Archiv für Mai, 2019

Es war ein verregneter Samstagnachmittag im Juni 1993, als Professor Friedrich Bernstein den Apparat träumte. In tiefem Schlummer versunken lag er in seinem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer auf einer altgedienten Rattancouch. Eine leichte Sommerdecke umschlang den hageren Körper des Schläfers, seine schlanken Hände ruhten, locker ineinander verschränkt, auf der eingefallenen Altherrenbrust. Sein blasser Mund stand leicht geöffnet und atmete den Duft von Pfefferminzpastillen aus. Man hätte meinen können, es handele sich nur um einen einfachen Pensionist, der hier sein wohlverdientes Nachmittagsschläfchen absolvierte, doch war der Professor nicht irgendjemand. Er war der bedeutendste Träumer unserer Zeit. Während durch ein gekipptes Fenster regengekühlter Wind in die Wohnung wehte und die hellen Stimmen einer lärmenden Kinderschar von der Straße heraufdrangen, träumte er von massiven Zahnrädern und hunderten Schrauben, sah kupferrot glänzende Röhren und Ventile, die sich vor seinem inneren Auge, Stück für Stück, zu einem kunstvoll verschlungenen Ganzen zusammenfügten. Der Apparat entstand in seinem Geiste und während er ihn erdachte, lächelte der Professor zufrieden im Schlaf. Nach einer geraumen Weile tauchte er langsam aus den tiefsten Schichten seines Unterbewussten auf, hielt jedoch weiter die faltenumkränzten Augen geschlossen, um das Bild nicht zu verlieren, das in seinem Kopf Gestalt angenommen hatte. Vorsichtig tastete er mit der linken Hand über das kleine Beistelltischchen, das auf dünnen Holzbeinen neben der Couch stand. Seine suchenden Finger glitten über eine leere Kaffeetasse und mehrere Kugelschreiber hinweg, griffen kurz in den halbvollen Kristallaschenbecher, der in seiner klobigen Größe das Tischchen dominierte, überwanden eine zerknüllte Zigarettenschachtel und fanden schließlich das kleine Diktiergerät, welches immer parat lag, wenn er ein Schläfchen wagte. Ohne ein Blinzeln zu riskieren, hielt Professor Bernstein das Aufnahmegerät nah an seine Lippen und begann in rasender Geschwindigkeit aufzusagen, was er in seinem Traumbild sah.

Es war ein kühler Dienstagabend im September 1996, als Gerda Roth dem Tod begegnete. Frustriert von einem stumpfsinnigen Arbeitstag, den sie im überheizten Großraumbüro einer renommierten Versicherungsgesellschaft verlebt hatte, fuhr sie in ihrem roten Peugeot 106 Dreitürer die Landstraße entlang und führte Selbstgespräche mit dem eingebauten Radio. Ihre keck auffrisierte Dauerwelle und die knallig bunt lackierten Fingernägel konnten nicht über ihre zänkisch verkniffenen Gesichtszüge hinwegtäuschen. Gerda Roth war gerade damit beschäftigt, den Moderator einer beliebten Talk-Sendung einen arroganten Esel zu schimpfen, als ein gigantischer Tintenfisch gegen die Windschutzscheibe ihres Kleinstwagens prallte. Entsetzt trat sie die Bremse bis zum Boden durch und riss gleichzeitig das Lenkrad herum. Der rote Peugeot schleuderte quer über die dunkle Landstraße und landete mit einem dumpfen Knall im matschigen Straßengraben. Der riesige Tintenfisch, der den Wagen in seiner blinden Agonie fest umklammert hielt, kollabierte unter dem zentnerschweren Gewicht seines monströsen Leibes und erstickte zugleich in der feindlichen Umgebung, der er plötzlich ausgesetzt war. In seinem schrecklichen Todeskampf zerquetschte er die Windschutzscheibe des kleinen Peugeot und tötete Gerda Roth, die zwischen Autositz und Lenkrad eingekeilt war und von den wild peitschenden Tentakeln zermalmt wurde. Wenige Sekunden später verwandelte sich der Kadaver des Tintenfisches in dampfenden Schleim, der an der zerdrückten Karosserie des Wagens hinunterfloss und im finsteren Straßengraben versickerte.
Zur selben Zeit schritt Professor Friedrich Bernstein in einer geräumigen Werkstatt auf und ab, die er vor drei Jahren angemietet hatte. Er betrachtete kopfschüttelnd den fertiggestellten Apparat, der auf einem stabilen Eisengestell mit vier massiven Rädern ruhte. Dutzende Zahnräder ratterten munter im Inneren der würfelförmigen Maschine, heißer Dampf brodelte durch gewundene Röhren und entwich in zischenden Fontänen. Ein dickes Kabelgeflecht stellte eine Verbindung mit einem enormen Glastank her, der zu zwei Dritteln mit milchig trübem Salzwasser gefüllt war. An einem rechteckigen Schaltpult blinkten grüne und orange Lämpchen fleißig um die Wette, während ein kleiner Bildschirm Ausschnitte eines fernen Korallenriffs zeigte. Alles erregte den Anschein betriebsamer Ordnung, doch der Professor seufzte nur deprimiert. Er musterte die verzerrte Reflektion seines demoralisierten Spiegelbildes in der dicken Tankglasscheibe, dann sog er scharf die Luft durch seine Nasenflügel ein, wandte sich entschlossen dem Schaltpult zu und legte energisch einen Heben um. Nach und nach verstummte das Rattern und Zischen im Bauch des Apparates. Die Lämpchen auf den Bedienfeldern erloschen und es wurde merklich dunkler in der Werkstatt, nur das Wasser im großen Glastank tauchte die Szenerie in fahl schimmerndes Licht.
Friedrich Bernstein nickte seinem jungen Assistent zu, der in diesem Augenblick bei der Tür hereinkam und mit großer Konzentration einen Teller mit, liebevoll garnierten, Schinken-Käse-Sandwiches vor sich hertrug. „Es funktioniert nicht, Roger.“ konstatierte der Professor niedergeschlagen und schlug mit der flachen Hand auf das glattpolierte Holz des Schaltpultes. Sein Blick glitt über den flimmernden Monitor, der immer noch Ausschnitte eines fernen Meeresbodens zeigte. Ein Ichthyosaurier schoss pfeilschnell durch das Bild, doch der Professor achtete nicht darauf. Roger Bloch stellte den Teller auf einer Werkbank ab, die mit Papieren und Notizblöcken überfüllt war und blickte mit gerunzelter Stirn zum Apparat. „Es könnte an der Unschärfe liegen.“ dachte Professor Bernstein laut nach und kratzte sich ratlos an der kahlen Schläfe. „Vielleicht sollten wir noch einmal ein unbelebtes Objekt testen?“ schlug Roger Bloch vor und rückte geschäftig seine ovale Nickelbrille zurecht. Der Professor maß den jungen Mann mit einem verächtlichen Seitenblick. „Was soll das nützen?“ fragte er in gereiztem Ton. „Wir transportieren seit acht Monaten Steine durch die Zeit. Das bringt uns nicht weiter.“ Der junge Assistent begann unter dem bohrenden Blick des Professors zu schwitzen. „Vielleicht haben wir die Zeit-Ort-Verschiebung falsch kalkuliert?“ stotterte er und sah dabei betreten zu Boden. „Die Chance besteht. Rechnen wir es noch einmal durch.“ Friedrich Bernstein trat an die überfüllte Werkbank und winkte Roger Bloch ungeduldig an seine Seite. Gemeinsam arbeiteten sie sich durch lange Zahlenkolonnen, füllten karierte Notizblöcke mit komplizierten Formeln und Berechnungen. Bevor sie schließlich einen neuerlichen Versuch wagten, griff Roger Bloch zu den Schinken-Käse-Sandwiches, die er für den Professor mitgebracht hatte und verschlang sie mitsamt der Petersiliengarnierung.
Kurze Zeit später hauchte der sechzehn Jahre alte Bäckerlehrling Johann DeMondelle sein Leben aus, als er, zwei Stunden nach Mitternacht, von einem riesigen Ammonit erschlagen wurde. Der Parapuzosia seppenradensis fiel buchstäblich aus heiterem Himmel und begrub den ahnungslosen Jugendlichen donnernd unter sich, der, nur wenige Schritte von seinem Elternhaus entfernt, sein brandneues Hercules Prima Mofa besteigen wollte, um zur Bäckerei zu fahren. Es blieb nicht viel übrig, vom armen Johann DeMondelle, denn der tonnenschwere Kopffüßer zermalmte ihn bis zur Unkenntlichkeit und hinterließ einen tiefen Krater im Asphalt. Als der Ammonit sich wenige Sekunden später in dampfenden Schleim auflöste, blieb nur der zerdrückte Leichnam des unglücklichen Bäckerlehrlings zurück. Das Hercules Prima stand, von der Katastrophe völlig unbeschadet, neben dem tiefen Krater. Der mysteriöse Todesfall erregte überregionale Aufmerksamkeit und wurde in den Medien ausgiebig diskutiert, doch weder Professor Bernstein, noch sein Assistent Roger Bloch, nahmen von dem Ereignis Kenntnis. Frustriert vom neuerlichen Misserfolg, zerlegte der Professor den Apparat, um Teile der Transportvorrichtung zu verbessern, während sich Roger Bloch in die Berechnungen vertiefte, die ein Navigieren durch die Zeit ermöglichten.

Es war ein windiger Mittwochmorgen im Dezember 1996, als Professor Bernsteins Kreation endlich den erträumten Erfolg erzielte. Der alte Mann hatte unermüdlich an der Vollendung des Apparats gearbeitet und mithilfe seines Assistenten sämtliche Berechnungen bis auf das letzte Komma überprüft. Für einen ersten Versuch hatte der Professor eine Zeitlinie im frühen Kambrium ausgewählt, die er für vielversprechend hielt. Nun stand er neben Roger Bloch in der hell erleuchteten Werkstatt und nickte anerkennend. Zufrieden beobachteten die beiden einen großen Anomalocaris, der im trüben Wasser des Tanks schwamm und immer wieder gegen die durchsichtigen Glaswände stieß. „Wir haben es geschafft.“ flüsterte Roger Bloch fassungslos, während der Professor selbstgefällig lächelte. „Haben Sie je daran gezweifelt, mein Sohn?“ fragte er in jovialem Ton. „Natürlich nicht, Professor.“ Roger Bloch beeilte sich, das Lächeln zu erwidern. „Nun holen Sie schon das Videogerät.“ Professor Bernstein wedelte fahrig mit einer Hand durch die Luft. Roger Bloch verließ im Laufschritt die Werkstatt und kehrte, fast Augenblicklich, mit einem modernen Camcorder zurück. Seine Hände zitterten stark, als er das schlanke Gerät aktivierte und auf den riesigen Glastank richtete. „Wir schreiben den vierten Dezember 1996. Es ist, ähm…wie spät ist es?“ „Fünf Uhr Dreiunddreißig.“ „Es ist Fünf Uhr Dreiunddreißig und wir haben endlich…, wir können vermelden, dass… ähm.“ „So wird das nichts, Roger. Richten Sie die Kamera auf mich.“ Professor Bernstein postierte sich breitbeinig und mit grimmigem Gesichtsausdruck vor den dicken Kabeln, die den Apparat mit dem Glastank verbanden. In seinem Rücken stieß der Anomalocaris dumpf gegen die massive Glasscheibe. „Meine sehr verehrten Damen und Herren, geneigtes Fachpublikum. Es ist mir eine große Freude, Ihnen heute vom erfolgreichen Test meines fantastischen Zeit-Materie-Transporters zu berichten.“ Mit einer theatralischen Handbewegung wies er auf den zischenden Apparat. „Filmen Sie jetzt den Apparat, Roger. Gut. Ausgezeichnet. Und jetzt wieder mich.“ Der Professor hüstelte geziert und wandte sich der Linse des Camcorders zu. „Bestaunen Sie nun eine urtümliche Kreatur, die eben noch durch die warmen Wasser des Japetus-Ozeans pirschte und jetzt hier, in unserer Zukunft…“ „Professor!“ Irritiert durch Roger Blochs Zwischenruf unterbrach Professor Bernstein seine dramatische Rede. Er wandte sich nach dem Glastank um und fluchte. „Es hat sich plötzlich aufgelöst,“ hauchte sein Assistent, „da ist überall Schleim!“ „Stellen Sie das Videogerät ab.“ murmelte Professor Bernstein.

Es war ein verschneiter Freitagnachmittag im Januar 1997, als Professor Bernstein den Apparat erneut testete. Er tat dies alleine und ohne fremde Hilfe, da er die Erniedrigung nicht ertragen wollte, die er jedes Mal empfand, wenn er die ratlosen Blicke seines Assistenten auf sich ruhen fühlte. Anstelle des jungen Gehilfen leistete ihm nun süßer Portwein Gesellschaft. Friedrich Bernstein stand in Jogginghose und Unterhemd vor dem holzvertäfelten Schaltpult und legte mit steinerner Miene jenen Hebel um, der seinen fantastischen Apparat zum Leben erweckte. Summend und ratternd erwachte die Maschine zum Leben, der kleine Bildschirm, der in das Schaltpult eingelassen war, flackerte und zeigte eine Unterwasserlandschaft, durch die gewaltige Schwärme von Quallen trieben. Professor Bernstein suchte mit einem einfachen Zielsystem nach einer passenden Lebensform und schoss einen Transportstrahl durch die Zeit. Ein helles Gleißen flutete durch die Werkstatt, doch der Professor kannte den Effekt und wandte vorbeugend den Blick ab. Als sich das Licht wieder auf ein normales Maß reduziert hatte, schwamm eine riesige, fluoreszierende Qualle im milchigen Wasser des Glastanks. Friedrich Bernstein erlaubte sich ein kurzes, erleichtertes Seufzen, dann kniff er skeptisch die Augen zusammen. Er trank einen großen Schluck Portwein und überprüfte einige Anzeigen auf dem Schaltpult, als plötzlich Bilder und Emotionen sein Gehirn mit großer Heftigkeit überfluteten. Er spürte die unbeschreibliche Verbundenheit einer winzigen Lebensform mit der unermesslichen Weite des riesigen Ozeans. Fühlte sich im nächsten Moment sicher an einem rauen Felsen verankert, der im warmen Meereswasser einer kleinen Lagune lag. Bunt schillernde Fische schwammen pfeilschnell umher und mit einem Mal fing er einen dieser zappelnden Leckerbissen mit langen Tentakeln und führte die gelähmte Beute genüsslich zu seinem Mund. Er spürte einen Schauder der Zufriedenheit, dann brachen plötzlich Gefühle von Angst und Zorn über ihn herein. „Hilfe!“ schrie Professor Bernstein. Er taumelte rückwärts und schlug sich die Hände vors Gesicht. Doch die Bilder und Empfindungen hörten nicht auf, er sah trübes Wasser, die verzerrten Konturen der Werkstatt und sich selbst, wie er zusammengekrümmt an einer Wand hinter dem Schaltpult lehnte. Er spürte Verwirrung und großen Zorn, zugleich Entsetzen und eine unbändige Angst, wusste nicht, wer er war oder wo er sich befand, kannte nicht einmal mehr die Anzahl seiner Gliedmaßen. Er wollte wieder um Hilfe rufen, konnte aber nicht die beiden Münder in Einklang bringen, die er zugleich empfand. Ein Gefühl großer Hilflosigkeit wanderte zwischen dem Professor und der riesigen Qualle hin und her, dann schoss rasender Schmerz durch Friedrich Bernsteins Körper, als sich die majestätische Meduse langsam zu zersetzen begann. Wie die Lebensformen, die vor ihr durch die Zeit transportiert worden waren, löste auch sie sich unerbittlich auf, doch die verbesserten Formeln des Professors verzögerten den grausamen Prozess. Das wehrlose Tier wand sich verzweifelt hinter der dicken Glasscheibe, während sich sein Körper langsam zersetzte und Friedrich Bernstein fühlte jede Sekunde seines großen Schmerzes. Erst als sich der Schirm der Qualle restlos in Schleim aufgelöst hatte, brach die Verbindung zwischen ihnen ab und Professor Bernstein verlor das Bewusstsein.

Es war ein eiskalter Samstagmorgen im Januar 1997, als Professor Friedrich Bernstein den Apparat demontierte. Schluchzend kniete er auf dem kalten Werkstattboden und löste Schraube um Schraube aus den Eingeweiden der Maschine. Eine leere Flasche Portwein ragte aus dem Wirrwarr von Röhren und Zahnrädern hervor, das den Professor umgab und auf dem stillgelegten Schaltpult stand eine weitere, halbleere Flasche neben einem umgekippten Glas. Stück für Stück nahm der Professor seinen Zeit-Materie-Transporter auseinander, trennte Kabel, kappte Verbindungen, löste Gewinde. Er hielt erst inne, als er die Maschine vollständig auseinandergenommen hatte. Dann stand er ächzend auf und ließ das dunkelbraun verfärbte Wasser aus dem Glastank in die Kanalisation ablaufen. Er trank noch mehr Portwein, trank direkt aus der Flasche und lauschte mit gesenktem Haupt dem Rauschen des abfließenden Wassers, dachte an das unendlich weit entfernte Meer, das seit Millionen von Jahren nicht mehr existierte, dachte an die tiefe Verbundenheit, die er für kurze Zeit empfunden hatte und das Gefühl des schwerelosen Dahintreibens. Die Minuten verstrichen, der Professor stand mit geschlossen Augen da und fühlte der Wehmut in seinem Herzen nach. Er stellte sich vor, wie er die Werkstatt abschloss, sich in seinen Volvo S40 setzte und bis an die Nordsee fuhr. Er träumte sich an den Stand und während über seinem Kopf die Möwen kreischten, watete er in die sturmumtosten Wellen des Meeres, kehrte zurück in die vertraute Geborgenheit seiner archaischen Heimat. Professor Bernstein trennte sich nur schwer von diesem melancholischen Gedanken. Er öffnete widerstrebend die Augen und starrte niedergeschlagen auf den leeren Glastank. „Es tut mir so leid.“ flüsterte er. Betrübt löschte er beim Verlassen der Werkstatt alle Lichter, ohne sich noch einmal umzusehen. Er schloss sorgfältig hinter sich ab und fuhr in seinem Volvo S40 nach Hause, um nie wieder zu träumen.

© sybille lengauer

Der alte Mann und die drei Jungen

Veröffentlicht: Mai 21, 2019 in Gedichte
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Er stakt wie ein blassgrauer Reiher,
Durch den Park im Stadtregenschleier,
Fischt nach Flaschen und Dosen mit verhärmtem Gesicht,
Regen mag er nicht.

Sie lümmeln dreist wie fette Hyänen,
Die sich als Herren der Parklandschaft wähnen,
Auf dem Spielplatz und halten dort hohes Gericht,
Penner mögen sie nicht.

Er schleicht wie ein fußkranker Gaul,
Blickt den Mülltonnen tief ins geöffnete Maul,
Seine Augen starren glanzlos aus dem zerfurchten Gesicht,
Rente kennt er nicht.

Sie grölen schrill wie rollige Kater,
Veranstalten hochmutbesoffen ihr Schmierentheater,
Du ahnst es schon, dies ist ein Kummergedicht:
Mitleid kennen sie nicht.

Er schwankt wie ein trunkener Bär,
Über die Wege und grünenden Wiesen einher,
Zieht die verwaschene Kappe beschämt ins Gesicht,
Hoffnung hat er nicht.

Sie lachen hämisch wie zynische Schweine,
Werfen ihm Flaschen zwischen die Beine,
Johlen lustvoll, wenn eine zerbricht,
Anstand haben sie nicht.

© sybille lengauer

In der Nacht als Herr Leon Breitenegger verstarb schien kein außergewöhnlicher Mond vom sternklaren Himmel, um sein Dahinscheiden zu illuminieren. Es fuhr kein kalter Windhauch über die Felder, um seinen erlöschenden Namen zu flüstern und es schrie auch kein einsamer Vogel Trauerklagen aus dem alten Birnbaum im Garten, um seine Seele auf ihrem langen Weg zu geleiten. Nur ein profaner Dreiviertelmond schimmerte träge aus dem wolkenverhangen Himmel. Ein steter Ostwind trug feinen Sprühregen über die Felder und nicht einmal die Ringeltauben, die in dem alten Birnbaum nisteten, wussten von Herrn Breiteneggers versterben. Klammheimlich hatte sich seine Seele davongestohlen, war von der alten Siebziger-Jahre-Couch aufgestanden und hatte den Körper nicht mitgenommen. Besagter Körper saß zusammengesunken vor dem plappernden Fernsehapparat, der Kopf war auf das breite Doppelkinn gesunken, die Arme ruhten schlaff auf dem ausladenden Bauch. Man hätte meinen können er hielte nur ein Schläfchen, doch es war niemand zugegen, um dergestalt über ihn nachzudenken. Der verwitwete Frührentner lebte allein.
Herrn Breiteneggers Seele spazierte durch den menschenleeren Ortskern des Dorfes und bewunderte eine stattliche Blutbuche, die, von einer einsamen Straßenlaterne beschienen, den kleinen Marktplatz dominierte. Stolze Äste reckten sich in den dunklen Nachthimmel, purpurrote Blätter rauschten mächtig wie die schäumende See. Leon Breiteneggers Seele überlegte, dass sie schon lange nicht mehr am Meer gewesen war. Fünfzehn Jahre, um genau zu sein. Wehmütig lauschte sie der Blätterbrandung, träumte sich an die Küste. Hörte im Himmel die Möwen kreischen. Roch den frischen Duft der Brise. Spürte den salzigen Atem des Meeres. Herrn Breiteneggers Seele verlor sich im Zauber des Moments. Eine Stunde verstrich und sie stand immer noch unter dem hoch aufragenden Baum und träumte. Zuhause im überheizten Wohnzimmer stand Herrn Breiteneggers toter Körper mechanisch von der Couch auf, stellte den Fernseher ab und schlurfte ins Bett.
Niemand bemerkte den Unterschied, als jener tote Körper am nächsten Morgen beim Bäcker erschien und, wie gewöhnlich an einem Samstag, ein Buttercroissant und ein Franzbrötchen kaufte. Und wer hätte schon darauf achten sollen, ob jener Mann, der höflich in der Warteschlange vor dem Tresen stand und freundlich grüßte, atmete und einen Puls besaß? Der Bäckereifachverkäuferin fiel nichts ungewöhnliches auf. Auch der Postbote, der wenige Stunden später vor Herrn Breiteneggers Türschwelle stand, erkannte in dem unbelebten Leib nur einen weiteren Kunden, der ein Paket entgegennahm. Selbst Herr Breitenegger stellte kaum eine Veränderung fest, er fühlte sich ein wenig unwohl, führte dies aber auf ein üppiges Stück Schwarzwälder Kirschtorte mit Sahne zurück. Nur der alte Dackel der betagten Frau Schürmann erkannte den wandelnden Toten und knurrte böse hinter dem niedrigen Gartenzaun, als Herr Breitenegger am frühen Abend vorbeiging. Wütend kläffte der grauschnäuzige Dachshund am Maschendrahtzaun entlang und Frau Schürmann öffnete das Küchenfenster, um ihn zur Raison zu rufen. Herr Breitenegger hob die Hand zu einem freundlichen Gruß und die alte Dame winkte arthritisch zurück. Der Dackel überschlug sich in rasendem Zorn. Herr Breitenegger schüttelte kurz den Kopf über das despektierliche Verhalten des Hundes und spazierte weiter seines Weges. Er passierte den Marktplatz, ging unter der Blutbuche her, ohne dem Baum Beachtung zu schenken und bog in eine kleine Seitengasse ein, die, an der Kirche vorbei, zum Gemeindehaus führte. Der örtliche Singverein traf sich einmal in der Woche zur Probe und Herr Breitenegger verpasste nie einen Termin. Seine Seele saß indessen auf einer Kuhwiese, keine fünfhundert Meter entfernt und sah einer Butterblume dabei zu, wie sie ihre gelbglänzenden Kronblätter zum Abend hin verschloss. Die Seele hatte die Blume seit der Morgendämmerung beobachtet. Hatte gebannt verfolgt, wie sich die Blüte bei Sonnenaufgang öffnete und ihre zarten Staubblätter dem Licht darbot. Zeit besaß keine konkrete Bedeutung für Herrn Breiteneggers Seele und so hatte sie den ganzen Tag auf dieser Kuhweide verbracht, versunken in die Betrachtung der Butterblume, die bienenumschwärmt dem Sonnenverlauf folgte. Nichts fehlte ihr zu ihrem stillen Glück. Der verstorbene Herr Breitenegger ging nach der Gesangsprobe beschwingt zurück nach Hause, das leichte Unwohlsein war vergessen. Der Ehrentag eines befreundeten Vereinskollegen hatte Brombeerlikör und Maikäfer Flugbenzin an die Gestade seiner Leber gespült und obwohl sein Herz nicht mehr schlug und das Blut in seinen Adern bereits gerann, vermochte es der Alkohol, sein untotes Gehirn zu entrücken. Am Gartenzaun von Frau Schürmann erwartete der Dackel geduldig seine Wiederkehr. Die alte Dame pflegte das Tier auch in der Nacht im Garten zu belassen, um sich vor Räubern und Diebesgesindel zu schützen, deren lauernde Anwesenheit sie hinter jedem Strauch vermutete. Mit gesträubtem Fell stand der kleine Hund im üppigen Lavendelbeet und starrte der herannahenden Hülle entgegen. Ein leises, tiefes Knurren drang aus seiner Kehle, er hatte sich mit durchgedrücktem Rücken und steifen Krummbeinen hinter dem Zaun postiert und zitterte vor Zorn. Für den toten Herrn Breitenegger sah er verlockend appetitlich aus. Der angetrunkene Tote verharrte schwankend vor dem Zaun und lauschte dem Knurren des Hundes, in das sich das fordernde Rumoren seines Magens mischte. Ohne sich der Absurdität seiner Tat bewusst zu werden, langte er über den niedrigen Zaun, fasste das entsetzte Tier im Nacken und brach ihm das Genick. Niemand beobachtete die schreckliche Tat, niemand hätte geglaubt, wenn man davon erzählt hätte, denn Herr Breitenegger war ein angesehener Bürger des beschaulichen Dorfes. Doch zur Beschaulichkeit zählte auch, die Vorhänge zur Nacht geschlossen zu halten und so blieb der Mord an dem kleinen Dackel unbeobachtet. Sein Kadaver wurde nie aufgefunden, da er mit Haut und Haaren von dem gierigen Leichnam verschlungen worden war. Der alten Frau Schürmann brach das Verschwinden ihres Hundes das Herz, sie rief und suchte am nächsten Morgen verzweifelt nach ihm, klopfte bei Nachbarn, befragte Passanten. Als sie am frühen Nachmittag an die Tür des hungrigen Herrn Breiteneggers klopfte und arglos in seinen unaufgeräumten Hausflur trat, fraß er auch sie.
Seine Seele hatte die Nacht in einem Nahe gelegenen Schafstall verbracht. Der Geruch von sonnengetrocknetem Stroh und würzigem Heu hatte sie in die Scheune eines Bauernhofes gelockt, wo sie Stunden im Duft der Halme badete. Das beruhigende Blöken der Schafe führte sie schließlich in den angrenzenden Schafstall. Die sensiblen Tiere reagierten Neugierig auf ihr erscheinen, verstanden nach einer kurzen Schnupperprobe die friedliche Heiterkeit ihrer Gesinnung. Geborgen in der angenehmen Wärme des Stalles, eingebettet in die entspannende Geräuschkulisse der wiederkäuenden Schafe, ruhte sich die Seele von den Eindrücken auf der Kuhwiese aus. Am frühen Morgen schenkte sie einem Spatzenkind ein zweites Leben, das aus seinem runden Nest gefallen war. Der kleine Vogel war noch nicht zum Ästling herangereift und lag schutzlos zwischen den umherwandernden Schafen im Stroh. Herrn Breiteneggers Seele mochte seinen Tod nicht mitansehen und so hob sie ihn vorsichtig vom Boden auf und verbrachte ihn zurück zu seinen Geschwistern, in das weich gepolstertes Nest unter dem Fenster. Der kleine Vogel wunderte sich nicht darüber, dass er von unsichtbaren Händen ergriffen und durch die Luft getragen wurde. Nur ein vorwitziges Märzlamm warf ihm einen skeptischen Blick aus horizontalen Augenschlitzen hinterher. Herrn Breiteneggers Seele wartete auf die Rückkehr der Spatzeneltern, beobachtete zufrieden, wie die Küken mit Insekten und Raupen gestopft wurden. Die Seele versank in sentimentalen Gedanken über den immerwährenden Kreislauf des Lebens und wäre noch viele Stunden geblieben, hätte sie nicht die Ankunft der verschlafenen Bäuerin gestört, die zur morgendlichen Fütterung den Stall betrat. Leon Breiteneggers Seele beschloss den Stall zu verlassen und sich erneut mit der Butterblume auf der Kuhwiese auseinanderzusetzen. Sie wurde jedoch vom Ruf eines Kuckucks abgelenkt und wanderte stattdessen zum Rand eines kleinen Schwarzerlenwäldchens, das am Überlaufweiher des Dorfes wuchs. Gebannt lauschte sie dem unscheinbaren Vogel, der in einer abgestorbenen Eiche saß und nach einem Weibchen rief. Die Stunden vergingen, der Kuckuck war lange fortgeflogen, doch die Seele verblieb am idyllischen Weiher. Während die Sonne immer höher stieg, beobachtete sie fasziniert die akrobatischen Flugkünste der Uferschwalben, die über dem Wasser nach Insekten jagten. Sie begleitete eine Schnatterente auf ihrer Futtersuche, saß lange unter einem blühenden Ilex, der inmitten der Schwarzerlen wucherte und hörte den unzähligen Bienen und Hummeln zu, die von seiner duftenden Blütenpracht angezogen wurden. Als sich Leon Breiteneggers Seele nach einem erfüllten Tag am schilfüberwucherten Ufer des Weihers schlafen legte, hatte ihr ruheloser Körper bereits eine weitere Nachbarin verschlungen, die auf der Suche nach Frau Schürmann an der falschen Haustüre geklopft hatte.
Das Verschwinden von Amalia Schürmann war oberstes Gesprächsthema, wenn man an diesem Tag im Dorf aufeinandertraf. Man wurde nicht müde, nach wenigen Sätzen der Anteilnahme und Fassungslosigkeit zu versichern, dass es sich bei dem Verbrecher nur um einen Auswärtigen, einen Zugewanderten und Eingereisten handeln könne. In kleine Grüppchen standen die Leute beieinander und tauschten Gerüchte aus. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass auch die gute Mutter Bergheim abhanden gekommen war. An diesem Abend wurden Türen und Fenster fest verschlossen, die Jalousien knallend heruntergelassen und Hunde schliefen im Haus. Trotz alledem gelang es dem toten Herrn Breitenegger, in der Nacht einen Jugendlichen zu ermorden, der unbedarft mit dem Fahrrad über die dunkle Landstraße nach Hause fuhr. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Untote bereits aufgegeben, sich vor sich selbst für seinen unstillbaren Hunger zu rechtfertigen. Nach dem Mord an Frau Schürmann und der mühevollen Beseitigung all der unschönen Details, war er unschlüssig im Wohnzimmer auf und ab gestapft, hatte den Fernsehapparat an und wieder abgeschaltet und verworrene Selbstgespräche geführt. Als dann die besorgte Mutter Bergheim um Einlass bat, um sich nach Amalie Schürmann zu erkundigen, beherrschte er seinen bestialischen Blutdurst und führte sie in die unaufgeräumte Küche, die im hinteren Teil des Hauses lag. Die Nachbarin lehnte den angebotenen Kaffee dankend ab und fragte höflich, wann Herr Breitenegger zuletzt Frau Schürmann gesehen habe, die auf der Suche nach ihrem senilen Dackel verschollen sei. Lautes Magenknurren beantwortete ihre Frage und ehe sie es sich versah, schlug Herr Breitenegger gelbe Zähne in ihren fleischigen Hals. Kurz war der Kampf, in einer hellen Fontäne schoss das Blut und Herr Breitenegger gönnte sich eine zweite Tasse Kaffee zu den dampfenden Eingeweiden der ehrenwerten Mutter Bergheim, die er genüsslich verschlang. Doch je mehr er fraß, desto hungriger schien er zu werden, es war, als hätte sich in seinem Magen ein Loch aufgetan, das er nicht füllen konnte. Sein Bauch war aufgequollen und dick, sein Darm hatte die Tätigkeit eingestellt und so füllte sich jeder Zentimeter in seinem Körper mit den Leichenteilen, die er verschlang.
Es dauerte lange, die Spuren der schändlichen Mordtat zu beseitigen. Zu groß war das angerichtete Gemetzel, zu ungelenk der vollgestopfte Herr Breitenegger, der bei jeder Bewegung einen immensen Druck in sich spannen fühlte. Den Putzlappen von sich werfend, rannte er auf die Toilette und erbrach nach und nach Mutter Bergheim, Amalie Schürmann und den armen Dackel in die weiße Keramikschüssel. Kaum war der widerwärtige Prozess überstanden, knurrte sein Magen wieder fordernd. Und so kam es, dass in der Nacht jener junge Mann auf der Landstraße sein Leben lassen musste, um die unstillbare Fressgier des Verstorbenen zu besänftigen.
Kalter Bodennebel umschmeichelte die Landschaft, als seine Seele am nächsten Morgen am Ufer des Weihers erwachte und verzückt dem frühen Lied einer Mönchsgrasmücke lauschte. Mit einem Gefühl großer Demut beobachtete sie das aufsteigende Sonnenlicht, das langsam den feinen Nebel auflöste, der über Wald und Wiesen lag und in hunderten Facetten durch das Schilf schimmerte. Leon Breiteneggers Seele ließ sich in das kühle Wasser des Weihers gleiten und erlaubte sich, in seinen sanften Wellen den Zusammenhalt zu verlieren. Ihr Leichnam hatte die Stunden nach dem letzten, heimtückischen Mord mit schweren Gewissenskonflikten verbracht. Blutüberströmt war er zurück in sein Haus geschlichen. Wieder musste er sich erbrechen, um den abscheulichen Fraß der Nacht loszuwerden. Wieder knurrte sein Magen fordernd, obwohl seine Eingeweide bereits begannen, sich zu zersetzen. Blass war er, der wandelnde Tote, dunkle Venen schimmerten unter seiner Haut und die Augen starrten milchig trübe. Der Körper verfiel und trotzdem war es ihm nicht möglich, sich zur Ruhe zu legen. Nervös wanderte er durch das einsame Haus, beseitigte im einen Moment dunkle Blutflecken von den Küchenmöbeln, reinigte im nächsten das verdreckte Badezimmer und schrubbte nacheinander die Böden in allen Räumen. Er hielt erst inne, als sich die Haut von seinen Fingern zu lösen begann. Dann versuchte er zu weinen, saß auf dem feuchten Linoleumboden und strengte sich an, aber es wollte nur Hunger aus ihm heraus, für mehr war in seinem verrottenden Inneren kein Platz. Also machte er sich wieder auf, wanderte rastlos durch die Zimmer. Überlegte, ob und wie er seinen unerträglichen Appetit befriedigen könnte. Zwei Polizisten, die ihn am Vormittag zu den Vorkommnissen im Dorf befragen wollten, erleichterten den Entscheidungsprozess. Unter dem Vorwand einer schweren Krankheit, die man aufgrund seines schrecklichen Erscheinungsbildes getrost glaubte, lotste er die Beamten ins Wohnzimmer, wo er sich nach einem kurzen, gewalttätigen Kampf an ihren Organen labte. Er verschlang ihre saftigen Innereien so gierig, dass er selbst Teile der Polizeiuniformen fraß und erbrach dann direkt an Ort und Stelle. Angewidert von sich selbst wankte der tote Leon Breitenegger aus dem Schlachthaus, in das er sein Wohnzimmer verwandelt hatte. Er zog sich aus, schlurfte unter die Dusche und ließ heißes Wasser über seinen verwesenden Körper laufen, ohne es zu fühlen. Frustriert schlug er eine gemusterte Fliese entzwei, dann erbrach er dicke Fleischbrocken in die Duschwanne. Bleich und aufgedunsen stand er unter den heißen Wasserstrahlen und brüllte seinen Zorn durch das leere Haus. Ohne sich um ein Handtuch zu kümmern, verließ der das dampfgeschwängerte Badezimmer, stampfte nackt durch den Flur und riss die Haustür auf. Herr Breitenegger war bereit sich den Behörden zu stellen, um seinen Qualen ein Ende zu bereiten, doch er kam nicht weit. Schon nach wenigen Metern zog ihn der Gesang einer jungen Hausfrau magisch an, die bei geöffnetem Fenster in ihrer Küche stand und Apfelmus kochte. In wenigen Augenblicken war der gefräßige Tote in die Küche eingedrungen und über sie hergefallen. Ihre panischen Schmerzensschreie riefen einen Passanten von der Straße herbei, der noch ratlos im Vorgarten stand und zögerlich überlegte die Polizei zu verständigen, als ein nackter, blutverschmierter Wahnsinniger seinen Überlegungen ein jähes Ende bereitete. Viel zu spät erkannte Leon Breitenegger in dem zerfetzten Passanten seinen Jugendfreund Wilhelm, dem er in enger Zuneigung verbunden war. Doch es blieb ihm keine Zeit den ungeheuerlichen Verlust zu betrauern, denn schon riss ihn der gellende Schrei einer Fußgängerin aus der Erstarrung. Die Frau wies mit zitternder Hand auf das grausame Blutbad, das sich ihren weit aufgerissenen Augen in dem akkurat gepflegten Vorgarten darbot und brüllte ihr Entsetzen in die Welt hinaus. Nicht lange, denn der geifernde Untote hatte sie in wenigen Sekunden erreicht und ihre Kehle zerrissen. Nun strömten aus dem ganzen Dorf Menschen herbei um zu helfen, zu gaffen oder zumindest dabei zu sein. Wobei, das wussten sie nicht, aber sie fanden es schneller heraus als ihnen lieb war, denn Herr Breitenegger richtete unter ihnen ein schreckliches Gemetzel an. Menschen flohen kreischend, Kinder weinten, Väter flehten, ihm war es egal. Bis zum bersten angefüllt mit Menschenfleisch und doch rasend vor Hunger schob er mordend dem Marktplatz entgegen. Ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene bremste mit quietschenden Reifen, stellte sich quer über die Hauptstraße und spie zwei uniformierte Beamte aus, die sich ihm tapfer in den Weg stellten. Sie wurden gnadenlos von der heranwalzenden Bestie verschlungen.
Im stillen Überlaufweiher regten sich gemächliche Gedanken, flüsterten im tiefen Schlick des seichten Gewässers, erzählten den mächtigen Welsen, die den Untergrund durchpflügten, vom alten Birnbaum im Garten und von Herrn Breiteneggers gemütlichem Zuhause. Langsam fügte sich seine Seele am Grund des Weihers wieder zusammen, fand sich in den Wurzeln der Schilfpflanzen, regte sich unter Kieselsteinen und versunkenen Baumstämmen. Schließlich stieg sie ans Ufer und wandte sich mit einem leisen Seufzen dem Dorfe zu. Herrn Breiteneggers Seele ging nach Hause.
Auf dem Marktplatz war ihr Körper von mehreren Polizeiwagen umzingelt. Die herbeigerufenen Polizisten hatte sich hinter ihren Einsatzfahrzeugen verschanzt und schossen verzweifelt in die gewaltige Brust des deformierten Ungetümes, das brüllend über das Kopfsteinpflaster taumelte und nicht sterben mochte. Von unzähligen Schüssen in den Wanst getroffen, stand der Untote zwischen den Wagen, schwankte vor und zurück und brüllte zornig. Leon Breiteneggers Körper fraß die Kugeln, wie er selbst die Menschen. Kein Treffer vermochte es, ihn zu Fall zu bringen. Wutschäumend wandte er sich den Polizisten zu, brüllte wie ein verwundetes Tier und fletschte die Zähne. Verstört beobachtete seine Seele, wie er erst eine junge Polizistin und kurz darauf deren ältere Kollegen zerfleischte. Herrn Breiteneggers Seele war nicht nach Hause gegangen, sie hatte sich von den entsetzten Hilfeschreien ins Dorf leiten lassen und was sie dort mitansehen musste, machte sie Fassungslos. Schreckensstarr sah sie ihrem Körper dabei zu, wie er sich durch die Polizisten metzelte. Als der sich erneut einer Gruppe zuwandte und unaufhaltsam in ihre Richtung walzte, stürzte sie mit einem gramerfüllten Aufschrei auf ihn zu. Leon Breiteneggers Seele versuchte zurück in ihren toten Körper zu gelangen, um ihm Einhalt zu gebieten. Aber es wollte ihr nicht gelingen, sie prallte nutzlos an seinem aufgequollenen Leib ab und stürzte auf das harte Kopfsteinpflaster. Der Untote schüttelte sich kurz und setzte dann unerbittlich seinen Weg fort. Schüsse peitschten durch die Luft, Menschen schrien um Hilfe, die Seele lag auf dem Boden und heulte. In ihrem Entsetzen wandte sie sich einem jungen Beamten zu, der mit aschfahlem Gesicht hinter einer steinernen Parkbank kauerte und drang rücksichtslos in seinen Körper ein. Die überrumpelte Seele des Polizisten floh widerstandslos aus seinem zuckenden Körper, Leon Breitenegger übernahm augenblicklich die Führung. Vorsichtig kroch der junge Polizist hinter der Parkbank hervor und zog seine Pistole. Er verursachte kaum einen Laut, schlich sich langsam im Rücken des Ungetümes heran, das würgend und schlingend über einem Sterbenden hing. Keine fünf Meter war er noch entfernt, als der wandelnde Tote ihn schnüffelnd zur Kenntnis nahm. Leon Breiteneggers Körper wandte den Kopf mit krausgezogener Nase nach dem zitternden Mann um, der hinter ihm stand und seine Waffe mit schweißnassen Händen umklammerte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Leon Breiteneggers Seele in die blutüberströmte Fratze ihres früheren Gesichts, suchte in den verzerrten, verwesenden Konturen nach altvertrauten Ähnlichkeiten. Der Untote sah vor sich nur ein weiteres Stück verlockenden Fleisches und kroch mit gefletschten Zähnen auf den starrenden Polizisten zu. Die Seele riss sich von den sentimentalen Gefühlen los, die beim Anblick ihres deformierten Körpers über sie hereingebrochen waren und konzentrierte sich darauf, das Zittern in ihren neuen Händen zu unterdrücken. Sie zielte konzentriert und schoss dreimal hintereinander in das widerwärtige Antlitz ihres früheren Körpers. Der gewaltige Fleischberg erzitterte und brach würgend zusammen. Leon Breiteneggers Seele schoss zwei weitere Kugeln in seinen zerfetzten Schädel, zerstörte das untote Gehirn, das die mordgierige Bestie gesteuert hatte. Der Körper bäumte sich ein letztes Mal gurgelnd auf, erbrach einen gewaltigen Blutschwall und lag still. Erschöpft fiel der junge Mann auf die Knie, hockte zitternd in der breiige Masse aus Blut und Erbrochenem. Tränen flossen über sein Gesicht. Lange Minuten vergingen, in denen er vor seinem alten Körper im Dreck kauerte und bitterlich weinte. Das misstönende Wimmern herannahender Sirenen riss ihn aus seiner Trauer. Schwerfällig erhob sich Leon Breitenegger im Körper des jungen Polizisten und wandte sich suchend nach dessen Seele um, er war bereit, den unschuldigen Leib zu verlassen und sich wieder den stillen Wassern des Weihers zu übergeben. Schließlich fand er die Seele, wie sie mit verzücktem Lächeln unter den wogenden Ästen der Blutbuche stand und stauend die purpurroten Blätter betrachtete. Herr Breitenegger trat vorsichtig näher an die phantomhafte Gestalt heran, die nur als zartes Flimmern in der Luft auszumachen war. Er hüstelte leise, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Seele des Polizisten fuhr erschrocken herum und wich beim Anblick ihres Körpers zurück. Leon Breitenegger zwang sich zu einem Lächeln und breitete einladend die Arme aus. Die Seele sah auf seine besudelte Uniform, sah die Waffe in seiner blutigen Hand, sah das Flackern in seinen aufgerissenen Augen und floh. Ratlos blieb Herr Breitenegger im Schatten des rauschenden Baumes stehen und sah mit schmerzverzerrter Mine den Streifenwagen entgegen, die über die Hauptstraße auf den Marktplatz zuschossen. Er blickte auf das ungeheuerliche Gemetzel, das sein alter Körper angerichtet hatte, schaute auf die vielen Toten, die verstümmelt in den Straßen lagen und zwang sich zu einer Entscheidung. Er ging zurück zu der abscheulichen Hülle, die einst sein Zuhause gewesen war, starrte traurig auf die zerfetzten Überreste hinab. Die eintreffenden Polizisten mussten hilflos mitansehen, wie sich ihr junger Kollege in den Kopf schoss und tot neben einem aufgequollenen, nackten Leichnam zusammenbrach. Leon Breiteneggers Seele blieb im sterbenden Körper des jungen Polizisten, sank mit ihm zusammen in die tiefe Umarmung des Todes und fühlte nur großes Bedauern, als sie aufhörte zu existieren.

© sybille lengauer

(Ich muss mich entschuldigen, dieser Text ist zum Teil in Kursiv geschrieben. Der HTML-Textblock von WordPress kann das nicht umsetzen, bzw. es würde ewige Handarbeit erfordern, es einzupflegen. Der Visuell-Block kann zwar Kursiv anzeigen, reißt dafür aber die Gespräche, die am Anfag eines jeden Absatzes stehen, hässlich auseinander. Um es mit den Worten von Hermine Granger zu sagen: „Sieht nicht schön aus!“ Zwecks Lesbarkeit habe ich mich jetzt für den Visuell-Block entschieden, damit sind die Zeilen in Kursiv zumindest vorhanden und man versteht leichter die Sprünge in den Dimensionen. Tchuligom, ich bin ein Technik-Depp. Es grüßt, die Autorin)

Moin.“

Moin.“

Alles klar?“

Klar.“

Man hat sich nicht viel zu sagen an diesem kalten Morgen im Februar. Rauchend steht eine kleine Gruppe von Frauen im Windschatten eines altehrwürdigen Landgasthauses. Füße werden gescharrt, Hände gerieben, Nasen geschnäuzt. Alle husten, aber so ist das eben bei dieser verdammten Kälte. Während das erste Morgenrot vom anbrechenden Tag erzählt, betreten die Küchenkräfte einen modernen Anbau, der sich hinter dem ausladenden Hauptgebäude verbirgt und schnaufen die steile Treppe zum Umkleideraum hinauf. Jacken werden aufgehängt, Straßenschuhe gegen Küchencrocs getauscht. Eine studentische Aushilfe präsentiert bei dieser Gelegenheit stolz ihr erstes Tattoo, das, sorgsam unter durchsichtiger Folie verpackt, ihre schlanke Wade ziert. Es wird mäßig interessiert zur Kenntnis genommen. „Tut das nicht weh?“ fragt eine ältere Küchenhilfe. „Natürlich tut das weh.“ beantwortet eine Spülfrau die ewige Schmerzfrage und nickt der jungen Aushilfe wissend zu. Die zuckt nur mit den Schultern und lässt die Tätowierung unter ihrer weiten Stoffhose verschwinden. Manuela zieht die Bänder ihrer gelben Küchenschürze eng um die schmale Taille, bindet einen einfachen Knoten mit Schleife. „Es ist die Kopie einer uralten Tätowierung, die man an einer zweitausendfünfhundert Jahre alten Mumie gefunden hat.“ erklärt sie in etwas überheblichem Tonfall. Die laue Reaktion ihrer Kolleginnen hat sie enttäuscht. „Du hast dir eine uralte Mumie tätowieren lassen?“ versteht sie eine der Frauen absichtlich falsch. Die anderen lachen. „Genau, Adele. Ich habe mir eine uralte Mumie tätowieren lassen.“ antwortet Manuela. Sie rollt genervt mit den Augen und verlässt beleidigt den Umkleideraum. Das Spötteln der Kolleginnen folgt ihr die Treppe hinunter. Der Vormittag vergeht ereignislos. Waren und Getränke werden angeliefert, Beilagen und Salate vorbereitet. Manuela erledigt schweigsam die anfallenden Aufgaben und ignoriert die anzüglichen Mumien-Witze, die nun in der Küche kursieren. Ihre Pause verbringt sie demonstrativ mit dem zynischen Oberkellner, der sonst immer alleine raucht. Als ihre Schicht endet, verlässt sie die geschäftige Küche ohne sich zu verabschieden. Im Umkleideraum knüllt sie Kittel und Schürze achtlos in ihren Korb, tritt die Küchenschuhe in eine Ecke und schlüpft fluchend in ihre übergroße Daunenjacke.

Hey, Baby!“

Hey.“

Na?“

Na.“

Manuela nickt ihrem Freund zu, der gemütlich am niedrigen Wohnzimmertisch sitzt und einen Joint baut. Sie erwidert sein Lächeln nicht. Abgespannt und mit düsterem Blick steht sie im Türrahmen und gibt sich maulfaul. „Harter Tag, was?“ fragt Erik und krümelt Tabak aus einer Zigarette. „Ach, alles Idioten.“ Manuela schlurft mit hängenden Schultern ins Schlafzimmer, stellt ihren Korb auf den vollgehängten Wäscheständer, wirft Kittel und Schürze in den überquellenden Wäschekorb. Dann geht sie zurück ins Wohnzimmer und lässt sich ächzend auf die breite Couch fallen. „Die haben nur dämliche Witze gemacht.“ grummelt Manuela, während sie die Hose hochkrempelt und Folie von ihrer Tätowierung löst. Ein katzenartiges Wesen mit auffallend großen Ohren, hellen Flecken im nachtschwarzen Fell und einem langen, getüpfelten Schwanz schmiegt sich Rücken an Rücken an einen Widder, der seine Hinterläufe hoch in die Luft wirft, den geschwungenen Hals in einen unsichtbaren Himmel reckt und sein Maul weit aufreißt. Dunkle Blüten verzieren das Motiv der tanzenden Gewalten. „Witze?“ fragt Erik mit tränenden Augen und reicht den qualmenden Joint über den Couchtisch. „Wegen dem Tattoo.“ erklärt Manuela mit dunkler Stimme und raucht. „Des.“ verbessert Erik hustend. „Was?“ fragt Manuela gereizt, während sie die Luft anhält. „Wegen des Tattoos.“ Erik nimmt den Joint wieder entgegen. „Du mich auch.“ versetzt Manuela und hustet herzhaft. Erik inhaliert genüsslich und starrt versonnen an die Zimmerdecke. „Ich finde dein neues Tattoo ganz außergewöhnlich.“ bekennt er der Deckenlampe. „Ach, findest du?“ fragt Manuela mit belegter Stimme. „Geradezu anbetungswürdig.“ säuselt Erik, der sie ansieht und sich die Andeutung eines Grinsens erlaubt. „Ach ja?“ Manuelas Augen werden glasig, die entspannende Wirkung der Droge glättet ihre Verstimmung. „Na dann bete mal, du kleiner Glaubenskrieger.“ Sie zeigt ein schmales Lächeln und reckt das Bein über den Tisch. Erik greift nach ihrem Knöchel, haucht Küsse in Richtung Wade. „Ich bete dich an, oh göttliches Tierwesen, dessen geheiligte Linien die Haut dieser elenden Ungläubigen zieren…“ „Hey!“ ruft Manuela dazwischen. „…deren Füße zu küssen ich nicht würdig bin.“ fährt Erik mit einem schiefen Lächeln fort. Rauch quillt aus seinen Nasenlöchern. Manuela lacht herzlich. „Ich bringe dir, oh Lichtgestalt, dieses bescheidene Brandopfer dar, und alle, die noch folgen mögen.“ Mit ernstem Gesicht nimmt Erik einen tiefen Zug vom Joint und bläst eine dicke Rauchschwade über Manuelas Bein. Irgendwo tief, tief unten in den verborgenen Schichten der Erde, öffnet eine ruhende Gottheit ihre goldenen Augen. „Hör auf, bist du bescheuert?“ ruft Manuela lachend und zieht das Bein zurück. „Du hast echt einen Knall.“ stellt sie amüsiert fest. „Ich liebe dich.“ sagt Erik nur und reicht ihr den Joint. Die Zeit dümpelt im warmen Wohnzimmer dahin, der Abend versandet zur Nacht. Erik und Manuela liegen sich auf der breiten Couch gegenüber, Erik streichelt geistesabwesend Manuelas Füße, während die nur mit halb geschlossenen Augen auf den flimmernden Fernseher starrt. Kurz bevor sie einschläft, gibt Erik ihr einen sanften Schubs. „Geh ins Bettchen.“ sagt er sanft. „Krzfz.“ murmelt Manuela. „Scha-hatz.“ brummt Erik und rüttelt liebevoll an ihrem großen Zeh. „Ichgehjaschon.“ nuschelt sie, dreht sich um und schläft ein. Seufzend schält sich Erik von der Couch, er stellt den riesigen Fernseher aus und trottet alleine ins Schlafzimmer. Manuela schnarcht leise. Ihre Augenlider zucken, während der Körper tiefer in den Schlaf gleitet. „Hallo? Ist da jemand!“ Manuela steht inmitten einer ausgedehnten Graslandschaft und spürt, wie ein scharfer Windstoß ihre Worte in der Luft zerreißt. Der Himmel über ihrem Kopf ist tiefschwarz, nicht ein Stern zeigt sich in der Finsternis. In weiter Ferne recken sich die schneebedeckten Gipfel eines Gebirges aus der dunklen Ebene. Manuela fröstelt. „Hallo!“ ruft sie wieder und läuft in langen Schritten auf die schimmernden Berge zu. Ihre Füße rascheln geräuschvoll durch die trockenen Halme. Zu ihrer Linken fliegt plötzlich eine Großtrappe auf. Die Flügelspitzen des mächtigen Vogels sprühen Funken und setzen das wogende Grasland in Brand. Manuela schwebt über dem rasenden Feuer, betrachtet das lodernde Inferno aus großer Höhe. Fragt sich nicht, wie sie den Boden verlassen hat. Traumsicher gleitet sie über der Szenerie, wendet sich erneut den Bergen zu. „Ist da jemand!“ ruft sie wieder und wird von einem scharfen Windstoß in der Luft zerrissen.

Hey.“

Hey.“

Manuela sitzt zusammengekauert im Bus, nickt einem bekannten Gesicht zu und starrt dann wieder auf das Display ihres Handys. Sie verspürt kein Bedürfnis nach Smalltalk. Die Nacht war kurz, die Träume waren schlecht, die Uni beginnt viel zu früh. Der Bus befördert Schüler und Studenten aus dem Dorf in die nahe gelegene Kleinstadt, speit seine jugendliche Ladung am Bahnhof aus. Manuela schlurft zum schäbigen Bahnsteig, achtet dabei nicht auf die Menschen, die mit ihr strömen. Mit gesenktem Kopf betritt sie die wartende Bahn und blickt nur auf, um einen Sitzplatz zu suchen. Es gibt keinen. Manuela schnaubt frustriert. Eine ältere Dame, die neben ihr steht, nickt wissend. „Uns lassen die hier stehen,“ sagt sie, sieht Manuela dabei mürrisch ins Gesicht „aber den Ausländern, denen schieben sie es hinten rein.“ Manuela wendet genervt den Blick ab. Tut, als würde sie die Frau nicht hören. „Das wird man ja noch sagen dürfen.“ beschwert sich die alte Dame und schwankt heftig, als sich der Zug in Bewegung setzt. Ihre giftigen Worte verebben im Sog der Geräusche, die den Großraumwaggon erfüllen. Ein Handy klingelt unmelodiös. Ein Mann in mittleren Jahren beginnt ein zorniges Streitgespräch mit seiner Frau. Studenten plappern über die Uni, den Teilzeitjob, das Zuhause. Irgendwo jammert ein kleines Kind. Manuela reibt sich gereizt die Schläfen. Am Zielbahnhof verlässt sie erleichtert den stickigen Zug. In wenigen Minuten hat sie den nahe gelegenen Campus erreicht. Sie weicht den anderen Kommilitonen aus, bringt die Strecke hinter sich, ohne in ein Gespräch verwickelt zu werden. An der Universität kommentiert nur der Professor für französische Geschichte ihre dunklen Augenringe mit einer spöttischen Bemerkung, sonst wird sie von niemandem zur Kenntnis genommen. Desinteressiert folgt Manuela den Kursen, die an diesem Tag auf ihrem Programm stehen. Sie arbeitet nicht mit, schreibt nichts auf, spricht nicht mit den anderen Studenten. Mittags entscheidet sie, die restlichen Kurse auszulassen und nach Hause zu fahren. Manuela friert und schwitzt gleichzeitig, fühlt sich ausgelaugt, erschöpft und leidet unter Kopfschmerzen. Nach einer eintönigen Zugfahrt zurück in die Kleinstadt wartet sie ergeben im gläsernen Bushäuschen auf den Anschlussbus. Erfolglos zittert sie gegen den eiskalten Februarwind an. Das letzte Stück des Weges verschläft sie im überheizten Bus, träumt fragmentarisch von züngelnden Flammen und schimmernden Bergketten, die lautlos nach ihr rufen. Der Busfahrer hupt Manuela an ihrer Haltestelle wach. Man kennt sich. Manuela dankt mit einem Nicken und fällt beim Aussteigen fast aus dem Bus. Zuhause angekommen lässt sie sofort heißes Wasser in die Badewanne laufen. Sie zieht sich mit klappernden Zähnen aus, wirft ihre Kleidung achtlos auf den schwarz-weißen Fliesenboden und klettert umständlich in die dampfende Badewanne. Das tätowierte Bein lässt sie gewissenhaft vom Rand der Wanne baumeln, um das Tattoo nicht nass zu machen. Als die wohlige Hitze des Bades ihren schlotternden Körper durchflutet, pinkelt sie mit einem behaglichen Seufzen ins Wasser.

Hey, Baby!“

Hey.“

Na?“

Na.“

Manuela liegt auf der breiten Wohnzimmercouch, hat sich unter zwei kuscheligen Decken vergraben. Im Fernsehen läuft ein alter Western, der Ton ist sehr leise eingestellt. Erik durchquert mit raschen Schritten den stickigen Raum und küsst sanft Manuelas glänzende Stirn. „Du glühst ja förmlich.“ sagt er erschrocken und macht ein ernstes Gesicht. „Krank.“ krächzt Manuela. „Das sehe ich.“ Erik verlässt das Wohnzimmer und rumort in der Küche. Nach wenigen Minuten kehrt er mit einer Tasse Tee zurück. „Danke.“ Manuela nimmt die Tasse entgegen und pustet. Erik setzt sich an den Rand der Couch, holt eine metallene Schatulle unter dem Tisch hervor und beginnt methodisch, einen Joint zu bauen. „War fürchterlich heute.“ flüstert Manuela und Erik nickt wissend. „Bei mir auch.“ seufzt er und dreht einen Filter zwischen seinen Fingern rund. „Die 6B ist ein Alptraum.“ setzt er düster hinzu. „Ist nicht mehr lange.“ tröstet Manuela. „Ferien helfen da auch nicht.“ Erik krümelt Tabak aus einer Zigarette, vermischt diesen mit Gras und streut das Gemisch auf ein langes Blättchen. Sorgsam legt der den Filter dazu, dann rollt er das Papier ein, benetzt den Klebestreifen mit der Zunge, dreht die Spitze des Blättchens zu, schüttelt. „Alles scheiße.“ kommentiert er die allgemeine Situation. Er brennt den Joint an, raucht, atmet tief ein und schließt kurz die Augen. „Schon etwas besser.“ sagt er und bläst eine Rauchwolke aus. „Will auch.“ lässt sich Manuela aus ihrer Deckenburg vernehmen. Erik reicht die Tüte weiter. In den tiefen Eingeweiden der Erde regt sich die goldäugige Gottheit. Das Wesen streckt seine erwachenden Sinne hinauf bis an die Oberfläche der Welt, tastet suchend nach den Menschen, die das Brandopfer darbringen. Unsichtbare Augen beobachten das seltsame Pärchen, das matt auf der Wohnzimmercouch lümmelt und raucht. Die Gottheit lauscht. „Ich möchte die Klasse abgeben.“ sagt Erik gerade. „Geht das?“ fragt Manuela hustend und reicht den Joint zurück. „Hm.“ macht Erik nur. Er raucht und starrt auf den Fernseher. Clint Eastwood stapft mit finsterer Mine durchs Bild, aber Erik hat keine Augen für den Helden des Western. „Ich hätte Tischler werden sollen.“ sagt er resigniert. „Dafür bist du zu ungeschickt.“ versetzt Manuela bissig. „Pass schön auf, du junges Gemüse.“ knurrt Erik. „Alter Sack.“ ätzt Manuela. Beide grinsen. Der Joint geht zu Ende, der Western hört auf, die Guten gewinnen. Erik bringt Manuela ins Bett, cremt fürsorglich ihr neues Tattoo ein, deckt liebevoll ihren zitternden Körper vom Hals bis zu den Zehenspitzen zu und wünscht eine gute Nacht. Warm und watteweich verpackt, fällt Manuela schnell in einen unruhigen Schlaf. Die weite Ebene steht in Flammen, brennt lichterloh bis zum Horizont. Körperlos schwebt Manuela über dem Meer aus Feuer, wendet ihren Blick den Bergen zu, die in der Ferne schimmern. Eine tiefe Sehnsucht zieht an ihrer Seele. Manuela träumt sich zum Albatros. Sie atmet beißenden Rauch, der in dicken Säulen aufsteigt, fühlt sengende Hitze, die ihren gewaltigen Flügeln Aufschwung verleiht. Im Lidschlag eines Augenblicks denkt sie sich zu den schneebedeckten Gipfeln, gleitet majestätisch über den glitzernden Schneefeldern. Manuela träumt sich zum Steinadler. Sie landet auf einem kahlen Felsen und starrt mit dunklen Augen angespannt in den sternlosen Himmel. Goldglänzende Augen starren aus der endlosen Schwärze zurück. Der Adler sträubt erschrocken das Nackengefieder, wird zu einer kleinen Rötelmaus. Manuela springt hektisch vom Felsen und versteckt sich in einer schmalen Ritze zwischen den Steinen. Die Angst lässt ihr winziges Mäuseherz rasen. Die goldenen Augen folgen ihr in die Dunkelheit des Verstecks. Starren. Manuela der Schneehase schießt mit aufgerissenem Maul zwischen den Steinen hervor und rast, wilde Haken schlagend, über das Schneefeld davon. Die goldenen Augen sehen ihr teilnahmslos hinterher und schließen sich langsam.

Guten Morgen, Baby.“

Meh.“

Wie geht es dir?“

Furchtbar.“

Erik beugt sich über das Bett und befühlt vorsichtig Manuelas heiße Stirn. Er schüttelt den Kopf und setzt ein strenges Gesicht auf. „Du bleibst heute schön Zuhause.“ verkündet er mit tiefer Pädagogenstimme. „Jawohl, Herr Doktor.“ antwortet Manuela und winkt schwach mit der Hand. Erik hilft ihr aufzustehen, führt sie sanft ins Wohnzimmer. Er bringt Tee und eine Wärmflasche an die Couch, stellt Manuelas Laptop auf den niedrigen Tisch und legt die Fernbedienung in Reichweite. „Fehlt noch etwas?“ fragt er und sieht sich dabei suchend im Wohnzimmer um. „Ich könnte ein wenig Entspannung vertragen.“ brummt Manuela, die wieder unter zwei kuschelige Decken gekrochen ist. „Natürlich.“ Erik holt seine Schatulle hervor und dreht geschickt zwei formschöne Joints, die er neben den Aschenbecher legt. Dann steht er mit einem bedauernden Seufzen auf und geht ins Badezimmer. Manuela zappt missmutig durch die unzähligen Fernsehprogramme, lauscht dabei auf die Geräusche, die Erik beim Duschen verursacht. Sie hat nur eine diffuse Erinnerung an den Traum der letzten Nacht, erinnert sich vage an das Gefühl des Fliegens und den Geruch von Todesangst im kalten Schnee. Manuela verdrängt den unangenehmen Gedanken. Sie verzieht das Gesicht, als der frisch geduschte, ordentlich frisierte und adrett gekleidete Erik ihr zum Abschied einen dicken Kuss auf die spröden Lippen drückt. „Ich werde dich noch anstecken.“ grummel sie ihm hinterher. „Dann kann ich auch auf der Couch bleiben.“ kontert Erik und geht. Manuela liegt schlapp auf der Couch, zappt lustlos durch die Programme, nippt Tee. Immer wieder wandert ihr Blick zu den beiden Joints, die neben dem Aschenbecher liegen. Zeit vergeht. „Ach, scheiß drauf.“ Manuela entscheidet sich für eine alberne Kindersendung, legt die Fernbedienung zur Seite und zündet einen Joint an. Sie raucht bedächtig, bläst dicke Rauchschwaden in die Luft und kommentiert gereizt die dümmliche Handlung der Sendung. Ein unangenehmer Schmerz fährt plötzlich durch ihre Wade. „Verdammt.“ Manuela legt den Joint in den Aschenbecher, krempelt die weite Jogginghose hoch und starrt mit gerunzelter Stirn auf die verschlungenen Linien, die ihr Bein verzieren. Die Tätowierung tanzt. Katze und Widder umwinden sich in einem verschlungenen Reigen, Blumen erblühen wie Tuschflecken auf ihrer blassen Haut. „Was zur Hölle?“ entfährt es Manuela, erschrocken lässt sie aufgestauten Rauch aus ihren Lungen entweichen. Goldene Augen öffnen sich überall im Wohnzimmer. „Scheiße!“ schreit Manuela und springt von der Couch hoch. Die Augen folgen ihrer Bewegung, schweben überall im Raum. Manuela hastet in den Flur, doch auch dort begegnen ihr goldene Blicke. „Was soll das?“ schreit sie entsetzt. „Was soll das.“ flüstert ein knisterndes Echo. Manuela erstarrt. „Hallo?“ fragt sie zaghaft. „Hallo.“ knistert das Echo. „Wer ist da?“ flüstert Manuela mit hoher Stimme. Sie schreit auf, als ihr ein heißer Windstoß ins Gesicht fährt. „Ich bin der Schatten im nächtlichen Dämmerwald, ich bin das Schimmern der wogenden See, ich bin der Atem, der über die Sanddünen hallt, ich bin das Lawinenlied, oben im Schnee.“ singt das Knistern. „Was?“ Manuela steht mit offenem Mund im Flur und glotzt. Die goldenen Augen streben einander zu, vereinen sich zu einer glänzenden Masse die wild pulsierend beginnt unterschiedliche Formen anzunehmen. Körper fließen ineinander, Hase, Widder, Steinbock, Kröte, Tiger, Rentier, Leopard, Schwalbe. Schließlich richtet sich die Form eines goldenen Mannes auf. „Wie?“ fragt Manuela fassungslos. Der gesichtslose Mensch breitet feierlich die Arme aus. „Es ist an der Zeit, meinen Namen zu nennen.“ knistert die Stimme und ein weiterer, glutheißer Windstoß fegt durch den Flur. „Wie bitte?“ Manuelas Knie zittern. „Nenne meinen Namen.“ fordert das Knistern. „Ich kenne deinen Namen nicht!“ flüstert Manuela entsetzt. „Du kennst ihn.“ flüstert die Stimme. Das goldene Wesen nimmt eine fordernde Haltung ein. „Oscar?“ quietscht Manuela und verflucht sich im selben Augenblick. „Oscar.“ knistert die Stimme befriedigt. Der Mann neigt den Kopf, faltet die klobigen Hände vor der Brust und verschwindet ins Nichts. Manuela steht allein im düsteren Flur und zittert heftig. „Ich rauche nie wieder.“ flüstert sie, dann läuft sie zur Toilette und übergibt sich.

Oscar?“

Hör auf zu lachen.“

Du hast ihn Oscar genannt?“

Hör endlich auf zu lachen.“

Erik krümmt sich. Tränen laufen über sein verzerrtes Gesicht. Manuela starrt ihn feindselig über den Couchtisch hinweg an. „Ich meine Brahma, Wotan, Voldemort, das sind starke Namen für eine Halluzination. Und du nennst ihn Oscar.“ Erik kichert. Manuela wirft mit einem Kissen nach ihm. „Du Arsch,“ faucht sie schwach, „ich hatte echt Panik.“ „Na, na.“ macht Erik. Er wirft das Kissen zurück und deutet mahnend auf den Joint in seiner Hand. „Geh mir weg mit dem Scheiß.“ schmollt Manuela. „Du musst ja nicht.“ besänftigt Erik. Er legt den Joint in den Aschenbecher und setzt sich zu ihr auf die Couch. Manuela sieht ihn finster an. „Du machst dich nur lustig über mich.“ sagt sie mit Tränen in den Augen. „Weil ich dich zum Lachen bringen möchte, Liebling.“ Seine Stimme ist weich und eindringlich. „Mir ist aber nicht nach Lachen.“ murrt Manuela. „Wer lacht kann keine Angst haben.“ erwidert Erik und lächelt aufmunternd. „Ha. Ha.“ macht Manuela. Erik nimmt sie tröstend in den Arm. „Da sind ein paar Synapsen in deinem Gehirn ein bisschen ausgeflippt und haben eine kleine Party veranstaltet. So what? War bestimmt das Fieber.“ versichert er gutmütig. „Bestimmt.“ murmelt Manuela und verkriecht sich in Eriks Umarmung. Die Wärme seines Körpers und der beruhigende Bass seiner Stimme geben ihr ein angenehmes Gefühl. „Ich rauche wirklich nie, nie wieder.“ Manuela versteckt ihren Kopf in Eriks Pullover. „Ist in Ordnung, Baby.“ versichert er und streichelt sanft über ihren Rücken. „Komm, wir sehen uns einen deiner bescheuerten Liebesfilme an.“ „Ich hasse Liebesfilme!“ Manuela windet sich in seiner Umarmung. „Dann eben Gewalt.“ brummt Erik. „Okay.“ antwortet es aus den Falten seines Pullovers. Beide schaffen es nicht, bis zum Ende des mäßigen Horrofilms wach zu bleiben. Es ist spät in der Nacht, der Fernseher läuft, wirft flimmernde Bilder über das schlafende Pärchen. Ein Talkshow-Moderator strahlt mit zahnpastaweißem Lächeln sein applaudierendes Publikum im Studio an. Seine goldenen Augen zwinkern schelmisch einem hübschen Mädchen in der ersten Reihe zu, das daraufhin in Flammen aufgeht. Der nächste Tag beginnt mit einem späten Frühstück im Wohnzimmer. Es ist Samstag Vormittag und Erik hat beim Bäcker um die Ecke belegte Brötchen gekauft. Manuela greift beherzt zu. Eine traumlose Nacht liegt hinter ihr, sie hat tief und fest geschlafen. „Dein Fieber scheint weg zu sein.“ stellt Erik fest. „Es geht mir schon viel besser.“ bestätigt Manuela mit vollem Mund. Gierig greift sie nach ihrer Tasse, schlürft genüsslich warmen Kaffee mit viel Milch. Erik lächelt und beißt zufrieden in sein Brötchen. Nach dem ausgiebigen Frühstück und einer belanglosen Plauderei wagt er einen Vorstoß. „Wollen wir uns dein Tattoo mal ansehen?“ fragt er mit weicher Stimme. „Meinetwegen.“ Manuela versucht ihre Nervosität zu verstecken, doch es gelingt ihr schlecht. Mit übertriebener Vorsicht krempelt sie das Bein der Jogginghose hoch, hält dabei unbewusst die Luft an und starrt gebannt auf das Tattoo. „Ist ganz normal.“ stellt Erik nach einer Weile fest. „Total normal.“ haucht Manuela erleichtert. Erik drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. „Du mächtige Schamanin.“ flüstert er. „Du Arschloch.“ erwidert Manuela liebevoll. Der Vormittag plätschert dahin, im Fernsehen läuft eine beliebte Zeichentrickserie. Erik dreht ganz beiläufig einen Joint. Manuela sieht ihm nachdenklich dabei zu. „Ich möchte wirklich nicht.“ lehnt sie ab, als er sie fragend ansieht. Erik nickt verständnisvoll. Er zündet den Joint an und bläst einen dicken Rauchring zum Fernseher. Es knistert. Der Bildschirm verwandelt sich in flüssiges Gold. Manuela und Erik erstarren auf der Couch. Sekunden vergehen in absoluter Reglosigkeit. „Es brennt wieder!“ schreit Manuela plötzlich und reißt hektisch das Hosenbein nach oben. Die schwarzen Linien ihrer Tätowierung tanzen eng umschlungen über ihre Wade. „Fuck.“ haucht Erik. „Du siehst es auch!“ „Oh Fuck.“ wiederholt Erik nur. Der goldene Fernsehbildschirm fließt lautlos auf den Wohnzimmerboden und manifestiert sich in Menschenform. „Oscar.“ flüstert Manuela entsetzt. Erik prustet hysterisch. „Oscar.“ knistert das Echo zufrieden und ein heißer Windstoß fegt durch das Wohnzimmer, wirbelt Staub von den Regalen. „Oh, wow.“ macht Erik. Manuela starrt den goldenen Mann mit weit aufgerissenen Augen an. „Das ist keine Halluzination.“ bricht es aus ihr heraus. Erik nickt stumm, starrt mit offenem Mund. „Sag etwas.“ flüstert sie. „Was?“ piepst Erik und klappt den Mund zu. „Ich weiß nicht.“ zischt Manuela. Die goldene Gestalt macht einen Schritt auf die Couch zu. Manuela zuckt erschrocken zurück, Erik schnellt in die Höhe. „Verschwinde du Mistvieh!“schreit er lauthals und fuchtelt mit leeren Händen durch die Luft. „Es ist an der Zeit, die Kultstätte zu errichten.“ knistert die Stimme. Der goldene Körper hebt feierlich die Arme zur Zimmerdecke. „Bitte was?“ Erik hält verdutzt inne. „Kultstätte?“ fragt Manuela, die sich tief in die Couch drückt. Ihr Blick wandert zwischen dem gesichtslosen Wesen und Eriks entgleisten Gesichtszügen hin und her. „Drei Tage.“ verkündet das Knistern und die goldene Manifestation löst sich in einem heißen Luftstoß auf. Der Fernseher flimmert, das Bild kehrt zurück, zeigt eine lustige Zeichentrickfamilie.

Baby, wir können doch keine Kultstätte bauen.“

Und was passiert wenn wir das verdammte Ding nicht bauen?“

Ich habe keine Ahnung was dann passiert. Aber ich baue ganz bestimmt keine Kultstätte!“

Wenn du noch einmal Kultstätte sagst, verlasse ich die Wohnung!“

Ein Streit ist nach dem Verschwinden des Wesens entbrannt. Wer ihn begonnen hat, warum er gerade jetzt geführt wird, es ist nicht zu ergründen. Die Nerven liegen blank und so entlädt sich die Stimmung in einem hitzigen Gewitter. Manuela sitzt mit zorngerötetem Gesicht vor ihrem Laptop. Sie sucht im Internet nach Antworten, ein vollgeschmierter Notizblock mit krakeligen Skizzen liegt neben ihr auf der Couch. Erik wandert gereizt im Zimmer auf und ab. „Das ist doch total bescheuert.“ mault er. „Du bist total bescheuert.“ versetzt Manuela leise. Erik grunzt und stapft weiter durchs Zimmer. „Vielleicht ist das so eine Art abgefuckte Reality-Show und am Ende war alles nur Spaß?“ überlegt Manuela laut. „Das kannst du deinem Frisör erzählen.“ motzt Erik gereizt. „Ich gebe mir wenigstens Mühe!“ Tränen schimmern in Manuelas Augen. „Tut mir leid.“ lenkt Erik ein. „Wir müssen eine Möglichkeit finden, dieses Ding loszuwerden.“ setzt er hinterher. „Wie stellst du dir das vor?“ fragt Manuela und wischt Feuchtigkeit aus ihren Augenwinkeln fort. „Keine Ahnung. Uns fällt schon etwas ein.“ Erik lässt sich auf die Couch fallen, ächzend zückt er sein Handy. „Ich würde jetzt wirklich gerne rauchen.“ seufzt er niedergeschlagen. „Nichts da.“ Manuela sieht ihn scharf an. „Ich weiß, ich weiß.“ Missmutig durchforsten sie gemeinsam das Internet. Suchen in Foren und Onlinezeitungen nach Berichten über die tätowierte Mumie, nach goldenen Augen, Bildern religiöser Kultstätten und den Zeilen des eigenartigen Gedichts, an die sich Manuela noch erinnern kann. Das Wort ‚Lawinenlied‘ erzielt mehrere Treffer. Aufgeregt liest Erik einen Artikel vor. Er handelt von Brauchtumspflege und Musikfirmen, die Lizenzrechte an Volksliedern aufkaufen. Nichts an dem kurzen Bericht erscheint hilfreich. „Ach verdammt.“ flucht Erik, er wirft das Handy frustriert auf den Tisch und trollt sich ins Badezimmer. Manuela durchforstet weiter das Internet. Als Erik, nach Duschgel und herbem Aftershave duftend, zurück ins Wohnzimmer kommt, präsentiert sie stolz eine Internetseite auf dem Laptop. „Was ist das?“ fragt Erik und setzt sich zu ihr. „Der Liedtext.“ sagt Manuela triumphierend. „Sehr gut. Lies vor.“ Erik greift gedankenverloren nach der Schatulle unter dem Tisch. „Nein.“ sagt Manuela laut. Erik murmelt eine Entschuldigung und legt die Schatulle zurück. „Hör zu.“ fordert sie und liest: „ ‚Er ist der Schatten im nächtlichen Dämmerwald, er ist das Schimmern der wogenden See, er ist der Atem, der über die Sanddünen hallt, er ist das Lawinenlied, oben im Schnee. Er ist das Feuer, das unsere Sünden verbrennt, er ist der flammende Blick, der unsre Makel erkennt, tausend Augen ruhen schauend im goldenen See‘.“ Manuela sieht Erik gespannt an. Der zuckt nur mit den Schultern. „Was soll uns das bringen?“ fragt er. „Na wir wissen jetzt, dass das Lied existiert. Und wir wissen auch, dass dieses Ding schon einmal gesehen wurde. Sonst gäbe es ja das Lied nicht!“ sprudelt es aus Manuela heraus. „Und weiter?“ Erik zieht skeptisch eine Augenbraue hoch. „Nichts weiter.“ Das aufgeregte Leuchten verschwindet aus Manuelas Gesicht. Eine unangenehme Stille breitet sich im Wohnzimmer aus. „Lass uns die blöde Kultstätte bauen.“ sagt Erik niedergeschlagen.

Das ist bescheuert.“

Es ist cool.“

Total daneben.“

Ich finde es sieht gut aus.“

Manuela und Erik stehen vor dem hölzernen Schrein, den sie in den vergangenen drei Tagen gebastelt haben. Der Schrein steht auf einem Podest aus Pressspanplatten und ist mit goldener Glanzfolie überzogen. Das Podest ist schwarz lackiert und mit rotem Stoff umwickelt. Kunstblumen und frische Birkenzweige runden das Bild ab. Im Schrein steht eine goldene Siegerstatue, die einen Lorbeerkranz in Händen hält. Zu ihren Füßen flackern elektrische Teelichte. „Das ist doch lächerlich.“ brummt Erik gereizt. „Hilf mir lieber mit den Aufstellern.“ faucht Manuela und geht in den Flur. Erik folgt ihr, schüttelt dabei nur unwillig den Kopf. Gemeinsam tragen sie ein langes, schmales Paket ins Wohnzimmer. Es dauert nicht lange die Pappaufsteller zusammenzubauen. Nach wenigen Minuten sind die lebensgroßen Oscar-Figuren fertig. Manuela stellt sie rechts und links neben dem Podest auf. Sie mustert das Ergebnis kritisch, rückt ein paar Blumen um den Schrein zurecht, nickt und räumt die Paketreste in den Flur. Erik steht nur da, starrt die riesigen Pappaufsteller an und zieht ein finsteres Gesicht. „Hör endlich auf zu schmollen.“ versetzt Manuela gereizt, als sie wieder ins Zimmer kommt. Sie setzt sich auf die Couch und betrachtet die fertige Kultstätte. „Sieht schön aus.“ stellt sie fest. „Und jetzt?“ fragt Erik, der sich nicht von der Stelle bewegt hat. „Jetzt weihen wir sie ein.“ antwortet Manuela düster und holt die metallene Schatulle unter dem niedrigen Tisch hervor. „Ich habe nachgedacht. Da Oscar immer erscheint wenn wir kiffen, muss es eine Verbindung zwischen den Joints und dem Tattoo geben. Wir rauchen also und er wird kommen.“ „Und dann?“ „Dann sehen wir weiter. Die Tage sind ohnehin um.“ Erik setzt sich kopfschüttelnd an den Couchtisch und öffnet die Schatulle. Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen, als er das Tütchen mit Gras auspackt. „Das sollte dir wirklich keinen Spaß machen.“ zischt Manuela. Sie streicht nervös über das Tattoo an ihrer Wade. „Wie fühlst du dich?“ fragt Erik sanft, die Aussicht auf das Rauchvergnügen glättet seine Verstimmung. „Ängstlich. Verwirrt. Müde. Zornig. Such es dir aus.“ Manuela betrachtet die Tätowierung mit gerunzelter Stirn, wendet dann resigniert den Blick ab. „Aber du fühlst dich nicht mehr fiebrig, oder?“ fragt Erik weiter. „Nein, alles prima.“ Manuela beobachtet seine Hände. Erik dreht routiniert den Joint, platziert ihn sorgfältig im Aschenbecher und legt die Hände in den Schoß. Eine Minute vergeht. „Ich trau mich nicht.“ flüstert er schließlich, sitzt dabei vor dem Aschenbecher wie die Maus vor der Falle. „Ach scheiße.“ Manuela schnappt sich den Joint, nimmt das Feuerzeug vom Tisch und brennt die Spitze der Tüte ab. „Heil dir, oder so.“ sagt sie mit einem Nicken zum Schrein hin, zündet den Joint an und raucht. Sie zieht schnell hintereinander, behält den Rauch in der Lunge, gibt den Joint weiter an Erik. Der zieht lange, schließt genießerisch die Augen. Manuela hustet. „Merkst du schon etwas?“ fragt Erik und reicht den Joint zurück. „Bisher nicht.“ Manuela betrachte die schwarzen Linien des Tattoos mit zusammengekniffenen Augen und zuckt dann mit den Schultern. Sie raucht wieder. „Vielleicht haben wir irgendetwas übersehen.“ murmelt sie und reicht den Joint zurück, ohne aufzusehen. Erik reagiert nicht. „Schatz?“ fragt Manuela und blickt auf. Goldene Augen starren ihr aus Eriks Gesicht entgegen. Manuela springt mit einem entsetzten Schrei von der Couch. Im selben Moment entzünden sich die lebensgroßen Oscar-Pappaufsteller mit einem lauten Zischen. Manuela versucht kreischend in den Flur zu flüchten, aber die brennenden Pappaufsteller versperren ihr den Weg. Hellgelbe Flammen züngeln gierig über den Boden, schlagen bis an die Zimmerdecke, der Vorhang am Fenster fängt lodernd Feuer. „Aufhören!“ Manuela bleibt entsetzt stehen und reißt hilflos die Hände in die Luft. Die Flammen ziehen sich langsam zurück, züngeln blau und orange über die Wände, fließen zum Podest und verlöschen am Fuße des Schreins. Die Oscar-Pappaufsteller zerfallen zu kleinen Aschehaufen. Erik erhebt sich. „Es ist an der Zeit, ein Opfer zu bringen.“ verkündet er knisternd. „Bitte hör auf.“ schluchzt Manuela. Sie lässt vorsichtig die Hände sinken, macht einen kleinen Schritt auf die Tür zu. „Bringe das Opfer.“ Die goldenen Augen in Eriks Gesicht starren sie ausdruckslos an. Manuela erschaudert unter dem eiskalten Blick. „Was für ein Opfer?“ flüstert sie. „Ein Leben für die Gottheit.“ antwortet das Knistern, heißer Wind wirbelt Aschewolken durch den Raum. Manuela krümmt sich, Tränen laufen über ihr verzerrtes Gesicht. Erik wendet sich dem Schrein zu, hebt gebieterisch den rechten Arm. Aus dem Lorbeerkranz der Siegerstaue spritzen Funken. „Hör auf damit!“ schreit Manuela hysterisch. Erik fährt wütend zu ihr herum, sein Gesicht ist eine zornige Fratze. Flammen schlagen aus seinem weit geöffneten Mund, sein Rachen glüht hellrot. Die Haut auf seinem Gesicht schält sich, wirft Blasen, verkohlt zu schwarzen Fetzen. Manuela gerät in Panik und flieht. Sie stürmt aus dem Wohnzimmer, schlittert durch den Flur und schlägt die Eingangstür mit einem lauten Knall hinter sich zu. Im Treppenhaus bleibt sie keuchend stehen. „Das ist nicht passiert, das ist gar nicht passiert!“ schluchzt sie hysterisch. Unter der Wohnungstür quillt dunkler Rauch hervor. „Oh Gott, nein.“ Manuela begreift und hämmert wild an die verschlossene Tür. „Erik!“ kreischt sie, rüttelt verzweifelt am Türknauf. „Feuer!“ schreit jemand im Haus.

Es dauert lange Minuten, bis die Feuerwehr eintrifft. Das Einsatzfahrzeug fährt mit wummernden Sirenen vor, Nachbarn und Schaulustige versammeln sich in einer dicken Traube um den Löschwagen. „Da ist noch einer drin!“ ruft eine Frau mit Lockenwicklern in den Haaren, noch bevor jemand aus dem Fahrzeug gestiegen ist. „Der junge Schubert ist noch drinnen!“ schreit ein untersetzter Mann mit Brille und deutet, wild gestikulierend, zum Haus hinüber. Flammen züngeln aus den Fenstern im ersten Stock des Gebäudes. Schwarzer Rauch steigt in einer dickten Wolke in den Himmel. Ein Polizeiwagen trifft mit blinkendem Blaulicht ein und die besorgten Menschen wenden sich hilfesuchend den Polizisten zu. In dem Tumult achtet niemand auf Manuela, die stumm am Rand des Bürgersteiges hockt und mit riesigen Augen zu ihrer brennenden Wohnung hochstarrt.

Möchtest du Tee?“

Nein danke.“

Oder ein Wasser?“

Nein danke.“

Vielleicht Saft?“

Danke, ich möchte nichts.“

Manuela sitzt zusammengesunken an einem beigefarbenen Küchentisch, ihr schmaler Körper verliert sich in einem flauschigen Bademantel, versinkt förmlich zwischen einer geschmacklosen Blümchentapete und überquellenden Küchenschränken. Ihre Großmutter sitzt ihr mit besorgter Miene gegenüber und reibt sich ratlos die faltigen Hände. „Vielleicht ein Kakao?“ fragt sie hilflos. Manuela bricht in Tränen aus. „Ach Mannie.“ sagt die Großmutter traurig und weint mit. Sie steht umständlich auf, umrundet den Tisch und nimmt ihre weinende Enkelin in die Arme. „Er kann nicht tot sein.“ heult Manuela und drückt sich an die weiche Brust, umschlingt die Großmutter, so fest sie kann. „Na, na.“ ächzt die alte Frau und tätschelt liebevoll Manuelas Kopf. „Hast du deinen Vater angerufen?“ fragt sie und befreit sich sanft aus der festen Umarmung. „Er geht nicht ans Telefon.“ stößt Manuela zwischen heftigen Schluchzern hervor. „Er war schon immer unzuverlässig.“ schimpft die Großmutter und tätschelt Manuelas knochigen Rücken. „Sprich nicht so über Papa.“ schluchzt Manuela und folgt damit einem alten Familienritual. „Ich habe ihn geboren, ich weiß wovon ich spreche.“ erwidert die alte Dame resolut. Manuela zeigt die Andeutung eines Lächelns. Sie hat diese Unterhaltung schon viele Male geführt. „Ich glaube ein Kakao wäre tatsächlich nicht schlecht.“ sagt sie und putzt sich geräuschvoll die Nase mit einem feuchten Taschentuch. „Natürlich, mein Liebes.“ Die Großmutter macht sich zufrieden daran, den Kakao zu bereiten, summt dabei eine Melodie, die Manuela seit Kindheitstagen kennt. „Oma?“ fragt Manuela nach einer Weile. „Ja, Liebes?“ „Ich glaube, ich bin verrückt.“ flüstert Manuela. Sie starrt mit leerem Blick auf den krummen Rücken der alten Frau, die am Herd steht und mit einem Schneebesen in einem Emaille-Topf rührt. „Du glaubst vielleicht, dein Herz zerspringt und dass du nie wieder froh sein wirst. Aber das ist nicht verrückt.“ sagt die erfahrene Großmutter und rührt dabei weiter die Milch um. „Nein Oma, das meine ich nicht.“ flüstert Manuela, neue Tränen laufen über ihr Gesicht. „Was meinst du dann?“ Die Großmutter schüttet den dampfenden Kakao in zwei Tassen. Manuela antwortet nicht. Sie nimmt stumm eine Tasse entgegen, schlürft vorsichtig den heißen Kakao und weint still. Nach weiteren Tränen und düsteren Andeutungen verordnet die besorgte Großmutter schließlich eine starke Beruhigungstablette aus ihrer reichhaltigen Heimapotheke. Manuela schluckt brav die Kapsel, folgt der alten Dame in das angrenzende Schlafzimmer, lässt sich ins Bett legen und mit einer dicken Daunenbettdecke zudecken. „Wenn du wieder aufwachst, fühlst du dich schon ein wenig besser.“ verspricht die Großmutter und streichelt liebevoll durch Manuelas Haar. „Ich werde versuchen deinen Vater zu erreichen. Schlaf gut, Mannie.“ „Danke, Omi.“ Manuela drückt sich in die weichen Kissen, die nach Großmuttersalbe und Kindheitserinnerungen duften. Schnell gleitet sie in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Manuela schwebt körperlos über einem wogenden Flammenmeer, erblickt ferne Berge am Horizont und schreit ihre ohnmächtige Wut über die brennende Ebene hinaus. Zornig steigt sie höher in den nachtschwarzen Himmel, kreist gestaltlos über dem Land, wendet sich schließlich dem Gebirge zu. „Wo bist du?“ schreit sie wütend, denkt sich zu den Bergen und schwebt über den schneebedeckten Gipfeln. Goldene Augen öffnen sich im glitzernden Schnee, starren den träumenden Gedanken an, der Manuela ist. „Du Wichser!“ hallt Manuelas Stimme über die Berge. Ein katzenartiges Wesen mit hellen Flecken im blauschwarzen Fell manifestiert sich auf einem kahlen Felsen und lacht spöttisch. Manuela versucht ein Adler zu werden, aber es gelingt ihr nicht eine Gestalt anzunehmen. Das Katzentier zwinkert aus goldenen Augen zu ihr empor. „Das Opfer war akzeptabel.“ schnurrt es und schlägt verspielt mit dem langen Tüpfelschwanz. „Du dreckiger…“ knurrt Manuela. Sie versucht eine Form anzunehmen, möchte sich auf das feixende Wesen stürzen, kann es aber nicht. Das Katzentier verwandelt sich in einen Steinbock mit gewaltigen Hörnern, springt in eleganten Sätzen über das Schneefeld davon und verschwindet lachend zwischen hoch aufragenden Felsen. Manuela hängt verzweifelt im Himmel und versucht aufzuwachen. Im dunklen Schlafzimmer der Großmutter fährt sie schweißüberströmt aus den Kissen hoch. Sie schält sich halb aus der feuchten Daunendecke, tastet suchend nach dem Schalter der kleinen Nachttischlampe, die neben dem Bett steht. Das matte Licht der alten Glühbirne vertreibt die Finsternis. Eine goldglänzende Gestalt steht am Fußende des Bettes und starrt. Manuela hat keine Schreie mehr. Zitternd sitzt sie im Bett, beginnt leise zu weinen. „Es ist an der Zeit, ein Opfer zu bringen.“ sagt der goldene Mann, der Eriks Gesichtszüge trägt. Seine knisternde Stimme klingt entsetzlich vertraut. „Nein.“ Manuela schüttelt kraftlos den Kopf. „Nicht mehr.“ bittet sie. Die Schreie ihrer Großmutter lassen sie auffahren und an dem Goldwesen vorbei aus dem Zimmer stürmen. „Neinneinnein!“ schreit Manuela. Sie stolpert heulend durch den dunklen Flur, öffnet schwungvoll die Tür zum kleinen Kabinett, das als Gästezimmer dient. „Oma!“ Das schmale Bett, das den engen Raum dominiert steht in Flammen. Die alte Frau, die darinnen liegt, brennt lichterloh. Windet sich in unerträglichen Schmerzen. „Nein!“ schreit Manuela wieder. Sie wirft sich auf die brennende Gestalt, spürt wie gnadenlose Hitze ihre Haut versengt. Der goldene Mann taucht neben ihr auf, reißt sie aus dem Zimmer, wirft sie unsanft auf den Boden des Flures. „Du nicht.“ faucht er, das Knistern in seiner Stimme klingt zornig. „Aaaah.“ schreit Manuela.

Was haben wir?“

Mord.“

Können Sie das etwas genauer erläutern?“

Der Reporter sieht die beiden Polizisten neugierig an, die nach dem verheerenden Wohnungsbrand vor den rauchenden Trümmern des Mehrfamilienhauses stehen. „Wir brauchen einen Leichensack und Sie bessere Fragen.“ sagt er ältere Polizist schlecht gelaunt und geht zu seinem Wagen. Sein jüngerer Kollege bleibt kurz stehen und sieht den Reporter blass an. „Verrückte Sache.“ raunt er, dann folgt er dem Kollegen zum Auto. Der Reporter sieht ihm nachdenklich hinterher. „Aha.“ murmelt er und zündet sich eine Zigarette an. Geduldig wartet er darauf, dass die Leiche abtransportiert wird, um ein Foto vom Leichensack auf der Bahre zu machen. Dann mailt er das Bild an die Redaktion und fährt zum städtischen Krankenhaus, um weitere Informationen zu sammeln. Auf der Intensivstation des Krankenhauses liegt Manuela. Sie hat eine schwere Rauchvergiftung, ernste Verbrennungen und ist nicht ansprechbar. Der Reporter versucht mit Charme und Witz, den Krankenschwestern der Station brisante Details zu entlocken, scheitert aber kläglich. Erst Tage später erfährt er mehr von der Verletzten auf der Intensivstation, die ihre eigene Großmutter angezündet hat. Ihr Zustand ist besorgniserregend, sie reagiert nicht auf Ansprache, zeigt keine Schmerzreaktion. Hundert Euro und ein junger Pflegeassistent spielen bei diesem Erkenntnisgewinn eine entscheidende Rolle. „Sie liegt nur da, starrt an die Decke und flüstert.“ erzählt der Pflegeassistent bei einem heimlichen Treffen in der Parkgarage. „Was flüstert sie denn?“ fragt der Reporter neugierig und macht Notizen. „Sie murmelt immer ‚Oskar, Oskar‘ und irgendwas von ihrer irren Tätowierung.“ Der junge Mann weiß, wie man Geld verdient. Der Reporter bietet einen hohen Betrag für ein Foto der Täterin und ihrer rätselhaften Tätowierung.

Schau mal?“

Hm?“

Krass, oder?“

Ja, voll Krass.“

In einem Schnellrestaurant am Rande einer Kleinstadt sitzen sich fünf junge Erwachsene gegenüber, kauen labbrige Pommes und kalte Burger. Ein iPad wird zwischen ihnen herumgereicht. „Die grausame Feuerteufelin“ titelt der Artikel, der ihre Aufmerksamkeit erregt hat und darunter ist ein verschwommenes Bild von Manuela zu sehen, deren ausgemergelter Körper an Infusionsschläuchen hängt. Ein schärferes Detailfoto zeigt ihre unversehrte Tätowierung. Ein roter Pfeil führt zum Einleitungstext. ‚Jetzt packt der Tätowierer aus: So abartig trieb es die irre Satanistin von Kirchhausen!‘ steht da in Kursivschrift. „Läuft bei der.“ bemerkt ein junger Mann in Jeansjacke betont cool, einer seiner Freunde kichert. „Voll die krasse Berühmtheit.“ sagt eines der Mädchen, in ihrer Stimme schwingt Bewunderung. „Im Irrenhaus vielleicht.“ frotzelt ein Junge und schaufelt Pommes in seinen Mund. „Das Tattoo ist nice.“ schwärmt seine Freundin. „Die hat ihren Lover und ihre Oma abgefackelt.“ hält ein dunkelhaariger Schönling dagegen. Er verteilt arrogante Blicke über seine Sonnenbrille hinweg. „Ich fackel dich auch gleich ab.“ lacht ein pickeliges Mädchen und nimmt das iPad an sich. „Das Tattoo ist echt nice.“ sagt sie in grüblerischem Tonfall und legt nachdenklich den Kopf schief. „Du traust dich doch nie zu einem Tätowierer.“ ätzt der Schönling. „Wetten doch, Bruderherz?“ grinst das Mädchen.

Hey.“

Was kann ich für dich tun?“

Ich möchte einen Termin.“

Bist du schon Volljährig?“

Ein paar Monate sind vergangen. Das pickelige Mädchen steht unsicher in einem Tattoo-Studio und zeigt mit schwitzigen Händen den Personalausweis vor. „Ich hab das Motiv dabei und ich weiß auch genau die Stelle.“ erklärt sie in übereifrigem Tonfall. Der Tätowierer lächelt milde. „Dann zeig mal her.“ brummt er und führt sie an den gläsernen Verkaufstresen, der mit Zeitschriften, Vorlagenmappen und Piercingzubehör übersät ist. Die junge Frau kramt umständlich ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus ihrem quietschgelben Rucksack. „Hier.“ sagt sie und klingt ein bisschen nervös. „Ach.“ seufzt der Tätowierer, als er das Blatt Papier entfaltet. Er nickt und holt eine Vorlage aus einer Mappe, die ganz oben auf einem der Stapel liegt. „Hier, das habe ich schon vorgezeichnet. Das will seit der Katastrophe im Krankenhaus wirklich jeder haben.“ Er zeigt der jungen Frau die stilisierte Vorlage eines katzenartigen Wesens, das sich eng an einen springenden Widder schmiegt. „Genau das will ich.“ freut sich die junge Frau und strahlt. Der Tätowierer zuckt ergeben mit den Achseln.

© sybille lengauer

Schlechte Laune

Veröffentlicht: Mai 5, 2019 in Gedichte
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Kein Frieden.
Kein Frieden.
Wir finden keinen –
Frieden.
Ständig Muss, Kann, Sollte, Wollte.
Immer laut und vollbeschäftigt.
Kaum der Hauch einer Sekunde.
Der nicht angefüllt mit Scheißdreck.
Güter, Worte, Wünsche, Taten.
Die, einmal genau betrachtet.
Nur dem Zweck des Stopfens dienen.
Füllstoff, Billig-Spachtel-Masse.
Wirf’s dem Leben in den Rachen.
Einen Sinn wird es schon haben.
Schließlich braucht es unser Handeln.
Um den Augenblick zu Schönen.
Todesurteil Langeweile.
Hat die Stille aufgefressen.
Und der Fernseher läuft.
Und das Radio brüllt.
Und das Handy kann jetzt Filme.
H&M oder doch Marke?
Ganz egal, Hauptsache kaufen.
So kann man das auch nicht sagen.
Dringend mal die Nägel machen.
Auto waschen, Urlaub planen.
Kurzhaar oder Pagenkopf?
Junge, wie die Zeit vergeht.
Kaum, dass du zum Mensch geworden.
Klappt auch schon der Deckel zu.
Unser Leben für den Fleischwolf.

© sybille lengauer

Bunkeranlage C

Veröffentlicht: Mai 1, 2019 in Kurzgeschichten
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Es ist Frühling in der weitläufigen Gartensphäre der Bunkeranlage C. Sieben Kinder laufen durch das hohe Gras, jagen sich gegenseitig im wuchernden Grün. Ein Mädchen springt leichtfüßig über einen kristallklaren Bach, der sich durch die Wiese schlängelt. Ihr himmelblaues Kleid flattert dabei wild um ihre Beine, spiegelt die Farbe des Himmels. Sie verschwindet lachend zwischen blühenden Apfelbäumen, die auf dieser Seite des Ufers dicht zusammenstehen. Ein anderes Mädchen springt mit einem spitzen Schrei hinterher und folgt ihr in den Apfelhain. Als sie in das Blütenmeer eintaucht, sieht sie einen blauen Stoffzipfel zwischen den Baumstämmen verschwinden. „Ich kriege dich, CaGa!“ ruft sie triumphierend und nimmt die Verfolgung auf. „Ha!“ macht das Mädchen im himmelblauen Kleid nur und taucht flink zwischen den Bäumen hindurch. Sie läuft in einem engen Bogen zurück zum Bach und zu den Kindern, die sich am anderen Ufer fröhlich mit Wasser bespritzen. Ein Junge wirft ihr lachend einen goldenen Ball zu. „Boot!“ schreit CaGa und bleibt stehen. „Das gilt nicht!“ ruft ihre Verfolgerin, die mit hochroten Wangen zwischen den Apfelbäumen hervorschießt. Blütenfetzen hängen in ihren hellblonden Haaren. „Gilt wohl.“ lacht CaGa und tätschelt zufrieden den Ball. „CaBa gibt dir immer das Boot.“ schimpft das blonde Mädchen und rupft sich Apfelblüten aus der zerzausten Frisur. „Das stimmt überhaupt nicht!“ CaGa reißt ihre braunen Augen auf, streckt die Zunge heraus und macht „Bäh-hä“. „Stimmt wohl, ihr seid ein Liebespaar.“ ätzt das blonde Mädchen und stapft durch die Wiese auf CaGa zu. „Du bist eine hässliche Lügnerin, CaDa!“ ruft der Junge daraufhin von der anderen Seite des Baches herüber und bekommt rote Ohren. Die anderen Kinder lachen. „Und du bist eine dreckige Mistgeburt.“ kontert die mit blitzenden Augen. „Es heißt Missgeburt, du ekliger Pickel!“ mischt sich CaGa wieder ein. „Selber Pickel!“ CaDa stürzt sich mit einem grellen Schrei auf CaGa, die Mädchen stolpern und fallen platschend in den Bach. Es spritzt gewaltig, die Kinder schreien hysterisch. Prustend liegen sie im eiskalten Wasser. „C-Einheit!“ ruft eine strenge Stimme und die Auseinandersetzung endet abrupt. Die Mädchen erstarren im Bach, die andern Kinder senken betreten die Köpfe. Eine Arbeiterin rollt zornig über die Wiese. Ihr runder, silbrig glänzender Körper gleitet sirrend über das Gras. „Euer fernbleiben vom Unterricht wird missbilligt.“ schimpft die Arbeiterin. Ihr Augenschlitz leuchtet ungehalten. „Tut uns leid.“ sagt CaGa und klettert mit zerknirschtem Gesichtsausdruck aus dem Bach. Sie hilft CaDa aus dem Wasser, gemeinsam waten die beiden ans Ufer und stellen sich tropfnass zu den anderen Kindern. Der goldene Ball bleibt in der Wiese zurück. „Ihr sollt nicht meinen, dass es mit einer Entschuldigung getan ist. Der Schwarm vergisst nicht.“ versetzt die Arbeiterin und rollt zum Ausgang. Die Kinder folgen ihr mit langen Gesichtern. Am Tor schalten sich die holografischen Verstärker ab, mit denen die Erscheinung der Gartensphäre unterstützt wird. Der Garten verliert seine üppige Vielfalt, gleicht jetzt mehr einem unterirdischen Gewächshaus, als einem wuchernden Paradies. Der strahlend blaue Himmel verschwindet, der Bach wird zu einem einfachen Bewässerungskanal. Der dichte Apfelhain besteht aus ein paar dürren Bäumen in Pflanzkübeln, die kaum Blüten tragen. Das hohe Gras der Wiese schrumpft zu einfachem Rollrasen zusammen, in dem ein gelber Gummiball liegt. CaGa blickt kurz zurück und schüttelt bedauernd den Kopf. Dann trottet sie hinter den anderen Kindern her, die der Arbeiterin zum Unterrichtsraum folgen.
„Es mag euch vielleicht unbegreiflich erscheinen, doch meine Lehren haben einen größeren Wert für eure Zukunft als die kindlichen Spiele, die ihr in den Sphären spielt.“ Der ehrwürdige Meister schwebt ungehalten im Klassenzimmer auf und ab. Sein tonnenförmiger Leib dreht sich langsam um die eigene Achse, während er die sieben Kinder durch sein rotes Okular mustert. „Es zeugt von Unreife und Respektlosigkeit gegenüber dem Schwarm, dem Unterricht unerlaubt fernzubleiben.“ Die Kinder sitzen still an ihren Pulten und starren betreten auf ihre leeren Bildschirme. CaGa und CaDa haben trockene Kleider an. Sie sitzen heute besonders weit auseinander und beachten sich möglichst offensichtlich nicht. „Die Mathematikstunde, die ihr durch euer Schwänzen verpasst habt, werdet ihr heute Nachmittag in einer Doppelstunde nachholen. Der Freizeitaufenthalt in der Wassersphäre entfällt.“ sagt der Meister und schwebt in die Mitte des Raumes. Er aktiviert seinen Projektor und wirft ein bewegtes Bild an die hellgraue Betonwand des Klassenzimmers. Die Kinder stöhnen. „Eurer Reaktion entnehme ich, dass ihr bereits alles über den Beginn des vierten Vernichtungskrieges wisst. Vielleicht möchte also jemand von euch erzählen, was heute vor genau zweihundert Jahren in Europa geschehen ist? Du vielleicht, CaAa?“ Der angesprochene Junge reißt erschrocken die Augen auf. „Die…ich…der…“ stottert er, dann bricht er ab und zuckt ratlos mit den Schultern. CaDa meldet sich eifrig zu Wort. Der ehrwürdige Meister blinkt ihr auffordernd zu und CaDa holt tief Luft: „Während der drei großen Vernichtungskriege, die auf die Machtergreifung der MaXx-Corporation in China folgten, schlossen sich die unabhängigen Firmen Europas zu einer vereinten Großmacht zusammen. Der United-Europe, kurz UE. Zwischen den Jahren 2343 und 2346 gelang es der UE, den globalen Markteinfluss der MaxX-Corporation massiv zu schwächen, indem man gezielt Saboteure in chinesische Produktionsanlagen einschleuste. Die Verlustzahlen unter der menschlichen Bevölkerung waren aufgrund dieser veränderten Strategie gering, was die Akzeptanz in der europäischen Arbeiterschaft stärkte und die Macht der UE stützte. Doch gelang es einer Gruppe von chinesischen Rebellen, am ersten Mai 2347…“ „Danke, CaDa, das genügt.“ würgt der ehrwürdige Meister ihren monotonen Vortrag ab. CaGa kichert gehässig. „Kann mir jemand etwas über den Beginn des vierten Vernichtungskriegs erzählen, ohne dabei von einem Bildschirm abhängig zu sein?“ fragt der Meister gereizt. „Ich habe nicht abgelesen!“ wehrt sich das Mädchen empört. „Nein, du hast den Text auswendig gelernt. Das ist nicht besser.“ versetzt der Meister. „Aber…“ hebt CaDa an, sich zu verteidigen. „Nichts aber.“ Der Meister schwebt zu ihrem Pult und betrachtet CaDa streng durch sein rotes Okular. „Es hat keinen Mehrwert, einfach nur Daten in dein Gehirn zu stopfen. Du kennst die Zahlen und Fakten, aber du begreifst nicht die Sensibilität der Ereignisse, die zur Entstehung des… CaGa, was amüsiert dich so sehr?“ Der ehrwürdige Meister wendet sich drohend dem kichernden Mädchen zu. CaGa errötet, das hämische Grinsen verschwindet schlagartig aus ihrem Gesicht. „Nichts, Ehrwürdiger.“ murmelt sie verlegen. „Dein Verhalten wird registriert.“ versetzt der Meister. „Nun, wo waren wir?“ fragt er ungehalten und schwebt wieder zurück in die Mitte des Raumes. Ein Mädchen aus der hinteren Reihe meldet sich. „Ja, CaEa?“ „Die Anschläge vom ersten Mai 2347, Ehrwürdiger. Die Auslöschung Europas.“ „Sehr gut, CaEa.“ brummt der Meister und wirft ein neues, bewegtes Bild an die Betonwand.
Der Vormittag vergeht zäh, der Unterricht will nicht enden. Die Kinder quälen sich durch die Geschichtsstunde, hören dutzende Beispiele ausgestorbener Sprachen, notieren Stichworte über die klassische KI des letzten Jahrhunderts und zeichnen zum Abschluss den genauen Aufbau des Schwarmbunkers auf ihren Bildschirmen nach. In der Mittagspause werden sie von einer Arbeiterin abgeholt. Die bringt sie allerdings nicht, wie üblich, in die kleine Mensa, sondern führt die Kinder zurück zur Gartensphäre. „Euer Spiel hat Schäden an den Pflanzen verursacht. Behebt sie.“ lautet ihre knappe Anweisung. Die Kinder trotten ergeben in die Sphäre und machen sich mit knurrenden Mägen daran, die Anlage aufzuräumen. Niemandem ist mehr zum Lachen zumute. Der Nachmittag bringt die angekündigte Doppelstunde Mathematik und eine Menge Hausaufgaben. Ein Helfer des ehrwürdigen Meisters schwebt wachend über den Kindern, die hungrig und gereizt vor ihren Bildschirmen hocken. CaDa wühlt erschöpft durch ihr blondes Haar und seufzt tief. Sie sieht zu CaGa hinüber, die gerade erfolglos versucht, ein Gähnen zu unterdrücken. Heimlich streckt sie ihr die Zunge heraus, dann wendet sie sich wieder ihrem Bildschirm zu. Die Minuten vergehen zäh, die Hausaufgaben werden nicht weniger. Eine Arbeiterin bringt schließlich Erlösung, als sie die Kinder zu einem späten Essen in die Mensa geleitet. Gierig saugen sie dort die warmen Nährbrei-Portionen in sich hinein, während zwei Hegerinnen zwischen den Sitzreihen umhergleiten und mit ihren weichen Tentakeln über die Körper der erschöpften Kinder streicheln. Es ist ein altes Ritual. Berührung stärkt Zusammenhalt. Satt und müde geht es nach dem Essen zurück in den Unterrichtsraum. Die Kinder haben Mühe, sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. CaDa kommt nicht über den ersten Satz ihres Referats hinaus und malt gelangweilt Blumen an den Rand des Bildschirms. In ihrem Rücken tuscheln CaBa und CaFa leise miteinander, bis der aufmerksame Helfer missbilligend piept und zur Ruhe auffordert.
Als die Kinder endlich in den Abend entlassen werden, schlurfen sie auf direktem Weg zur Schlafsphäre der Bunkeranlage C. Niemandem steht der Sinn nach einem Abenteuer. CaDa und CaGa trotten friedlich nebeneinander her, die Müdigkeit hat den Groll vertrieben. „C-Einheit!“ ruft eine Arbeiterin, als sie gerade in ihre weiche Nachtmutter kriechen wollen, „Habt ihr nicht etwas vergessen?“ Die Kinder schlüpfen zurück auf den kalten Boden der Sphäre, knien nieder und beginnen gemeinsam, ein kleines Gebet zu sprechen: „Lieber Schwarm, ich bin noch klein, kann so vieles nicht allein. Drum lass Maschinen sein auf Erden, die mir helfen, groß zu werden. Die mich nähren, die mich kleiden, die mich führen, die mich leiten. Ich bitte euch für diese Nacht, dass ihr mich im Schlaf bewacht. Dass kein Böser Traum mich weckt, und das Dunkle mich nicht schreckt. Amen.“ „Sehr gut.“ sagt die Arbeiterin zufrieden und gleitet zum Ausgang. Sie aktiviert die holografischen Verstärker, die einen glitzernden Sternenhimmel an die hohe Decke der Schlafsphäre projizieren und gleitet leise durch das Tor hinaus.

© sybille lengauer