübschen Duschgelmädchens zerplatzt. Bob robbt zurück auf seine Seite des Bettes. Enttäuscht stellt er sich vor, wie er seine Ehefrau die vielen Stufen des Treppenhauses hinunterstößt. Danach erwürgt er sie klassisch auf dem Laminatboden der teuren Einbauküche und weil er schon sehr müde ist, stellt er sich schließlich vor, wie er sie einfach mit seinem LKW überrollt. Bob träumt. Er fährt den LKW durch die unzähligen Straßen seiner Erinnerungen. Auf der Fahrt begegnen ihm Gesichter von jungen Mädchen. Unruhig wälzt er sich im Bett hin und her. Das wütende Zischen seiner Ehefrau reißt ihn noch einmal aus den unangenehmen Traumbildern. Zornig verlässt sie das Bett, um auf der Couch zu schlafen. Bob schickt ihr einen bösen Gedanken hinterher, dann denkt er plötzlich an das Geld, das viele, schöne Geld und er fällt in ein bierseliges Koma. Bob ist im Tiefschlaf.

Es rumpelt am Ende des Laderaums. Die Plane wird gelöst. Im Versteck hört man nur stoßweises Atmen, das von leisem Schluchzen unterbrochen wird. Jemand klettert auf die Ladefläche, Paletten werden verschoben. Eine Stimme nörgelt und wird von einer anderen scharf zurechtgewiesen. Der barsche Tonfall versetzt die junge Frau in noch größere Panik. Zitternd kauert sie in ihrem Versteck, beißt sich fest in die weiche Handfläche. Spürt den Druck der Zähne nicht. Sie fühlt nur den eiskalten Abgrund, der sich in ihrer Magengrube auftut.

„Schon wieder die große Tour, Bob?“
„Ja, schon wieder.“
„Bist da drüben ja fast zuhause.“
„Bestimmt nicht, die können nicht kochen.“
„Du alter Charmeur.“
„Deine Steaks sind eben unschlagbar, Conny.“
Bob wischt mit einem Stück Baguette den Fleischsaft vom Teller. Genießerisch kauend lehnt er sich im Sessel zurück. Die strohblonde Bedienung räumt den Teller weg, bringt ungefragt eine Tasse Kaffee und ein Stück Apfelkuchen mit Sahne. „Danke, Conny.“ Bob kommt jede Woche hierher. Bestellt Steak mit Röstzwiebeln und Spiegelei, dazu ein kleines Bier, vielen Dank. Conny arbeitet seit zehn Jahren in der Raststätte und weiß einen zuverlässigen Esser wie Bob zu schätzen. Der Kaffee geht auf’s Haus. „Herrlicher Apfelkuchen, Conny.“ „Danke, Bob.“ Zufrieden gibt er ein großzügiges Trinkgeld und so bleibt alles in Balance. „Bis zum nächsten Mal.“ verabschiedet sich Bob. Conny winkt freundlich und wendet sich eine schwangeren Kundin zu, die einen Energy Drink kaufen möchte. Bob verlässt das Restaurant der kleinen Autobahnraststätte. Gemächlich schlurft er zu seinem LKW, raucht noch eine Zigarette, bevor er ins Führerhaus klettert und zurück auf die Autobahn fährt. Bob ist wieder unterwegs.

Eine letzte Palette wird verschoben, die Planen um das Versteck rutschen auf den Boden, Kisten fallen polternd um. Licht bricht in blendend grellen Strahlen durch die Finsternis. Ein entsetzter Schrei gellt aus dem Chaos hervor. Herrisch drängt ein Mann in schwarzer Lederjacke durch den Spalt, zwängt sich ins Versteck und vielleicht waren es doch Dämonen, die auf die geflüsterten Stoßgebete der jungen Frau gehört haben. Wer weiß das schon? Der Mann ruft etwas in den vorderen Bereich der Ladefläche. Dann beugt er sich zu der Frau, die verängstigt in der kleinen Nische kauert und schlägt sie mit gezielten Hieben bewusstlos.

„Bist du hungrig?“
„Bisschen“
„Verstehst du Deutsch?“
„Bisschen“
„Möchtest du das haben?“
Bob wedelt mit dem Schokoriegel. Er sitzt lässig auf den Stufen seines Führerhauses und mustert das schüchterne Mädchen mit freundlich blitzenden Augen. „Ficki-Ficki?“ fragt sie mit leiser Stimme und er schüttelt lachend den Kopf. „Nein danke.“ Er wirft ihr den Schokoriegel zu. „Hier, ich hab noch mehr.“ Gierig verschlingt das Mädchen den Riegel. „Mehr?“ fragt er und zaubert einen weiteren aus dem Cockpit des LKW. Das Mädchen fängt den zweiten Riegel und tritt dann misstrauisch einen Schritt zurück. „Ich fahre Grenze.“ sagt Bob ganz beiläufig, während er einen Schokoriegel auspackt und herzhaft zubeißt. Kauend blickt er über den Kopf des Mädchens hinweg, sieht nachdenklich in den Himmel. Die Lichter der Stadt vertreiben die Sterne, doch hier, im Gewerbegebiet, kann man zumindest den großen Wagen erahnen. „Wenn Geld gut, ich dich mitnehmen. Deutschland.“ Bob beißt wieder in den Riegel. Er liebt diesen Geschmack. Das Mädchen mustert ihn skeptisch. „Morgen Abend. Hast du verstanden? Morgen. Abend.“ Sie nickt und hebt bittend die Hände. Bob wirft ihr einen weiteren Schokoriegel zu. Das Mädchen verschwindet in den verschlungenen Straßen des Gewerbegebiets. „Vielleicht sehen wir uns ja.“ murmelt Bob. Dann klettert er zurück auf seinen Sitz, startet den Motor und fährt in die Stadt, um die Ware auszuliefern. Bob ist immer pünktlich.

Der Mann in der schwarzen Lederjacke zerrt die wehrlose Frau aus ihrem winzigen Versteck. „Hilf mir schon.“ zischt er gereizt. Bob eilt an seine Seite. Gemeinsam wuchten sie den ohnmächtigen Körper aus dem Laderaum, tragen ihn zu einem unauffälligen Lieferwagen. „Mann ist die schwer.“ schnauft Bob. „Mach schon auf.“ keucht der Lederjackenmann. Bob lässt die Beine der jungen Frau auf den Asphalt gleiten. Er öffnet die Heckklappe des Lieferwagens und hilft, die Bewusstlose sicher zu verladen. Der Mann in der schwarzen Lederjacke nickt dem Fahrer zu, das Auto startet und fährt vom spärlich beleuchteten Rastplatz. „Warum hilft der eigentlich nie?“ fragt Bob und deutet den verschwindenden Rücklichtern des Lieferwagens hinterher. „Hat es böse im Rücken.“ antwortet der Lederjackenmann. „Wie immer problemlos.“ stellt er zufrieden fest und streckt Bob ein Bündel Geldscheine entgegen. Der nimmt es mit zufriedenem Nicken an. „Immer wieder gerne.“ antwortet er. Man schüttelt sich die Hände, dann klettert Bob zurück ins Führerhaus, während der Mann zu seinem geparkten Mercedes geht.

„Du hast Geld? Pinke-Pinke?“
„Bisschen.“
„Die paar Scheine? Ist das alles?“
„Alles.“
„Zeig mal her.“
Bob klettert aus dem LKW und nähert sich lächelnd dem Mädchen, das am nächsten Abend wieder zu dem LKW-Parkplatz ins Gewerbegebiet gekommen ist. Sie weicht zurück, als Bob näher kommt. Der lacht gutmütig und holt eine Dose Cola-Whiskey aus einer seiner Jackentaschen. „Hier, für dich.“ sagt er. Zögerlich nimmt sie die Dose an, reicht ihm ein paar zerknitterte Scheine. Bob lacht. „Zu wenig.“ sagt er abfällig und gibt die Scheine zurück. Das Mädchen hebt abwehrend die Hände. Sie will das Geld nicht mehr haben. Aus der Tasche ihrer ausgeblichenen Jeans holt sie einen silbernen Rosenkranz. Ihre Augen werden feucht, als sie ihn an Bob übergibt. „Familienerbstück, wie?“ Bob nimmt den Rosenkranz entgegen, tut so, als würde er dessen Gewicht abschätzen. „Na gut.“ brummt er schließlich. Das Mädchen atmet erleichtert auf. „Komm, wir haben nicht die ganze Nacht.“ Bob führt sie zum Laderaum seines LKW. Er versichert sich, dass niemand auf der Straße zu sehen ist, dann hebt er die Plane hoch und klettert mit dem Mädchen ins dunkle Innere. Mit einer Taschenlampe leuchtet er den Weg zum Versteck. Als sie vorsichtig in die enge Nische kriecht, glänzt ihr Haar, wie das des Mädchens aus der Duschgelwerbung. Bob leuchtet ihren schlanken Körper ab. Steht in der diffusen Dunkelheit und bewegt sich nicht. „Du willst gerne nach Deutschland, nicht wahr?“ fragt er schließlich sanft. „Ficki-Ficki?“ fragt sie resigniert. „Bisschen.“ antwortet er und öffnet den Reißverschluss seiner Hose. Bob ist Pragmatiker.

Die Leitung ist frei, das Handy stellt knackend eine Verbindung her. Bob sitzt am Steuer des LKW, fährt über die glatt asphaltierte Autobahn und wartet, dass sein Geschäftspartner ans Telefon geht. Als der sich endlich meldet, ist seine Stimme flüssiges Gold. „Bob, mein Bester, schön dich wieder zu hören!“ „Freut mich auch.“ brummt Bob. „Hast du gute Nachrichten für mich?“ „Höchstens Dreizehn.“ antwortet Bob. „Ausgezeichnet.“ freut sich der Mann am Telefon. „Gleiche Zeit, gleicher Ort.“ sagt Bob. „Wunderbar.“ Das Gespräch ist beendet. Bob steuert den LWK weiter über die Autobahn. In der gemütlichen Wärme des Cockpits fühlt er sich ein wenig schläfrig. Er kurbelt das Fenster einen Spalt breit herunter, lässt die kalte Nachtluft herein. Dann sucht er einen Radiosender, der guten, alten Schlager spielt und pfeift schief mit, als er ein Lied erkennt.

© sybille lengauer

An der Kette

Veröffentlicht: April 21, 2019 in Gedichte

Es knurrt der Kettenhund.
Den ganzen Tag.
Die ganze Nacht.
Chr-Chr-Chr.
Knurrt der Kettenhund.
Bellt nicht.
Beißt.
Chr-Chr-Chr.
Gemeiner Kettenhund.
Hängt an deinem Hosenbein.
Präoperativer Eingriff.
Chr-Chr-Chr.
Grollt der Kettenhund.
Schläft kaum.
Wacht.
Chr-Chr-Chr.
Gereizter Kettenhund.
Dreht sich im Kreis.
Jagt seinen Schwanz.
Chr-Chr-Chr.
Keift der Kettenhund.
Kennt den Geruch der Welt.
Nicht.
Chr-Chr-Chr.
Alter Kettenhund.
Liegt in der Sonne.
Lauert den Staub an.
Chr-Chr-Chr.
Schmatzt der Kettenhund.
Lebt von dem Rest.
Liebe.
Chr-Chr-Chr.
Armer Kettenhund.

© sybille lengauer

Sand

Veröffentlicht: April 18, 2019 in Kurzgeschichten
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Sand. Allgegenwärtiger Sand. Kaum ein Grashalm, der sich hinter schützenden Felsbrocken regt. Keine Bäume, nur ein paar wenige, verkrüppelte Sträucher, die zäh dem heißen Wind trotzen.
Stille. Undurchdringliche Stille. Kein Bussard ruft, keine Maus raschelt durch das spärliche Gras, nicht einmal eine Eidechse gleitet über die kochend heißen Steine.
Hitze. Lähmende Hitze. Kein Fleckchen Erde, das nicht ausgezehrt wäre von der sengenden Glut, die selbst das letzte bisschen Feuchtigkeit aus dem Land herausbrennt.
Die Ruinen der zerstörten Großstadt ähneln einem bizarren Gebirge, das sich einsam aus der öden Landschaft erhebt. Wie Stümpfe abgebrochener Zähne ragen die Reste der Wolkenkratzer in den stahlblauen Himmel. Starren blicklos in eine flimmernde Weite, die unerbittlich zurückstarrt, ohne jemals zu blinzeln. Aufgeplatzte Betonstraßen, in denen die Wracks von tausenden Autos vom stetigen Wind geschleift werden, führen schnurgerade durch die zerstörten Häuserschluchten. Sanddünen wachsen an den verfallenen Gebäuden empor. Flirrender Staub tanzt durch verlassene Räume, bildet überall zentimeterdicke Schichten, wo er vom heißen Atem der Wüste hingetrieben wird. Doch tief, tief unten, in den Eingeweiden der zerstörten Stadt, in den alten U-Bahn-Schächten, die noch nicht eingestürzt sind, in der verrottenden Kanalisation, die nun niemand mehr benötigt, sickert ein wenig Wasser aus verborgenen Ritzen. Farblose Pflanzen gedeihen hier, geschützt vor den tödlichen Strahlen der Sonne. Ziehen ihre Nährstoffe aus den Fadengeflechten der widerstandsfähigen Pilze, an deren Zyklus sie sich angepasst haben. Sie bilden einen schier undurchdringlichen Dschungel aus rankenden Stielen und dornharten Blättern, die bleich in der Düsternis übereinander wuchern. Fluoreszierende Schleimpilze ziehen sich über die feuchten Wände, tauchen die Szenerie in zartgrünes Licht. Tiere existieren hier. Blasse, kleine Geschöpfe, die sich zäh von dem ernähren, was die Unterwelt zu bieten hat. Winzige Leuchtameisen bestäuben die zahllosen Blüten, angelockt durch deren süßlichen Duft. Haarlose Nagetiere bauen ihre kugelrunden Nester in den Wurzeln der Pflanzen. Werden belauert von züngelnden Schlagen, die sich leise durch die unterirdische Welt winden.
Leona ist auf der Suche nach diesen Orten. Sie kennt die spärlichen Anzeichen an der Oberfläche, die auf diese verborgenen Lebensräume hinweisen. Dick eingemummt in ihren verdreckten Schutzanzug, die empfindlichen Augen durch schwarze Brillengläser geschützt, eine Atemschutzmaske mit notdürftig geflickten Filtern über Nase und Mund, auf dem Rücken ein riesiger Rucksack, so zieht sie durch die trostlosen Straßen der ehemaligen Großstadt, immer auf der Suche nach einem geheimen Hort des Lebens, der sie für ein paar Wochen erhalten kann. Immer unterwegs. Immer allein. Leona weiß um die sensible Balance der wenigen, verbliebenen Oasen. Sie bleibt nie lange an einem Fleck, zieht immer weiter durch die menschenleeren Ruinenstädte und kehrt erst nach Jahren wieder zu einem unterirdischen Wald zurück, in dem sie schon einmal gewesen ist. Seit dreiundzwanzig Jahren folgt sie diesem Rhythmus. Überlebt in der unwirtlichen Einöde, die einst ein blühendes Zuhause der menschlichen Kultur war.
„Hör auf damit.“ brummt sie gereizt.
„Womit soll ich aufhören, ich mach doch gar nichts.“
„Du summst.“
„Ich summe nicht.“
„Du summst die ganze Zeit, verdammt.“
„Könnte an deinen ungewaschenen Ohren liegen, dass du ein Summen hörst. Ich bin es jedenfalls nicht.“
„Du kannst mich mal.“
Leona klettert auf einen rostigen Laternenmast, der sich einsam über eine sanft gewellte Sandfläche erhebt, die vor langer Zeit ein ausgedehnter Park war. Sie holt ein Fernglas aus der Brusttasche ihres Anzugs, späht angestrengt in alle Richtungen. Redet dabei unablässig mit sich selbst.
„Du gehst mir heute schon den ganzen Tag lang auf die Nerven.“
„Was kann ich dafür, dass du mit dem falschen Fuß aufgestanden bist?“
„Ich bin gar nicht aufgestanden, falls du das vergessen hast. Wir sind die ganze Nacht lang gewandert, weil du unbedingt dieses blöde Viertel erreichen wolltest.“
„Wir werden hier eine Oase finden. Glaub mir einfach.“
„Glauben kann ich Gott. Dir kann ich maximal vertrauen und dazu bin ich im Moment nicht in der Stimmung. Hier ist nur beschissener Sand.“
„Schau genauer hin. Da, Richtung Nordost.“
Leona kneift die Augen zusammen. Starrt angestrengt durch das Fernglas. Sieht nur Sand und verlockend wabernde Trugbilder von Ozeanen, die nicht existieren. Gereizt verlagert sie ihr Gewicht, um besser auf dem Laternenmast Halt zu finden.
„Ich sehe nichts.“
„Die dunklen Flecken?“
„Da sind keine dunklen Flecken.“
„Ich schwöre dir, da sind welche.“
„Und ich schwöre dir, wenn du dich irrst…“
Sie lässt ihre Drohung unausgesprochen verklingen. Steckt das Fernglas weg und klettert, schwer atmend, vom Laternenmast herunter. Schimpfend macht sich auf den Weg nach Nordosten. Trottet langsam über den brennend heißen Sand, achtet auf verborgene Löcher und tückische Stolperfallen. Leona kennt die unzähligen Gefahren der Ruinen. Kennt den tückischen Treibsand, die unberechenbaren Abgründe und die alles erstickenden Staubstürme, die in der verlorenen Stadt herrschen. Sie lässt sich Zeit. Nimmt lieber einen Umweg in Kauf, als ein Risiko einzugehen. Wägt sorgsam ab, bevor sie sich auf ein Wagnis einlässt. Leona überlebt.
„Du machst es schon wieder.“
„Was?“
„Summen.“
„Ich summe nicht.“
„Ich kann es aber hören!“
„Du hörst, was du hören willst, meine Liebe.“
„Meine-Liebe mich nicht.“
„Vielleicht sollten wir eine Rast einlegen, du bist wirklich überreizt.“
„Ich bin nicht überreizt, ich bin nur müde. Und durstig. Und hungrig.“
„Das bin ich auch.“
„Gut, dann eben eine Rast.“
Leona hält mürrisch an einer zerstörten Brücke, lässt sich im Schatten der verfallenen Betonkonstruktion nieder. Sie holt einen Trinkbeutel aus ihrem Rucksack, steckt das dünne Röhrchen unter die Atemmaske und trinkt. Dann setzt sie das Röhrchen ab und seufzt erleichtert.
„Hier, jetzt du.“
„Danke.“
Leona trinkt erneut. Verstaut den Lederbeutel dann wieder sorgsam an seinem Platz. Etwas Trockenfleisch findet seinen Weg in ihren Mund. Sie kaut die zähen Stückchen stumm. Starrt vor sich hin und ruht die erschöpften Muskeln aus.
„Sollen wir schlafen?“
„Ich weiß nicht. Dann verlieren wir noch mehr Zeit.“
„Aber du bist müde. Und ich kann auch schon kaum die Augen offen halten.“
„Du hast ja recht.“
Leona kriecht in eine Ecke, in der sie vor Sonne und Wind geschützt ist, rollt sich neben dem Rucksack zusammen und schließt erschöpft die Augen. Fällt augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem sie eine halbe Stunde später benommen erwacht. Noch einmal holt sie den Trinkbeutel hervor, saugt vorsichtig einen Schluck der kostbaren Flüssigkeit ein, dann macht sie sich erneut auf den Weg. Summt dabei leise eine traurige Melodie.

Langsam kommt die Dämmerung. Die Sonne versinkt hinter dem flimmernden Horizont, taucht die Welt in rötlichen Schimmer. Versetzt den Himmel in einen brennenden Farbenrausch. Die verlassenen Ruinen werfen lange Schatten, die wie dunkle Geister über der Szenerie liegen. Leona steht auf dem niedrigen Dach eines ehemaligen Autohauses, blickt in eine tiefe Senke und mustert wachsam die dunklen Flecken, die sich darin gebildet haben. Sie hat kein Auge übrig für das farbenprächtige Schauspiel der abendlichen Wüste.
„Das könnte etwas sein.“
„Habe ich dir doch gesagt.“
„Du sagst viel, wenn der Tag lang ist.“
Sie kniet nieder, starrt aufmerksam in die Senke.
„Wir sollten ein Lager aufschlagen und uns morgen abseilen.“
„In Ordnung.“
Leona übernachtet im Autohaus. Sie bringt sorgsam vier Taufänger in Position, die den feuchten Hauch des Morgens in kleinen Fläschchen konservieren, sucht einen verstaubten Wagen aus, der geräumig und bequem erscheint und bettet sich darin zur Ruhe. Erleichtert legt sie Brille und Atemschutzmaske ab, reibt über die aufgeraute, juckende Haut ihres Gesichts. Sie öffnet den Schutzanzug, kriecht ächzend heraus und rümpft die Nase, als der scharfe Geruch ihres ungewaschenen Körpers das Wageninnere flutet. Vor dem Schlafen isst sie noch ein wenig Trockenfleisch, trinkt zwei kleine Schlucke Wasser. Die Vorräte sind knapp. „Schlaf gut.“ sagt sie, rollt sich auf der Rückbank des Autos ein und träumt vom Geräusch des Regens. Träumt, bis sich die ersten Sonnenstrahlen durch die trostlosen Ruinen zwängen und von einem neuen Tag in der unendlichen Wüste künden.

„Sieht verdammt gut aus.“ Leona hängt an einem Seil, das sie sorgsam an einer Hausmauer verankert hat. Vorsichtig setzt sie ihre Schritte, trägt breite, ovale Schneeschuhe, die ihr Gewicht besser auf dem tückisch rutschenden Sand verteilen. Immer wieder sieht sie sich prüfend nach den dunklen Flecken um, während sie weiter in die Senke hinabsteigt. An einer besonders dunklen Stelle hält sie an, nimmt etwas Sand zwischen die Finger und zerreibt ihn. „Volltreffer.“ Leona nickt bestätigend zum Rand der Senke hin, verstaut etwas von dem Sand in einer kleinen Dose. Dreht sich dann langsam um und folgt konzentriert den flachen Spuren, die sie bei ihrem Hinweg ausgetreten hat. Sand rieselt unter ihren Füßen, rieselt an ihr vorbei in den tief gelegenen Grund der Senke, der wie ein großer Trichter alles verschluckt, was in ihm landet. Leona atmet erleichtert auf, als sie wieder festen Boden unter sich spürt. Sie legt die Schuhe ab, löst das Seil und begibt sich zurück in den Schatten des Autohauses, in dem sie ihre restliche Ausrüstung zurückgelassen hat. Der dunkle Sand aus der Senke, den sie nun ohne Schutzhandschuhe berühren kann, fühlt sich ölig und feucht an. Leona brummt zufrieden und setzt sich auf den sandigen Boden des Autohauses. An einem Stück Trockenfleisch kauend, studiert sie eine stark zerknitterte Karte.
„Es ist mit Sicherheit kein U-Bahn-Tunnel.“ stellt sie schließlich fest.
„Vielleicht eine Tiefgarage?“
„Ich weiß nicht, könnte sein.“
„Wir sollten diese beiden Häuser überprüfen. Hier und hier drüben. Vielleicht finden wir einen Eingang.“
„Was ist mit diesem Gebäude?“
„Ich weiß nicht, sieht aus wie ein normales Wohnhaus. Das können wir uns zum Schluss vornehmen.“
„Gut, einverstanden.“
Leona packt sorgfältig ihre Habe ein. Alles hat seinen bestimmten Platz im Rucksack, wird ordentlich zusammengelegt und verstaut. Als sie fertig ist, erzählen nur noch der verwischte Staub und ein paar Spuren im allgegenwärtigen Sand von ihrer Anwesenheit. Hinter der kaputten Eingangstür des Autohauses bleibt sie noch einmal im Schatten stehen.
„Sollen wir eine Münze werfen, mit welchem wir beginnen?“
„Klar.“
Gutmütig lächelnd fasst Leona unter ihren Schutzanzug, holt eine in Draht gefasste Münze hervor, die an einem Lederband baumelt. „Kopf ist Nord, Zahl ist Süd.“ sagt sie, wirbelt das Band und wirft die Kette in die Luft. Die Münze fliegt hoch und landet im Sand zu ihren Füßen.
„Zahl.“
„Süden also.“
„Dann lass uns gehen.“
Leona blickt nicht zurück, als sie den Schatten des Autohauses verlässt und sich auf den Weg zu der hoch aufragenden Ruine macht. Besonnen umkreist sie das verfallene Gebäude, sucht nach Schwachstellen in der Architektur, die ihr zum Verhängnis werden könnten.
„Hier steht ‚Marriott‘ dran, ich glaube, das war einmal ein Hotel.“
„Sieht ganz gut aus.“
„Das sagst du immer. Und zehn Minuten später muss ich dir wieder das Leben retten.“
„Ich bitte dich, wer hat dich neulich aus dieser Grube gezogen?“
„Fang nicht wieder mit der elenden Grube an.“
Mit sich selbst streitend, betritt Leona das Gebäude durch die breite, zerbrochene Eingangstür. Staubwolken wirbeln auf, feine Sandkörnchen legen sich auf ihren Schutzanzug. Leona stellt den riesigen Rucksack neben der Eingangstür ab und sieht sich wachsam in der großen Eingangshalle um. Ihr Blick sucht lange die fleckige Decke ab, dann prüft sie eingehend den, mit einer dicken Sandschicht bedeckten, Boden. „Sieht nicht so aus, als würde hier etwas in der nächsten Zeit nachgeben.“ stellt sie schließlich fest. Zufrieden grunzend hält sie nach einem Fahrstuhlschacht Ausschau, der ihr den Abstieg in die unteren Etagen ermöglicht. Findet ihn am anderen Ende der geräumigen Eingangshalle. Ihr Weg führt vorbei an ausgebleichten Skeletten, die eng umschlungen auf dem sandigen Boden liegen, einsam an verstaubten Tischen sitzen oder zusammengesunken in den Ecken zerschlissener Sofas kauern. Leona beachtet die Toten nicht. Tritt achtlos über sie hinweg und steuert auf die Fahrstühle zu. Sie übersieht die verdächtige Delle im Boden, konzentriert sich zu sehr auf das Ziel vor ihren Augen. Krachend gibt der Untergrund nach und Leona stürzt mit einem überraschten Aufschrei in die Tiefe.

„Verdammt.“
„Geht es dir gut?“
„Ich weiß nicht. Und dir?“
„Keine Ahnung.“
Leona liegt benommen auf den Überresten eines zerbrochenen Holzregals, das ihren Sturz etwas abgemildert hat. Vorsichtig prüft sie ihre Extremitäten, erforscht den Körper nach Anzeichen einer Verletzung. Als kein greller Schmerzimpuls auf ihre Versuche antwortet, setzt sie sich ächzend auf und hustet.
„Das war ja wieder eine Spitzenleistung.“
„Du hättest es genauso gut sehen können.“
„Klar, schieb es nur wieder auf mich.“
„Ach, wir sind beide Idioten.“
Der Zorn hilft ihr auf die Beine. Schwankend steht sie in der Dunkelheit, sieht verstimmt nach oben zu dem Loch, das in der Decke klafft. „Zumindest ist der Fahrstuhlschacht nicht weit entfernt.“ stellt sie nüchtern fest. Leona zieht eine kleine Stabtaschenlampe aus einer Tasche ihres Anzuges und leuchtet durch den Raum.
„Wow.“
„Oh mein Gott.“
„Sieh dir das an!“
„Konserven!“
Leona ist in einem Vorratslager des ehemaligen Hotels gelandet. Mit großen Augen blickt sie auf lange Reihen von Regalen, die gefüllt sind mit Konservendosen und Plastikverpackungen. Nach dreiundzwanzig Jahren sind viele Waren verdorben, aber Leona weiß, dass manche Produkte eine Ewigkeit halten. Andächtig bleibt sie vor einer Schachtel mit Honiggläsern stehen. „Wow.“ haucht sie wieder. Reißt das Plastik von der Verpackung, reißt den darunterliegenden Karton in Stücke, nimmt ein Glas heraus und öffnet andächtig den Deckel. Der Geruch von Honig erfüllt das alte Lager. „Ich zuerst.“ quengelt sie und hält das Glas in der ausgestreckten Hand. „Nein, ich.“ „Es ist genug für uns beide da.“ „Dann kannst du mir ja den Vortritt lassen.“ „Wieso bist du immer zuerst an der Reihe!“ „Das ist doch gar nicht wahr.“ „Natürlich ist es wahr, du denkst immer nur an dich!“ Wütend fährt Leona herum und lässt dabei das Glas auf den Boden fallen. „Sieh dir an, was du angerichtet hast!“ schreit Leona und deutet zornig auf die Scherben. Sie reißt sich die Atemschutzmaske vom Gesicht, versetzt sich selbst eine schallende Ohrfeige. „Du egoistisches Miststück!“ Leona schlägt sich erneut, schlägt hart zu und faucht dabei böse. „Ich hasse dich!“ kreischt sie und torkelt gegen das Regal. Weinend bricht sie zusammen, bleibt verkrümmt sitzen und schüttelt verzweifelt den Kopf. Lange sitzt sie so da, stiert vor sich hin und blutet aus der Nase. Als sie endlich wieder aufsteht, geht sie stumm zu dem Karton zurück, nimmt ein neues Glas heraus, dreht den Verschluss mit einem kräftigen Ruck auf und verschlingt gierig den kristallisierten Honig. Tränen laufen über ihr schmutziges Gesicht. Der ungewohnt süße Geschmack fühlt sich erst widerlich an. Dann jagt der reichhaltige Zucker ein Schaudern über ihren Körper, schickt Gänsehaut von ihrem Nacken bis zu den Zehenspitzen. Leona lacht und weint zugleich. Stopft das klebrige Gold weiter in sich hinein, leckt die Finger gierig blank. Dann tanzt sie lachend durch das Lager, trunken von der Energie des Honigs. Irgendwann bricht sie wieder zusammen und schluchzt heftig. Der unermessliche Reichtum des Schatzes macht sie fassungslos.

„Das machst du ganz prima.“ sagt Leona sanft. „Danke.“ antwortet sie kühl. Sie zieht eine Ladung mit Lebensmitteln und Getränken aus dem Loch in der Eingangshalle. Leona hat eine feste Basis im Autohaus errichtet und schafft nun einen Teil des Lagervorrats in ihr neues Zuhause. Sie wird lange mit dieser Fülle an Vorräten überleben können, hat nun endlich Zeit, sich auf wichtige Reparaturen zu konzentrieren, die sie bei ihrer Wanderung vernachlässigt hat. Ihre Körperhaltung drückt trotzdem keine Zufriedenheit aus.
„Bist du immer noch böse auf mich?“
„Nein, alles wunderbar.“
„Ich weiß genau, wann du mich anlügst.“
„Ach, tust du das?“
Leona schleift das Paket aus dem Hotel, wuchtet es auf einen improvisierten Schlitten und zieht diesen durch die kalte Luft der Wüstennacht. Ihre Augen suchen kurz den Himmel ab, sind blind für den majestätischen Anblick der funkelnden Sterne. Nicht eine Wolke zeigt sich am nächtlichen Himmel. Leona zuckt mit den Schultern und zieht den Schlitten weiter zum Autohaus. Es ist ihre letzte Tour, bald bricht der Morgen an und Leona wird sich schlafen legen. Sie meidet nun den Tag, da sie den Blick in die Ferne nicht mehr braucht, um sich zu orientieren. Vor dem Autohaus hievt Leona das große Paket vom Schlitten und zerrt es nach drinnen. Nachdem sie die Nahrungsmittel und Getränke sicher verstaut hat, zündet sie ein kleines Feuerchen vor dem Eingang des niedrigen Gebäudes an. Leona verbrennt die Büroeinrichtung des Autohauses, starrt nachdenklich in die bunten Flammen, die das lackierte Holz erzeugt. Ein Topf mit Reis und aufgeweichtem Dörrfleisch blubbert über dem Feuer. Leonas Magen knurrt. Ächzend steht sie noch einmal auf, geht nach drinnen und kehrt mit einer Flasche Gin zurück. Sie stellt die Flasche in den Sand, holt den Topf aus dem Feuer und rührt, bis die Masse kalt genug geworden ist. Hungrig löffelt sie den salzigen Brei, isst, bis kein Bissen mehr Platz hat. Dann rülpst sie laut, öffnet die Flasche und trinkt einen großen Schluck. Leona starrt wieder ins Feuer. Die Flammen spiegeln sich in ihren großen Augen, flackern über ihr ausgezehrtes Gesicht. „Wir müssen reden.“ sagt sie schließlich. „Wir müssen gar nichts.“ erwidert sie, starrt weiter ins Feuer und trinkt in langen Zügen.
„Du kannst nicht ewig beleidigt sein.“
„Ich bin nicht beleidigt.“
„Was bist du dann?“
Leona greift wütend nach einem Stuhlbein, stochert damit im Feuer herum. Funken fliegen auf, tanzen in den Himmel, der im Osten langsam zu erröten beginnt. „Ich weiß auch nicht.“ brummt sie nach einer geraumen Weile. Frustriert setzt sie die Flasche an die Lippen und trinkt.
„Alkohol macht es auch nicht besser.“ „Stimmt.“ Leona steht schwankend auf und geht hinein. Kommt mit einer Schachtel Zigaretten zurück, setzt sich wieder hin und beginnt zu rauchen. „Davon wird dir schlecht.“ kommentiert sie und lacht plötzlich bitter auf. „Was interessiert dich das.“ versetzt sie. Trinkt, raucht und starrt mürrisch in den spektakulären Sonnenaufgang. Bevor sie sich schlafen legt, kotzt sie ausgiebig in den trockenen Sand, flucht über die verschwendete Nahrung und befielt sich, das Maul zu halten.
Am nächsten Abend sitzt sie wieder vor einem kleinen Feuerchen, bereitet ein Frühstück zu und hält sich den brummenden Schädel. „Ich habe dich ja gewarnt.“ sagt sie triumphierend, verzieht danach genervt das Gesicht. „Sei doch bitte einmal ruhig.“ knurrt Leona. Stumm stopft sie den heißen Brei in sich hinein, trinkt ausgiebig Wasser und wendet sich dann den Arbeiten zu, die sie in der heutigen Nacht beschäftigen. Der Rucksack muss ausgebessert werden, der Schutzanzug hat Risse, ihre Unterwäsche hält nur noch an wenigen Fäden zusammen. Leona arbeitet still, spricht über Stunden hinweg kein Wort. Manchmal steht sie auf, geht hinein und kommt mit einem Gegenstand zurück, den sie für ihre Ausbesserungsarbeiten braucht. Das Innere des Autohauses hat sich stark verändert. Leona hat viele Wagen nach draußen geschoben. Mit Geschickt und Mühe hat sie sich ein geräumiges Zuhause geschaffen, das verbarrikadiert ist gegen die unerbittlichen Elemente. Ein Berg von Decken und Kissen aus dem Hotel bildet ihr riesiges Bett, darum herum türmen sich Stapel aus Lebensmitteln und Getränken. Leona schläft gerne in ihrem Hort. Jetzt geht sie zu einem kleinen Schränkchen, das sie aus dem Büro geborgen hat und holt eine lange Schere aus einer der Schubladen. Auf dem Weg nach draußen greift sie nach einer Flasche Whiskey. „Schon wieder?“ fragt sie traurig, als sie sich zurück ans Feuer setzt. „Fang bitte nicht wieder damit an.“ antwortet sie gereizt. Leona wirft neues Holz ins Feuer. Öffnet die Flasche und trinkt. „Willst du nun jede Nacht trinken?“ „Und was, wenn dem so wäre?“ Sie nimmt grob die Näharbeit wieder auf, mit der sie sich beschäftigt hat, grunzt dann und legt sie wieder zur Seite. „Es geht dich einen Scheißdreck an.“ stellt sie mit Nachdruck in der Stimme fest.
„Du weißt, dass das nicht stimmt.“
„Gar nichts weiß ich.“
„Warum ist dir immer alles egal?“
„Warum sagst du immer ‚immer‘ wenn du nörgelst?“
„Warum denkst du, es wäre eine gute Idee, mich nachzuäffen?“
„Warum denkst du, es wäre eine gute Idee, mir ständig auf die Nerven zu fallen?“
Leona lässt ihre geballte Faust wütend auf den weichen Boden knallen. Sie murmelt etwas und wirft weiter Holz ins Feuer. Die Flammen fressen sich begierig durch das trockene Holz, züngeln in bunten Farben in die mächtige Dunkelheit der Nacht. „Was hast du da gerade gesagt?“ zischt Leona, ihre Augen werden schmal. „Nichts.“ erwidert sie, starrt gereizt ins Feuer. „Nein. Du hast nicht Nichts gesagt.“ Leonas Stimme ist sehr leise. Eine große Erregung zittert in ihren Worten. „Doch.“ antwortet sie knapp. „Sag es!“ schreit Leona. „Hör endlich auf!“ schreit sie zurück.
Leona greift nach der Schere, die neben ihr im Sand liegt. Ihre Stimme verliert sich fast im munteren prasseln des Feuers. „Ich habe gesagt, dass ich ohne dich besser dran wäre! Na? Bist du nun zufrieden? Dann: Lass. Mich. Endlich. In. Ruhe!“ Die letzten Worte schreit sie wieder, stößt dabei mit der spitzen Schere durch die leere Luft. Niemand antwortet ihrem Ausbruch. Blinzelnd sieht sich Leona um. Sie sitzt einsam vor dem Feuer, hält verkrampft die Schere in der Hand. Leona blickt verwirrt um sich, dreht sich nach links und rechts, schaut hinter sich, steht schließlich auf und läuft um das Gebäude. Sie ist allein. Stirnrunzelnd kehrt sie zurück zum Feuer, setzt sich und starrt in die Flammen.

„Hast du an das Seil gedacht?“ Leona steht vor dem Loch in der Eingangshalle des Hotels und tastet suchend ihren Schutzanzug ab. Sie will sich nur kurz abseilen, um eine neue Flasche von dem herrlichen Sherry zu holen, der ihr so besonders wohl tut. Stille beantwortet ihre Frage. Leona zuckt kurz schuldbewusst zusammen. Seufzend dreht sie sich um und verlässt mit schlurfenden Schritten das Hotel. Im Autohaus stöbert sie das Seil aus dem Chaos, in das sie ihre Basis in den vergangenen Wochen verwandelt hat. Leona hat eine Menge Dinge gehortet, hat ihr Zuhause in ein Sammelsurium aus Gegenständen verwandelt, die sie in der Umgebung gefunden hat. Ausgebleichtes Spielzeug drängt sich in improvisierten Regalen neben dutzenden Büchern und unnützen Relikten aus der Vergangenheit. Lampions und Girlanden hängen in wirren Trauben von der Decke des Autohauses, an den Wänden kleben bunte Bilder von Vögeln, Wäldern, Delfinen, Wasserfällen und muskulösen, jungen Männern. Leona lacht triumphierend auf, als sie das Seil schließlich findet. Sie wickelt es geschickt auf und läuft zurück in die Ruine des Hotels. Dort verankert sie das Seil dem Flaschenzug, den sie für den Transport der Pakete gebaut hat, schlingt es ungeduldig durch die Halterung an ihrem Anzug und lässt sich in die Dunkelheit gleiten. Der schlampige Knoten, mit dem sie das Seil am Flaschenzug befestigt hat, löst sich prompt. Ihr erschrockener Schrei schallt zum zweiten Mal durch den riesigen Hotelfriedhof, der teilnahmslos in den Nachthimmel ragt. Leona schlägt hart mit dem Hinterkopf auf und verliert das Bewusstsein. Als sie zu sich kommt, liegt sie benommen auf dem harten Boden des Lagers. Vorsichtig prüft sie ihre Extremitäten, zieht mit einem scharfen Laut die Luft ein, als ein heftiger Schmerz durch ihr Bein fährt. „Das darf nicht wahr sein.“ Leona tastet nach der kleinen Taschenlampe. Fühlt, dass diese zerbrochen ist und sucht daraufhin nach der Ersatzlampe, die sie im Anzug bei sich trägt. Der kleine Lichtkreis, mit dem sie ihre Beine endlich beleuchtet, offenbart keine offensichtlichen Verletzungen. Vorsichtig tastet Leona an der Hose des Anzugs entlang. Ein starker Schmerz verrät schließlich das gebrochene Schienbein. „Verdammt.“ knirscht Leona. Panik greift mit eiskalten Krallen nach ihr, aber Leona wehrt sich gegen das Rasen ihres Herzens, denkt bewusst gegen den klaffenden Abgrund an, der sich in ihrer Seele öffnen will. „Das ist keine große Tragödie.“ flüstert sie tapfer. „Wir müssen das Bein nur schienen. Das kriegen wir schon hin, oder?“ Leona lauscht in der erdrückenden Stille nach einer Antwort. „Hörst du mich?“ ruft sie verzweifelt. Da ist sie wieder, die kopflose Panik. War nie weg, hat nur gelauert, auf den einen Moment, an dem Leona nicht wachsam ist. Der Lichtstrahl ihrer Lampe zittert hektisch über die Regale. Ihr Mund wird trocken, der Herzschlag galoppiert. Schreckensbilder aus der Vergangenheit brechen über sie herein. Peter, der qualvoll im Feuer stirbt. Karin, die schreiend verblutet. Sonja, die sich einfach hinlegt und nicht mehr aufsteht, weil ihr kleiner Sohne verhungert ist. Miriam, die hilflos im tödlichen Treibsand versinkt. All die Toten sterben erneut vor Leonas innerem Auge, während sie entsetzt nach Luft schnappt. Ein bleierner Ring legt sich eng um ihre Lungen, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Leona hyperventiliert, verdreht die Augen, verliert wieder das Bewusstsein.
Als sie diesmal erwacht, bleibt sie lange still liegen. Starrt ausdruckslos auf das Loch in der Decke. Dann wendet sie den Kopf und mustert das Seil, das neben ihr auf dem Boden liegt. „Ich komme da hoch.“ presst Leona hervor. Rappelt sich stöhnend auf und sucht nach Material, mit dem sie das gebrochene Schienbein versorgen kann. Sie robbt fluchend durch den Gang, feuert sich selbst an, bis sie schließlich eine Palette mit gestapelten Holzkisten findet. Mühsam schlüpft sie mit den Armen aus ihrem Anzug, zieht das Unterhemd aus und reißt es in Streifen. Jede Bewegung bringt Scherzen. Leona zerbricht umständlich zwei Holzkisten und bastelt eine einfache, aber stabile Schiene. Sie stöhnt gequält auf, als sie die geschichteten Bretter eng an ihr gebrochenes Bein wickelt. Unterdrückt den Drang, sich zu erbrechen. Erschöpft ruht sie aus, nachdem der letzte Knoten gebunden ist. Liegt flach auf dem Boden und atmet gegen den Schmerz. Dann zieht sie sich mühselig an einem Regal nach oben und humpelt langsam zurück zum Seil. „Wie kriege ich dich nach oben?“ fragt sie die Dunkelheit. Augenblicklich denkt sie an die Pakete mit Pfeffer, die ihr bei einer vergangenen Expeditionen im Lager aufgefallen sind. Sie sind fünf Kilo schwer und könnten stabil genug sein, um nicht sofort zu zerbrechen, wenn sie aus dem Loch geschleudert werden. Leona schlurft langsam die Regale entlang, findet die Pakete und schleppt eines davon zurück zum Seil. Sie verknotet es, prüft den Knoten sorgfältig, denkt sich in die Eingangshalle und überlegt, wo das Pfefferpaket landen muss, um sich zu verkeilen. Sie wählt ihr Ziel mit bedacht, blickt angestrengt nach oben, beginnt, das Seil zu schwingen. Unzählige Male hat sie so schon geworfen. Sich aus Gruben, Abgründen und diesem Lager gezogen. Doch noch nie war sie dabei wirklich alleine. Die Unsicherheit lässt ihre Hand zittern, als sie das wirbelnde Geschoss loslässt. Das Paket landet klatschend an der Decke, fällt wieder zurück auf den Boden des Lagers und zerplatzt. Pfefferkörner fliegen durch die Luft. Leona flucht. Stöhnend humpelt sie zurück zu den Paketen. Der zweite Versuch gelingt besser, das Paket fliegt durch das Loch in der Decke, verkeilt sich aber nicht. Leona pausiert erschöpft, wartet, bis sich ihre zitternden Muskeln von der brutalen Anstrengung erholt haben. Beim dritten Mal verkeilt sich das Paket endlich. Leona freut sich still, ist zu ausgelaugt, um einen Laut von sich zu geben. Sie weiß, dass sie nach oben klettern muss. Hat Angst vor dem Kraftakt. Also humpelt sie durch das Lager und kehrt mir uralten Schokoriegeln und einer Wasserflasche zurück. Setzt sich ächzend unter das Loch, isst die Schokolade, trinkt das Wasser und wartet. Irgendwann hat sie das Gefühl, bereit zu sein. Sie nimmt all ihren Mut zusammen, windet das Seil durch die Halterung des Anzugs, legt ihr ganzes Gewicht hinein, um die Stabilität des Pakets zu prüfen. „Wir kriegen das hin.“ versichert sie sich wieder, dann beginnt sie den Aufstieg. Quälend langsam kommt sie voran, die Muskeln in ihren Armen brennen, können das Gewicht des Körpers kaum tragen. Leona kämpft sich Zentimeter für Zentimeter nach Oben. Sie hört auf nachzudenken, hört auf, Schmerz zu empfinden, sieht nur noch das nächste Stück Seil, nach dem ihre zitternden Finger greifen. Ihre Hände schwitzen. Leona gleitet ab, verliert den Halt und fällt zurück auf den Boden des Lagers. Der Sturz presst die Luft aus ihren Lungen, der Schmerz im Schienbein jagt rote Explosionen durch ihr Gehirn. Leona weint verzweifelt. „Ich schaffe das nicht!“ heult sie zwischen zwei großen Schluchzern. „Ganz ruhig jetzt, ganz ruhig.“ Leona erstarrt. „Ich bin ja bei dir.“ sagt sie mit beruhigender Stimme. „Du bist wieder da?“ flüstert Leona ungläubig, dicke Tränen laufen über ihre Wangen. „Ich war nie weg.“ antwortet sie sanft. „Es tut mir so leid.“ „Mir auch.“ „Ich hätte nie sagen sollen, dass ich ohne dich…“ „Das ist jetzt nicht wichtig.“ unterbricht sie sich selbst. „Wir müssen hier raus und dich versorgen.“ Leona blickt hoch zu dem Loch. „Wir kriegen das hin.“ sagt sie und nickt dabei zuversichtlich.

© sybille lengauer

Das Ungewicht

Veröffentlicht: April 7, 2019 in Gedichte
Schlagwörter:, ,

Das Ungewicht

Was wiege ich schon?
Gegen all die Milliarden.
Menschen, Jahre, Widrigkeiten.
Bin nicht besser als irgendeiner.
Ein Schimmern, ein Donnern, ein Glimmen.
Bin nicht schlechter als irgendwer.
Verblasst, erloschen, vergangen.
In einem Augenblick.
Kaum mehr wert als jenes Klischee.
Das irgendwo in China gerade umfällt.
Sack Reis, Fahrrad, Kritiker.
Bin nicht schlechter als irgendeiner.
Ein Leuchten, ein Beben, ein Knistern.
Bin nicht besser als irgendwer.
Verglüht, erloschen, verglommen.
In einem Wimpernschlag.
Was ich unternehme gilt Nichts und Alles.
Zerrieben im ernüchternden Abgesang der Zeit.
Ziele, Träume, Nichtigkeiten.
Bin nicht mehr als ein winziger Tropfen.
Ein Flackern, ein Rauschen, ein Katzensprung.
Bin nicht weniger als das unendliche Meer.
Verschlungen, erloschen, verschollen.
In einem Atemzug.
Meine Bedeutungslosigkeit macht mich frei.

© sybille lengauer

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Cowboy

Veröffentlicht: April 6, 2019 in Gedichte
Schlagwörter:, ,

(Eine schlechte Kombination von schlechten Filmen und schlechter Musik)

Hey, Hey, Hey.
Ich bin der ewige Reiter.
Hey, Hey, Hey.
Jetzt auch in deiner Stadt.
Hey, Hey, Hey.
Ich ziehe erst wieder weiter.
HEY!
Wenn sich nichts mehr bewegt.

Reiten, immer nur reiten.
Mit etwas Glück ein Gefecht.
Danach reiten, wieder nur reiten.
Und abends Bohnen.
Jede verdammte Nacht Bohnen.
Bekommt mir auf Dauer auch schlecht.
Aber zu reiten, immer nur reiten.
Ist mein Lebensziel.
Ja, mein Lebensziel.
Ich bin einer von den Guten.

Hey, Hey, Hey.
Ich bin der ewige Reiter.
Hey, Hey, Hey.
Jetzt auch in deiner Stadt.
Hey, Hey, Hey.
Ich ziehe erst wieder weiter.
HEY!
Wenn sich nichts mehr bewegt.
Nein, nichts mehr bewegt.

Reiten. Kilometerweit reiten.
Manchmal trifft man das andre Geschlecht.
Dann reitet man liegend.
Und abends Whiskey.
Jede verdammte Nacht Whiskey.
Bekommt mir, ist nur für die Leber schlecht.
Dann wieder reiten, immer nur reiten.
Ist mein Lebensziel.
Ja, mein Lebensziel.
Vor Damen nehme ich stets den Hut ab.

Hey, Hey, Hey.
Ich bin der ewige Reiter.
Hey, Hey, Hey.
Vielleicht blas ich dir die Lichter aus.
Hey, Hey, Hey.
Ich ziehe erst wieder weiter.
HEY!
Wenn sich nichts mehr bewegt.

Reiten, stundenlang reiten.
Ein Indianerdorf kommt grade recht.
Kurzes Gemetzel im Sattel.
Und abends Bohnen.
Jede verfluchte Nacht Bohnen.
Mir wird schon vom Anblick schlecht.
Aber zu reiten, immer nur reiten.
Ist mein Lebensziel.
Ja, mein Lebensziel.
Ich bin einer von den Guten.

Hey, Hey, Hey.
Ich bin der ewige Reiter.
Hey, Hey, Hey.
Jetzt auch in deiner Stadt.
Hey, Hey, Hey.
Ich ziehe erst wieder weiter.
HEY!
Wenn sich nichts mehr bewegt.
Nicht mal ein Grashalm bewegt.
Und abends Whiskey.
Bohnen und Whiskey.
Versteh einer das verdammte Klischee.
Hey, Hey, Hey.

Ich bin einer von den Guten.

© sybille lengauer