Archiv für April, 2019

Der Trinker

Veröffentlicht: April 3, 2019 in Kurzgeschichten
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Kalt war es in der Wohnung. Verqualmt, trüb und einsam. Unordentlich auch und wer spricht schon von den gelbgerauchten Spinnweben in den Ecken, den abgewetzten Möbelstücken, den überquellenden Aschenbechern. Auch die leeren Weinflaschen, die den Boden des Wohnzimmers bevölkerten, die dreckigen Teller, die sich auf dem speckigen Couchtisch stapelten, die Nikotinschlieren an den ungeputzten Fenstern, sie blieben lieber unerwähnt. Doch so war es eben um diese Wohnung bestellt, die Räume atmeten Depression. Der Mann, der sie bewohnte, saß meist vornübergebeugt in einem altgedienten Computersessel. Klickte mit angeödetem Gesichtsausdruck durch das Internet, rauchte dabei pausenlos und trank sich um den Verstand. Bisweilen schreckte er hustend auf, wenn eine Website unerwartet Skurriles an den nimmersatten Strand seines Bildschirms spülte, meistens saß er einfach da, blickte gelangweilt und klickte. Sah Filmchen, las Artikel, drückte selten auf „gefällt mir“, kommentierte nie. Er tat dies jeden Abend, begann damit pünktlich ab zwanzig Uhr. Sommers wie Winters. War es draußen stockfinster oder immer noch taghell, seine Jalousien waren fest verschlossen und er saß vor dem Rechner, rauchte und trank bis spät in die Nacht hinein. Sah sich dann, im tiefsten Rausch, gern Videos von schmalzigen Sonnenuntergängen an. Weinte manchmal dabei und dachte weinselig an vergangene Tage in einem besseren Leben. Trank darauf noch ein Glas leer, rauchte eine weitere Zigarette bis auf den Stummel und legte sich schließlich, schwer seufzend, auf die durchgewetzte Couch, um traumlos zu schlafen. Die Nächte flossen nahtlos ineinander. Die, immer gleich verstreichenden, Stunden gerannen zu einem Diorama, das teilnahmslos einen erodierenden Menschen zeigte. Wie viel Zeit braucht ein kleiner Vogel, um mit seinem Schnabel einen riesigen Berg abzuwetzen? Er braucht unendlich viele Stunden. Wie viel Zeit braucht ein Mensch, um mit seiner düstersten Ambition ein kleines Leben fortzutrinken? Er braucht nicht sehr lange. Der Mann arbeitete daran. Baute jede Nacht an dem Mausoleum, in das er sein Dasein verwandelte. Eingemörtelt in Rotwein, Staub und Nikotin, eingemauert für eine Ewigkeit, die nicht existierte.
Doch eine dieser Nächte, ihr genaues Datum steht im Kalender, war die eine, die alles veränderte. Sie begann, wie alle Nächte begannen, pünktlich um zwanzig Uhr. Die Jalousien waren heruntergezogen, der Bildschirm flimmerte, eine Zigarette brannte. Der Mann saß in seinem Computersessel, rieb sich kurz mit einer rauen Hand über das Gesicht, dann befüllte er ein fingerfleckiges Glas mit Rotwein. Griff zielstrebig zur Maus und öffnete die vertrauten Webseiten, mit denen er den Abend zu beginnen pflegte. Er führte gerade das Glas an die Lippen, als er urplötzlich in der Bewegung verharrte. Fasziniert studierte er eine kurze Überschrift, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Er stellte das Glas gedankenlos ab und klickte. Las den geöffneten Bericht, klickte einen weiterführenden Link, las eine knappe Anleitung. Er lehnte sich in seinem Computersessel zurück, griff dabei, recht nachdenklich grunzend, wieder nach dem vollen Glas. Vergaß zu trinken. Eine brennende Zigarette verhungerte im Aschenbecher, die Zeit stand still. Der Mann überlegte. Stellte das Glas erneut zurück, zündete geistesabwesend eine neue Zigarette an, die er wieder in den Aschenbecher legte, dann ging er in die Küche.
Diesen Hort der Gefühllosigkeit näher zu beschreiben erübrigt sich. Der Mann aß nie zuhause, er hatte die Küche beim Einzug übernommen und so wie er sie bekommen hatte stand sie da. Vergilbte vor sich hin. Im Kühlschrank stapelten sich Flaschen, im Gefrierfach wuchsen Eisberge in eine offene Packung Erbsen hinein, die niemand jemals gekauft hatte. Der Mann besah sich die Packung, holte dann einen Suppenlöffel aus einer Schublade und barg damit ein paar gefrorene Erbsen, die er auf die Anrichte legte. Er zuckte mit den Schultern, ging in den Flur, öffnete die Fallklappe zum Dachboden und kletterte nach oben. Was er dort rumorte und fluchend suchte, es interessiert ebenso wenig wie die reglose Präsenz der Erbsen auf jener öden Anrichte. Was er in Händen hielt, als er endlich wieder von der wackeligen Klappleiter stieg, war ebenso unspektakulär. Profaner Gartendraht und ein alter Wecker. Doch was er mit Hilfe des Drahtes, der Erbsen, des Weckers und der kurzen Beschreibung im Internet baute, sollte sein Leben verändern.
Es war bereits zweiundzwanzig Uhr dreißig und der Mann war immer noch nüchtern. Geraucht hatte er zwar ohne Unterlass, aber die meisten Zigaretten waren, halb konsumiert, in einem der unzähligen Aschenbecher verendet, die auf dem Couchtisch standen. Konzentriert arbeitete er sich durch die Anleitung. Las sie immer wieder neu, holte noch ein paar Erbsen aus dem Gefrierfach, kratzte sich den ungewaschenen Kopf. Dann zerlegte er den Wecker, verband manche Teile neu mit dem Gartendraht. Verwand und verknotete diesen mit den gefrorenen Erbsen und wartete. Als nichts geschah, las er die Anleitung erneut, fluchte, verband ein paar Drähte noch einmal neu und schrak zusammen, als ein grün-bläuliches Leuchten plötzlich sein Wohnzimmer erhellte. Von den Erbsen ging ein magisches Glühen aus, ein beinah sphärisches Schimmern. Der Wecker, die übervollen Aschenbecher, alles, was sich auf dem Tisch befand, begann zu schweben. Nur einen Zentimeter, aber das reicht ja schon für ein Wunder. „Es ist ein Wunder!“ rief der Mann, fasste sich an die Brust und glotzte. Als er sich etwas beruhigt hatte, las er wieder die Beschreibung. Dann griff er feierlich nach dem Glas Rotwein, das immer noch unangetastet neben dem Bildschirm stand und prostete dem wundersamen Objekt zu. „Auf dich.“ Er trank das Glas in einem Zug leer, rauchte eine Zigarette hinterher und dachte über das Glück nach, das ihm der Apparat bescheren würde. Der Bericht zur Anleitung hatte von ungeahnten Möglichkeiten gesprochen und ungekannt neugierig drückte der Mann nun die Snooze-Taste des Weckers. Das grün-bläuliche Erbsenschimmern sprang augenblicklich auf seinen Finger über, verschlang Hand, Arm, Schulter, umhüllte den Oberkörper, erfasste schließlich den ganzen Menschen bis zu den Zehenspitzen und ehe er es sich versah, war er eingehüllt in sanftes Leuchten. Schwebte einen Zentimeter über dem Boden, und das reicht wirklich für ein Wunder. „Das ist großartig!“ flüsterte er ehrfürchtig. Gebannt beobachtete er, wie ein dünner, grünlich schimmernder Faden seinen Finger mit dem leuchtenden Erbsen-Apparat verband, der ruhig über dem Couchtisch schwebte. „Okay, versuchen wir es.“ Der Mann hob die Arme, reckte sich zur Zimmerdecke, schwebte wie ein dicker Tropfen über dem Heer der leeren Flaschen und lachte. Verschreckte Spinnen flohen, Staub wirbelte auf, der Mann verschwand mit einem sanften ‚Plop‘. Der eigentümliche Apparat leuchtete weiter grün-bläulich schimmernd. Ein dünnes Band, das ins Nichts führte, wies darauf hin, dass es immer noch eine Verbindung zu dem Mann gab, der verschwunden war. Doch wohin war der verschwunden? Eine berechtigte Frage und schwer zu beantworten, denn die Dimension in der er weilte, entzieht sich unserer begrenzten Auffassungsgabe. Es muss daher genügen, sich auf den Hinweis zu beschränken, dass er in jener hyperdimensionalen Realität, in der er sich befand, ausgesprochen glücklich war. Wie und warum entzieht sich jeglicher Beschreibung. Nicht so sein Beschluss, schließlich wieder zurückzukehren in jenes öde, nach kaltrauchigem Siechtum stinkende Wohnzimmer, in dem es nichts gab, was auf ihn gewartet hätte. Er tat es, plopte zurück, schwebte im Raum und grinste über beide Ohren. Dann drückte er die Snooze-Taste, das Leuchten verließ seinen Körper, er sank zurück auf den Boden. Lief eilig zur Toilette, pinkelte, wusch sich schnell die Hände, stürmte zurück zum Apparat und presste den Zeigefinger ungeduldig auf Snooze. Schon schwebte er wieder, richtete die Arme zur Decke, gab sich dem schwerelosen Moment hin und verschwand erneut. ‚Plop‘. Diese Prozedur wiederholte sich in den folgenden Stunden immer wieder. Manchmal kehrte er zurück um begierig zu trinken, manchmal kam er wieder um ebenso gierig zu rauchen, ab und an ging er auf die Toilette. Kaum war er fertig, sprang er zurück in die fremde Dimension, er verbrachte keine Sekunde zu lange auf unserer profanen Ebene. Was dabei nur einem aufmerksamen Beobachter aufgefallen wäre, und so aufmerksam waren die Spinnen in den Ecken des Zimmers leider nicht, jedes Mal, wenn der Mann zurück in unsere Realität sprang, wirkte er ein wenig dünner als zuvor. Nicht auf jene banale Art und Weise, die unzählige Frauenzeitschriften tagein, tagaus versprechen, nein, er nahm nicht einfach ab, er wurde tatsächlich ein bisschen weniger. Wurde kleiner, wirkte Fadenscheiniger. Leuchtete schwächer. Er bemerkte es erst, als er ein weiteres Mal zurückkehrte und sein Finger in der Snooze-Taste versank, die er eigentlich drücken sollte. Verwundert besah sich der Mann die Angelegenheit, drehte seine durchscheinende Hand vor seinem durchsichtigen Gesicht. Dann sah er fragend nach dem Apparat hin, der schwach pulsierte. Einige Erbsen waren aus ihren Drahthalterungen gekullert und das hätte selbst den Spinnen auffallen können, so unaufmerksam sind die nicht. Der Mann legte die Stirn in Falten und überlegte. Aber was hätte ihm schon einfallen können, er war kein Physiker, genial schon gar nicht und so traf er die übliche Entscheidung. Schlug mit der flachen Hand nach dem Wecker und hoffte das Beste. Aber seine Hand glitt nur durch das verdrahtete Gerät und es war, als hätte ein sanfter Windhauch es erschüttert, nichts weiteres geschah. Also traf der Mann die zweite Entscheidung, die man in so einem Fall trifft, er fluchte, tobte und schrie, während er einen Zentimeter über dem Boden schwebte und wer will das schon als Wunder bezeichnen. Schließlich gab er es auf, erschöpft drehte er sich im Kreis, vergoss ein paar unsichtbare Tränen und verschwand wieder in jene hyperdimensionale Realität, die ihn zwar beglücken, aber nicht erhalten konnte. Lange blieb er dort, suchte verzweifelt Hilfe bei den vielgestaltigen Wesen, die jene Ebene zu tausenden bevölkerten. Aber wie hätten sie ihm helfen können, wussten sie doch nichts von den metaphysischen Eigenschaften der Pisum Sativum und auch nichts von den Dringlichkeiten und Nöten, denen ein menschlicher Körper unterworfen ist. Kurz bevor er verdurstete, sprang der Mann ein letztes Mal zurück in diese, unsere profane Realität. Kaum sichtbar war er noch, nur blasse Konturen die kränklich schimmerten, schwebten im staubflirrenden Raum. Er besah sich das abgestandene Zimmer, betrachtete die abgewetzte Couch, den schwarzen Bildschirm seines Computers. Verabschiedete sich von den Spinnen, sah lange auf das verdunklete Fenster. Kaum hörbar flüsterte er seine letzten Worte, bevor er schließlich für immer in die andere Dimension verschwand.
„Diese verdammten Jalousien.“

© sybille lengauer

Die Zeitmaschine

Veröffentlicht: April 2, 2019 in Kurzgeschichten
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Die Zeitmaschine

Tief, tief unten, in der absoluten Stille, liegt die Zeitmaschine. Vom schwärzesten Nichts umschlungen, von unfassbarem Druck umgeben ruht sie in ihrem Sarkophag aus Gestein.
Und ich sitze hier, gefangen in ihr. Sterbe und frage mich, wie es so weit kam.
Wie ich hier stranden konnte.

Es begann alles ganz einfach, beinah kindlich naiv. Eine Anzeige in der Zeitung, eine kleine Annonce nur: „Zeitmaschine an Bastler abzugeben“ und ich dachte bei mir, dass das doch etwas wäre, womit ich die langen Abendstunden auf Burg Weyhen füllen könnte. Denn lange erschienen sie mir, diese düsteren Winterabende, an denen niemand da war, der mir Gesellschaft leisten wollte. In denen die Dunkelheit wie eine Glocke über dem Anwesen lag und nur das leise Surren meiner dampfbetriebenen Roboter durch die Stille zu mir drang. Was wusste ich damals schon von der Zeit? Nichts wusste ich. Also kaufte ich sie, diese Kuriosität. Überwies das Geld per Express und schickte zugleich meine metallenen Diener zur angegebenen Adresse. Wartete ungeduldig auf ihre Rückkehr und was schnaubten die Kupferpferde den steilen Berg herauf, als sie den Karren vor mein Tor zogen. Was drückten sich die eisernen Gelenke der Trägerspinnen durch, als sie die Kiste behutsam abluden und zu meiner Werkstatt brachten. Schwer war sie, diese hölzerne Kiste, aus dicken Brettern gezimmert und darinnen ruhte, in Wolle und Holzspäne gebettet, die Zeitmaschine. Sie erinnerte mich, in ihrer kugeligen Form, an ein kleines U-Boot, welches ich einmal auf der Weltausstellung zu Paris gesehen hatte. Dicke Metallplatten, mit derben Bolzen verschweißt. Ein Bullauge, das mich fragend anzusehen schien. Viel Rost und wenig Ästhetik. So stand sie vor mir, die klobige Maschine. Ein Brief lag anbei, in fragiler, zittriger Handschrift rief mich der Verkäufer zur Vorsicht auf und ich lächelte über dieses liebenswerte Detail. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, er hätte diesen Brief ernst gemeint.
Meine Abende füllten sich nun mit der Arbeit an der Zeitmaschine. Ich konstruierte ein paar Helfer für die unzähligen Aufgaben und alleine daran hatte ich meine helle Freude. Wir arbeiteten meist still, griffen wortlos ineinander und vielleicht wurde ich selbst zu einem Teil dieses faszinierenden Getriebes, in das ich mich versenkte. Oft begrüßte ich, nach einer durcharbeiteten Nacht am Fenster lehnend, den ersten Hahn, wenn er aus dem Dorf herauf krähte. Während sich hinter mir das emsige Treiben an der Maschine fortsetzte, stieß ich mit einer Tasse Tee auf den herandämmernden Morgen an. Beglückwünschte mich zu der Idee, diesen fabelhaften Zeitvertreib erworben zu haben. Mit jeder Nacht, die ich an der Maschine verbrachte, veränderte sich ein wenig von ihrer Erscheinung und damit veränderte sich auch schleichend meine Einstellung zu ihr. War ich erst fasziniert, wandelte sich meine Empfindung allmählich zur Hingabe. Wo die lieblos angebrachten Bolzen verzierten Nieten wichen, wo hässliche Schweißnähte durch Präzision ersetzt wurden, da wuchs mein Herz in die Maschine hinein. Vor allem der komplexe Motor, der mich durch seinen komplizierten Aufbau faszinierte, gewann meine Liebe im Sturm. Ganze Nächte verbrachte ich in seinen Eingeweiden, studierte, sinnierte, manipulierte und manchmal schlief ich ein, eingeklemmt zwischen den gewundenen Röhren und unzähligen Hebeln, träumte vom Herz der Maschine. Wenn ich dann erwachte, verspannt und noch erschöpfter als zuvor, verstand ich meist ein wenig mehr von dem geheimnisvollen Mechanismus, der mich in seinen Bann gezogen hatte. Im Traum offenbarten sich kleine Details, die ich Unterbewusst bemerkt hatte. Ich atmete den Geist der Maschine, vergaß oft zu essen und zu trinken, bis mich ein besorgter Diener, missbilligend Piepsend, darauf hinwies und mir ein Tablett vor die Nase setzte. Dann schlang ich gierig in mich hinein, was auch immer auf den Tellern lag, trank durstig den Wein und die Fruchtsäfte, aß sogar das dekorative Obst und den stinkenden Käse. Dachte manchmal an ein wenig Hygiene, um nicht gänzlich zum Neandertaler zu verkommen. Badete und kleidete mich neu ein. Doch dann ging es weiter, in den Tiefen der Zeitmaschine, bis der Schlaf mich wieder übermannte. Wochen verbrachte ich auf diese Weise, bis ein besorgter Brief meines ehrwürdigen Vaters mich erreichte, in dem er darauf hinwies, dass ich meine Geschäfte zu vernachlässigen begann. Sein wachsames Auge schwebte immer über mir und es waren ihm unliebsame Gerüchte zu Ohren gekommen, über die unermüdlichen Bestrebungen seines Sohnes, sich mit seinen Basteleien zum Narren zu machen. Beschämt verringerte ich die Zeit, die ich mit der Maschine verbrachte, konzentrierte meine Kräfte nicht mehr gänzlich auf sie. Ich beauftragte die Dienerschaft, mich zu festen Zeiten ins Bett zu geleiten und hielt mich an ihre Aufforderungen. Beschäftigte mich des Tages wieder mit den trockenen Angelegenheiten, die das Leben mit sich brachte. Die Fortschritte an der Zeitmaschine gingen nun zwar langsamer voran, doch Fortschritte waren es trotzdem und so war ich es zufrieden. Und auch mein Vater war zufrieden, sein nächster Brief strahlte, zu meiner Erleichterung, wieder die teilnahmslose Neutralität aus, die er meist für mich reserviert hatte.
Mit gemischten Gefühlen denke ich an jene Nacht zurück, in der die Zeitmaschine schließlich fertiggestellt war. Spiegelblank poliert erstrahlte sie im Licht der Kerzen, diese grazile Schönheit, in die ich das alte Mädchen verwandelt hatte. Ganz im Sinne des Jugendstils hatte ich sie gestaltet, ihr Inneres und Äußeres zu einem Kunstwerk verwoben, das Schönheit und Stabilität spielerisch vereinte. Das leise Summen des Motors streichelte zart wie Weidenkätzchen über meine Ohren, die blinkenden Lichter und irisierenden Farben verzückten mein Gemüt, verleiteten mich zu einem albernen Tanz um die großartige Maschine. Ich wollte sie probieren, wollte sie augenblicklich testen, doch hielt mich der volle Terminkalender des nächsten Tages zurück. Also schob ich es unwillig auf, ging frustriert zu Bett, schlief nicht, wachte nicht, träumte nicht, dachte nicht und verbrachte den kommenden Tag, mit all seinen Terminen, in einer Art Dämmerzustand, der mir schemenhaft in Erinnerung blieb. Erst der Abend steht mir wieder deutlich im Gedächtnis, als ich aufgeregt die Tür zur Werkstatt aufschloss und die Zeitmaschine, sanft vibrierend, im Licht der untergehenden Sonne schimmernd, vor mir stand, als hätte sie nur auf mich gewartet. Nun war ich froh, dass ich sie in der Nacht zuvor nicht probiert hatte. Dieser feierliche Moment wäre mir verwehrt geblieben. Ich gestehe, dass ich vor Erregung zitterte, als ich mich endlich in den ledergepolsterten Sessel setzte und die Hebel umlegte, die Regler justierte und schließlich, mit schwitzenden Fingern, die Zeit einstellte. Ein einfacher Test sollte es werden, eine Stunde in die Zukunft wollte ich springen und wie hätte ich ahnen können, dass es durch einen kleinen Fehler in der Installation der Zahnräder zehntausend Jahre waren, die ich sprang. Und hätte ich es gewusst, wäre ich vielleicht trotzdem gesprungen? Ich weiß es nicht.
Das Gefühl ist nicht zu beschreiben, mit dem ich durch die Zeit schoss. Vielleicht einem wild gewordenen Karussell gleich, das sich immer schneller dreht und mit sich den Körper und den Verstand des hilflosen Menschen reißt, beides in unterschiedliche Richtungen schleudernd. Ich verlor die Besinnung, bei dieser wilden Fahrt, erwachte erst wieder, als ein greller Alarm mich aus der Ohnmacht riss. Benommen suchte ich, mich in dem blinkenden, von Dampfschwaden durchzogenen Chaos zu orientieren, das mich umgab und schrak ordentlich zusammen, als es plötzlich von außen an die metallene Hülle klopfte. Ich überlegte nicht lange, dachte noch, es wäre einer meiner Diener, der sich um mich sorgte und so öffnete ich die Einstiegsluke. Fand mich prompt in einer Gruppe von lächelnden, eigentümlich gekleideten Menschen wieder, die mich herzlich in ihrer Welt empfingen. Es dauerte eine geraume Weile bis ich begriff, was vorgefallen war. Die freundlichen Ärzte und Wissenschaftler aus dem Jahrtausend, in dem ich gestrandet war, versuchten mir vieles zu erklären, doch leider waren die Kapazitäten beschränkt, mit denen sie mir, dem Reisenden aus einer fernen Vergangenheit, das Geschehene darlegen konnten. Unsere Sprachen waren grundverschieden und auch ihre Auffassung der Mathematik schien mir erst unbegreiflich und so hangelten wir uns mühsam voran, sie die geduldigen Lehrer, ich das einfältige Kind, das nur langsam begriff. Unzählige Male retteten sie mir das Leben, denn mein Immunsystem war den Attacken ihrer Umwelt schutzlos ausgeliefert. Ich hatte keine Abwehrkräfte gegen die Bakterien und Viren, die sich über die Jahrtausende weiterentwickelt hatten und so verbrachte ich die ersten Wochen in einem isolierten Raum, hing an nährenden Schläuchen, atmete gereinigte Luft und lauschte den mundgerechten Vorträgen, mit denen sie meinen verwirrten Geist fütterten. Langsam sickerten ihre Lehren in meinen Verstand und ich erkannte die Misere, in der ich mich befand. Zehntausend Jahre in der Zukunft, war ich gestrandet und kein Weg führte zurück. Nicht, weil die Maschine defekt gewesen wäre. Nicht, weil ich zur Rückkehr körperlich nicht in der Lage gewesen wäre, nein, es ist schlicht unmöglich, zurück in der Zeit zu springen. Man kann nur in die eine Richtung reisen und ich verfluche den Mann, der mir die Zeitmaschine verkauft hat, der in seiner zittrigen Handschrift zur Vorsicht gemahnt, aber mir nicht mit einer Silbe, nicht mit einem Wort die Crux an dieser Höllenmaschine verraten hat. Der mich betrogen hat, indem er verschwieg, dass ich niemals zurückkehren würde, hätte ich den Weg nach Vorne einmal angetreten.
Ich tobte, ich wütete, ich schrie, ich weinte. Alles das half mir nichts. Ich musste in dieser Zukunft bleiben, die mir so völlig Fremd war. Unsere schwerfälligen Dampfroboter waren Androiden gewichen, die aussahen wie exakte Ebenbilder von Menschen und Tieren. Die nicht nur niedere Arbeiten verrichteten, sondern Bücher schrieben, Konzerte gaben und sich selbst verwirklichten wie ihre Schöpfer, die friedlich mit ihnen Koexistierten. Selbst Ehen zwischen Mensch und Maschine waren nicht ungewöhnlich und dieser Gedanke verunsicherte mich für eine Weile. Ihr harmonisches Miteinander überzeugte mich jedoch schließlich, dass sie im Grunde nichts unrechtes taten.
Doch der Friede, den sie untereinander hegten, galt nicht den Siedlern, die vor Jahrhunderten den Mond kolonisiert hatten. Eine tiefe Feindschaft war zwischen den Bewohnern der Erde und den „Mondmaden“ entflammt, so bezeichnete man die Verwandten abfällig, die den Trabant in seinem Innersten in eine urbare Landschaft verwandelt hatten und rümpfte dabei die Nase, als ginge von dort oben ein sonderbarer Gestank aus. Ich lernte sie nie persönlich kennen, diese riesenhaften, bleichen Wesen, in die sich die Menschen in der geringen Gravitation des Mondes verwandelt hatten. Doch ich fühlte mit ihnen, denn wie ich selbst, so waren auch sie Gefangene ihrer Entscheidungen. Angepasst an die Lebensbedingungen des Mondes, war es ihnen körperlich und auch mental unmöglich, zur Erde zurückzukehren und so strebten sie die Unabhängigkeit an, die ihnen die Erde empört verweigerte.
Das Interesse an der vergangenen Kolonisationsgeschichte war dementsprechend groß. Nachdem wir eine gemeinsame Sprachgrundlage entwickelt hatten, befragten mich oft ganze Gruppen von Historikern und Politwissenschaftlern zu meinem umfangreichen Wissensschatz aus der Vergangenheit. Meine frühere Position ermöglichte mir, ihnen einen tiefen Einblick in die Fehler und Verstrickungen zu geben, die schließlich die europäischen Kolonialmächte zu Fall gebracht hatten. Sie hörten mir aufmerksam zu. Nahmen meine Berichte begierig auf, analysierten sie, verwerteten sie, nur leider lernten sie nichts daraus. Ein Krieg lag in der Luft und wie sehr sie sich auch für mein Wissen aus der Vergangenheit erwärmten, ihr Interesse an der vermeintlich glorreichen Zukunft machte sie blind für das kommende Unglück. Und so brach schließlich die Hölle über uns herein, nicht unverhofft, aber doch unerwartet plötzlich, an einem sonnigen Julitag. Die Ingenieure der Mondrebellen hatten ganze Arbeit geleistet. Ihre Bomben überlisteten die Frühwarnsysteme der Erde, unsere Abwehrraketen starteten zu spät. Immer noch gefriert mir das Blut in den Adern, wenn ich an die Minuten denke, in denen uns bewusst wurde, dass die Bomben fallen würden. Ein heller Kopf, ich gestehe, es war nicht meiner, riss mich aus dem starren Entsetzen, das sich an die Erkenntnis anschloss und schrie mich an, dass die Zeitmaschine meine einzige Rettung wäre. Man geleitete mich zur Maschine, die, grundsaniert und generalüberholt, in einer nahe gelegenen Halle wartete. Während um uns herum die Sirenen heulten, schoben mich zwei Wissenschaftler durch die Einstiegsluke, schüttelten mir unter Tränen die Hand, wünschten mir viel Glück und verschlossen die Kapsel. Ich stelle die Zeit auf ein Jahrhundert und sprang. Sprang in dem Wissen, dass die Menschen, Androiden und Tiere, die Pflanzen und selbst die Gebäude hinter mir gerade in Rauch und Flammen aufgingen. Ich kannte die mächtigen Bomben nicht, die an jenem Tag auf die Erde regneten. Doch ich sah, als ich schließlich aus dem Fenster meiner Zeitmaschine blickte, was sie angerichtet hatten. Nichts stand mehr aufrecht, nichts wuchs mehr, nicht einmal Licht fiel auf die schwarz verbrannte Erde. Verfinstert war der Himmel, immer noch, nach all den Jahren und ich weinte ob der Grausamkeit, mit der die Menschen des Mondes ihre Verwandten von der Erde hinweggefegt hatten. Von tiefer Traurigkeit erfasst, sprang ich nun vorwärts in der Zeit, immer wieder anhaltend, aus dem Fenster spähend. Voll düsterer Angst, dass sich nie wieder etwas regen würde, auf dem geschundenen Planeten. Als schließlich, vierhundert Jahre nach dem Bombardement, die Sonne zum ersten Mal durch die Wolken brach, hielt ich erneut an, um das Schauspiel zu beobachten. Ich verließ die Zeitmaschine nicht, ihre modernisierten Anzeigen warnten mich eindringlich vor der giftigen Atmosphäre und so saß ich einfach nur da und beobachtete, wie die gleißenden Sonnenstrahlen über eine öde Wüstenei strichen, die einst ein lebendiges Stadtviertel gewesen war. Vielleicht weinte ich wieder, vielleicht hatte ich keine Tränen mehr, ich Erinnere mich nicht daran. Irgendwann sprang ich wieder, wählte ein weit entferntes Ziel in der Zukunft und lehnte mich seufzend im Sessel zurück. Schloss die Augen und ließ das unangenehme Gefühl des irren Karussells über mich ergehen. Ich weiß nicht, ob ich einschlief oder die Besinnung verlor, doch als ich meine Augen wieder öffnete, bot sich mir ein phantastischer Anblick. Silbern glänzend lag die Welt vor mir. Metallisch schimmernde, in luftigen Spiralen sich windende Gebäude erhoben ihre schlanken Silhouetten endlos weit in einen strahlend blauen Himmel, der kreuz und quer zerflogen wurde von tausenden, pfeilschnellen Objekten, die wie Fische durch den Himmel schnellten. Nichts glich mehr dem Bild der wüsten Zerstörung, welches sich noch bitter in meine Netzhaut eingebrannt hatte, doch glich es auch in keinem Zug der belebten Natur, die ich in meinem tiefsten Inneren vielleicht herbeigesehnt hatte. Nur die Maschinen hatten sich von dem tödlichen Anschlag erholt und die Erde neu erobert. Ein schmales Band, das kaum sichtbar den Himmel zerteilte wies darauf hin, dass die Menschen auf dem Mond diese Auferstehung nicht überlebt hatten. Die Erde hatte keinen Trabant mehr, sondern einen blass leuchtenden Ring, der bei Tage kaum zu sehen war und ich war das einzig noch verbleibende, menschliche Wesen, das diesen Umstand zu betrauern vermochte. Ich überprüfte die Anzeigen der Zeitmaschine, die rot leuchtend auf eine toxische Umgebung verwiesen. Ich schaute hilflos aus dem Fenster, ob jemand von meinem Erscheinen Notiz genommen hätte, doch nichts regte sich in dem silbrig glänzenden Draußen. Vielleicht hatten die Maschinen kein Interesse an diesem Relikt aus der Vergangenheit, mit dem ich in ihrer Zeit gelandet war. Vielleicht waren sie auch zu sehr mit sich und dem Bau ihrer neuen Welt beschäftigt, als dass sie sich um mich gekümmert hätten. Wir kamen nie in Kontakt. Also sprang ich erneut, auf der Suche nach einer Zukunft, in der ich die Zeitmaschine vielleicht verlassen könnte. Die Jahrtausende verschwammen, die Welt der Maschinen wandelte sich in unbeschreiblicher Weise, entwickelte sich über den Planeten hinaus, sie schufen einen neuen Mond! Und als ich sie, in einer klaren Nacht, erneut besuchte, wandten sie sich endgültig den Sternen zu. Ich beobachtete, wie sich gigantische Stadtwesen, die Schwerkraft verlachend, in den Himmel erhoben. Begleitet von unzähligen, kleineren Raumschiffen, die sie in dichten Schwärmen umflogen und in den Weltraum lotsten. Tiefe Krater hinter sich lassend. Mich hinter sich lassend, der ich in meiner Zeitmaschine hockte und ihnen stumm hinterher sah. Nun wieder ganz allein auf einem öden Planeten. Und ich fühlte sie erneut, diese unglaubliche Verlassenheit, die mit gierigen Fingern nach meiner Seele griff und mich zermalmte. Eine unbeschreibliche Einsamkeit drückte mich nieder, während die funkelnden Maschinen am dunklen Firmament verschwanden und ich sprang schreiend, sprang aufheulend in eine Zukunft, die mich eigentlich nicht mehr interessierte, denn die Traurigkeit verschlang mich mit Haut und Haaren. Teilnahmslos ließ ich die Jahrtausende verstreichen, blickte mich nicht um, sah nicht nach draußen. Jahrmillionen vergingen, ohne dass ich von ihnen Notiz genommen hätte. Ich raste kopflos durch die Zeit, gab mich dem Gefühl der Leere hin. Schließlich hielt die Maschine an, ihre Anzeigen warfen mir eine unglaubliche Zahl an den Kopf. Einhundert Millionen Jahre. Und sie leuchteten rot. Toxische Lebensbedingungen. Über mir war ein Ozean entstanden. Wie er sich gebildet, wann er mich umspült hatte, ich wusste es nicht. Aber er war da, der undurchdringliche Ozean. Also sprang ich wieder und wieder nach vorn. Wartete darauf, dass sich die Wassermassen zurückzogen und es vergingen hunderttausende von Jahren, die ich in der Finsternis ausharrte, einhüllt in Sedimente, die sich Schicht um Schicht auf den Grund des Meeres legten. Mit jedem Jahrtausend sank ich tiefer in den Schlamm, immer wieder starrte ich einfach nur aus dem Fenster in die Dunkelheit. Widerstrebend machte ich mir bewusst, dass ich hier unten sterben würde. Vorräte hatte ich keine und ich begann starken Durst zu leiden. Ich stellte die Zeitmaschine also neu ein, sprang zweihundert Millionen Jahre in die Zukunft und hoffte das Beste. Aber was ist die Hoffnung, nichts weiter als ein wankelmütig Biest. Als die Maschine wieder hielt, befand ich mich immer noch im tiefsten Bauch der Erde. Zischend und spuckend stand sie still, ihre Anzeigen erloschen eine nach der anderen, der Motor gab ein gequältes Kreischen von sich und verstummte schließlich ganz, egal wie sehr ich ihn anschrie. Nun hält mich eine bleierne Ausweglosigkeit gefangen, die meine Sinne lähmt und meinen Geist mürbe macht. Ich sitze regungslos in völliger Dunkelheit und warte darauf, dass der Sauerstoff zur Neige geht, damit ich schlafen kann.

Tief, tief unten, in der absoluten Stille, liegt die Zeitmaschine. Vom schwärzesten Nichts umschlungen, von unfassbarem Druck umgeben, ruht sie in ihrem Sarkophag aus Gestein.
Und ich sitze hier, gefangen in ihr. Sterbe und frage mich, wie es so weit kam.
Wie ich hier stranden konnte.

© sybille lengauer