Kalt war es in der Wohnung. Verqualmt, trüb und einsam. Unordentlich auch und wer spricht schon von den gelbgerauchten Spinnweben in den Ecken, den abgewetzten Möbelstücken, den überquellenden Aschenbechern. Auch die leeren Weinflaschen, die den Boden des Wohnzimmers bevölkerten, die dreckigen Teller, die sich auf dem speckigen Couchtisch stapelten, die Nikotinschlieren an den ungeputzten Fenstern, sie blieben lieber unerwähnt. Doch so war es eben um diese Wohnung bestellt, die Räume atmeten Depression. Der Mann, der sie bewohnte, saß meist vornübergebeugt in einem altgedienten Computersessel. Klickte mit angeödetem Gesichtsausdruck durch das Internet, rauchte dabei pausenlos und trank sich um den Verstand. Bisweilen schreckte er hustend auf, wenn eine Website unerwartet Skurriles an den nimmersatten Strand seines Bildschirms spülte, meistens saß er einfach da, blickte gelangweilt und klickte. Sah Filmchen, las Artikel, drückte selten auf „gefällt mir“, kommentierte nie. Er tat dies jeden Abend, begann damit pünktlich ab zwanzig Uhr. Sommers wie Winters. War es draußen stockfinster oder immer noch taghell, seine Jalousien waren fest verschlossen und er saß vor dem Rechner, rauchte und trank bis spät in die Nacht hinein. Sah sich dann, im tiefsten Rausch, gern Videos von schmalzigen Sonnenuntergängen an. Weinte manchmal dabei und dachte weinselig an vergangene Tage in einem besseren Leben. Trank darauf noch ein Glas leer, rauchte eine weitere Zigarette bis auf den Stummel und legte sich schließlich, schwer seufzend, auf die durchgewetzte Couch, um traumlos zu schlafen. Die Nächte flossen nahtlos ineinander. Die, immer gleich verstreichenden, Stunden gerannen zu einem Diorama, das teilnahmslos einen erodierenden Menschen zeigte. Wie viel Zeit braucht ein kleiner Vogel, um mit seinem Schnabel einen riesigen Berg abzuwetzen? Er braucht unendlich viele Stunden. Wie viel Zeit braucht ein Mensch, um mit seiner düstersten Ambition ein kleines Leben fortzutrinken? Er braucht nicht sehr lange. Der Mann arbeitete daran. Baute jede Nacht an dem Mausoleum, in das er sein Dasein verwandelte. Eingemörtelt in Rotwein, Staub und Nikotin, eingemauert für eine Ewigkeit, die nicht existierte.
Doch eine dieser Nächte, ihr genaues Datum steht im Kalender, war die eine, die alles veränderte. Sie begann, wie alle Nächte begannen, pünktlich um zwanzig Uhr. Die Jalousien waren heruntergezogen, der Bildschirm flimmerte, eine Zigarette brannte. Der Mann saß in seinem Computersessel, rieb sich kurz mit einer rauen Hand über das Gesicht, dann befüllte er ein fingerfleckiges Glas mit Rotwein. Griff zielstrebig zur Maus und öffnete die vertrauten Webseiten, mit denen er den Abend zu beginnen pflegte. Er führte gerade das Glas an die Lippen, als er urplötzlich in der Bewegung verharrte. Fasziniert studierte er eine kurze Überschrift, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Er stellte das Glas gedankenlos ab und klickte. Las den geöffneten Bericht, klickte einen weiterführenden Link, las eine knappe Anleitung. Er lehnte sich in seinem Computersessel zurück, griff dabei, recht nachdenklich grunzend, wieder nach dem vollen Glas. Vergaß zu trinken. Eine brennende Zigarette verhungerte im Aschenbecher, die Zeit stand still. Der Mann überlegte. Stellte das Glas erneut zurück, zündete geistesabwesend eine neue Zigarette an, die er wieder in den Aschenbecher legte, dann ging er in die Küche.
Diesen Hort der Gefühllosigkeit näher zu beschreiben erübrigt sich. Der Mann aß nie zuhause, er hatte die Küche beim Einzug übernommen und so wie er sie bekommen hatte stand sie da. Vergilbte vor sich hin. Im Kühlschrank stapelten sich Flaschen, im Gefrierfach wuchsen Eisberge in eine offene Packung Erbsen hinein, die niemand jemals gekauft hatte. Der Mann besah sich die Packung, holte dann einen Suppenlöffel aus einer Schublade und barg damit ein paar gefrorene Erbsen, die er auf die Anrichte legte. Er zuckte mit den Schultern, ging in den Flur, öffnete die Fallklappe zum Dachboden und kletterte nach oben. Was er dort rumorte und fluchend suchte, es interessiert ebenso wenig wie die reglose Präsenz der Erbsen auf jener öden Anrichte. Was er in Händen hielt, als er endlich wieder von der wackeligen Klappleiter stieg, war ebenso unspektakulär. Profaner Gartendraht und ein alter Wecker. Doch was er mit Hilfe des Drahtes, der Erbsen, des Weckers und der kurzen Beschreibung im Internet baute, sollte sein Leben verändern.
Es war bereits zweiundzwanzig Uhr dreißig und der Mann war immer noch nüchtern. Geraucht hatte er zwar ohne Unterlass, aber die meisten Zigaretten waren, halb konsumiert, in einem der unzähligen Aschenbecher verendet, die auf dem Couchtisch standen. Konzentriert arbeitete er sich durch die Anleitung. Las sie immer wieder neu, holte noch ein paar Erbsen aus dem Gefrierfach, kratzte sich den ungewaschenen Kopf. Dann zerlegte er den Wecker, verband manche Teile neu mit dem Gartendraht. Verwand und verknotete diesen mit den gefrorenen Erbsen und wartete. Als nichts geschah, las er die Anleitung erneut, fluchte, verband ein paar Drähte noch einmal neu und schrak zusammen, als ein grün-bläuliches Leuchten plötzlich sein Wohnzimmer erhellte. Von den Erbsen ging ein magisches Glühen aus, ein beinah sphärisches Schimmern. Der Wecker, die übervollen Aschenbecher, alles, was sich auf dem Tisch befand, begann zu schweben. Nur einen Zentimeter, aber das reicht ja schon für ein Wunder. „Es ist ein Wunder!“ rief der Mann, fasste sich an die Brust und glotzte. Als er sich etwas beruhigt hatte, las er wieder die Beschreibung. Dann griff er feierlich nach dem Glas Rotwein, das immer noch unangetastet neben dem Bildschirm stand und prostete dem wundersamen Objekt zu. „Auf dich.“ Er trank das Glas in einem Zug leer, rauchte eine Zigarette hinterher und dachte über das Glück nach, das ihm der Apparat bescheren würde. Der Bericht zur Anleitung hatte von ungeahnten Möglichkeiten gesprochen und ungekannt neugierig drückte der Mann nun die Snooze-Taste des Weckers. Das grün-bläuliche Erbsenschimmern sprang augenblicklich auf seinen Finger über, verschlang Hand, Arm, Schulter, umhüllte den Oberkörper, erfasste schließlich den ganzen Menschen bis zu den Zehenspitzen und ehe er es sich versah, war er eingehüllt in sanftes Leuchten. Schwebte einen Zentimeter über dem Boden, und das reicht wirklich für ein Wunder. „Das ist großartig!“ flüsterte er ehrfürchtig. Gebannt beobachtete er, wie ein dünner, grünlich schimmernder Faden seinen Finger mit dem leuchtenden Erbsen-Apparat verband, der ruhig über dem Couchtisch schwebte. „Okay, versuchen wir es.“ Der Mann hob die Arme, reckte sich zur Zimmerdecke, schwebte wie ein dicker Tropfen über dem Heer der leeren Flaschen und lachte. Verschreckte Spinnen flohen, Staub wirbelte auf, der Mann verschwand mit einem sanften ‚Plop‘. Der eigentümliche Apparat leuchtete weiter grün-bläulich schimmernd. Ein dünnes Band, das ins Nichts führte, wies darauf hin, dass es immer noch eine Verbindung zu dem Mann gab, der verschwunden war. Doch wohin war der verschwunden? Eine berechtigte Frage und schwer zu beantworten, denn die Dimension in der er weilte, entzieht sich unserer begrenzten Auffassungsgabe. Es muss daher genügen, sich auf den Hinweis zu beschränken, dass er in jener hyperdimensionalen Realität, in der er sich befand, ausgesprochen glücklich war. Wie und warum entzieht sich jeglicher Beschreibung. Nicht so sein Beschluss, schließlich wieder zurückzukehren in jenes öde, nach kaltrauchigem Siechtum stinkende Wohnzimmer, in dem es nichts gab, was auf ihn gewartet hätte. Er tat es, plopte zurück, schwebte im Raum und grinste über beide Ohren. Dann drückte er die Snooze-Taste, das Leuchten verließ seinen Körper, er sank zurück auf den Boden. Lief eilig zur Toilette, pinkelte, wusch sich schnell die Hände, stürmte zurück zum Apparat und presste den Zeigefinger ungeduldig auf Snooze. Schon schwebte er wieder, richtete die Arme zur Decke, gab sich dem schwerelosen Moment hin und verschwand erneut. ‚Plop‘. Diese Prozedur wiederholte sich in den folgenden Stunden immer wieder. Manchmal kehrte er zurück um begierig zu trinken, manchmal kam er wieder um ebenso gierig zu rauchen, ab und an ging er auf die Toilette. Kaum war er fertig, sprang er zurück in die fremde Dimension, er verbrachte keine Sekunde zu lange auf unserer profanen Ebene. Was dabei nur einem aufmerksamen Beobachter aufgefallen wäre, und so aufmerksam waren die Spinnen in den Ecken des Zimmers leider nicht, jedes Mal, wenn der Mann zurück in unsere Realität sprang, wirkte er ein wenig dünner als zuvor. Nicht auf jene banale Art und Weise, die unzählige Frauenzeitschriften tagein, tagaus versprechen, nein, er nahm nicht einfach ab, er wurde tatsächlich ein bisschen weniger. Wurde kleiner, wirkte Fadenscheiniger. Leuchtete schwächer. Er bemerkte es erst, als er ein weiteres Mal zurückkehrte und sein Finger in der Snooze-Taste versank, die er eigentlich drücken sollte. Verwundert besah sich der Mann die Angelegenheit, drehte seine durchscheinende Hand vor seinem durchsichtigen Gesicht. Dann sah er fragend nach dem Apparat hin, der schwach pulsierte. Einige Erbsen waren aus ihren Drahthalterungen gekullert und das hätte selbst den Spinnen auffallen können, so unaufmerksam sind die nicht. Der Mann legte die Stirn in Falten und überlegte. Aber was hätte ihm schon einfallen können, er war kein Physiker, genial schon gar nicht und so traf er die übliche Entscheidung. Schlug mit der flachen Hand nach dem Wecker und hoffte das Beste. Aber seine Hand glitt nur durch das verdrahtete Gerät und es war, als hätte ein sanfter Windhauch es erschüttert, nichts weiteres geschah. Also traf der Mann die zweite Entscheidung, die man in so einem Fall trifft, er fluchte, tobte und schrie, während er einen Zentimeter über dem Boden schwebte und wer will das schon als Wunder bezeichnen. Schließlich gab er es auf, erschöpft drehte er sich im Kreis, vergoss ein paar unsichtbare Tränen und verschwand wieder in jene hyperdimensionale Realität, die ihn zwar beglücken, aber nicht erhalten konnte. Lange blieb er dort, suchte verzweifelt Hilfe bei den vielgestaltigen Wesen, die jene Ebene zu tausenden bevölkerten. Aber wie hätten sie ihm helfen können, wussten sie doch nichts von den metaphysischen Eigenschaften der Pisum Sativum und auch nichts von den Dringlichkeiten und Nöten, denen ein menschlicher Körper unterworfen ist. Kurz bevor er verdurstete, sprang der Mann ein letztes Mal zurück in diese, unsere profane Realität. Kaum sichtbar war er noch, nur blasse Konturen die kränklich schimmerten, schwebten im staubflirrenden Raum. Er besah sich das abgestandene Zimmer, betrachtete die abgewetzte Couch, den schwarzen Bildschirm seines Computers. Verabschiedete sich von den Spinnen, sah lange auf das verdunklete Fenster. Kaum hörbar flüsterte er seine letzten Worte, bevor er schließlich für immer in die andere Dimension verschwand.
„Diese verdammten Jalousien.“
© sybille lengauer