Archiv für Oktober, 2019

secondlifebienen

Samstag, 9.November: Sybille Lengauer und David Pawn lesen live – Vorschau auf die Bühnenbilder

Am Samstag, den 9. November 2019 präsentieren wir euch ein Double Feature. Space Science Fiction von Sybille Lengauer und Aetherpunk von David Pawn. Ab 20 Uhr wird Sybille Lengauer live für euch lesen. Euch erwartet düstere Space Science Fiction auf der von Barlok Barbosa gestalteten Bühne. Lasst euch überraschen. Danach, ab 21 Uhr startet David Pawn mit seinem „Doktor Grünhand“, eine Aetherpunk Spionage Story angesiedelt in Anja Bagus Aetheruniversum allerdings rund 60 Jahre weiter in der Zukunft, also in den 60er Jahren des 20. Jahrhundert. Ich bin gespannt.
Die Bühne baut Barlok Barbosa.

Treffpunkt für beide Lesungen: Link zum Treffpunkt in SL

Die Lesung wird übertragen auf: http://www.radio-rote-dora.org

secondlifebienen2

Herbstlied

Veröffentlicht: Oktober 22, 2019 in Gedichte
Schlagwörter:, , , ,

Herbstlied

Endlich ist’s wieder stürmisch geworden.
Tosende, wogende Zeit.
Der Wind birgt Geschichten,
Vom Schnee aus dem Norden.
Endlich ist es soweit.

Endlich ist’s wieder neblig geworden.
Wattig verschwommene Zeit.
Die Krähe prahlt stolz,
Mit dreisten Jungvogelmorden.
Endlich ist es soweit.

Endlich ist’s wieder herbstlich geworden.
Pilzschwere, modrige Zeit.
Das Laub erstrahlt golden,
Und doch ist es verdorben.
Endlich ist es soweit.

Endlich ist’s wieder finster geworden.
Lichtfern verdunkelte Zeit.
Die Nacht flüstert leise,
Vom Eis in den Fjorden.
Endlich ist es soweit.

© sybille lengauer

Die Köchin

Wenn Antonia Wimmer sich ärgerte, begann sie zu kochen. Nicht etwa vor Zorn, wie es einem profaneren Charakter als dem ihren unterlaufen wäre, nein, Antonia Wimmer stand krummbeinig in ihrer wohlsortierten Küche und bereitete Fleischgerichte zu. Als Tochter des Fleischermeisters Adrian Wimmer hatte Antonia bereits seit früher Kindheit eine innige Beziehung zu Fleisch und dessen Verarbeitung entwickelt. Gerne erinnerte sie sich an die Momente stillen Glücks, in denen sie dem Vater bei seiner Arbeit hatte assistieren dürfen. Manchmal erzählte sie ihren vier Windhunden kleine Anekdoten aus jenen Tagen, die so fern in der Vergangenheit lagen, dass die Erinnerungen sich in ihrem Kopf anfühlten wie alte Polaroidfotos. „Immer wenn wir Schmalz auskochten, gab das diesen ganz speziellen Geruch. Ähnlich wie bei der Schlachtung, wenn du die Haut abbrühst, wegen der Borsten. Ein Schwein riecht eben wie ein Schwein, von Innen wie von Außen und wenn du es auskochst, weiß gleich ein Jeder, der eine Nase hat: Aha, lecker Schwein! Das ganze Dorf kam zum Hof gelaufen, wenn wir unser Schmalz kochten.“ erzählte Antonia zum Beispiel und die Salukis lagen aufmerksam zu ihren Füßen und schauten auf jede Bewegung ihrer Lippen, die sich bisweilen zu einem kleinen Lächeln verzogen. Der Vater, von dem sie so gerne erzählte, war schon lange tot und begraben, ebenso ihre Mutter und die vier Geschwister, allesamt von Antonia überlebt, die sich dem siebzigsten Lebensjahr näherte. Sie bewohnte immer noch den alten Hof der Familie, der etwas abgeschieden am Rand einer rasch wachsenden Kleinstadt lag und obwohl der Hof für Antonia alleine längst viel zu groß geworden war, konnte sie sich nicht an den Gedanken eines Umzugs gewöhnen. „Ich bin vielleicht schon etwas rostig, aber immer noch rüstig!“ stellte sie lachend fest, als sich ihre Nachbarin Rita Bergheim einmal vorsichtig nach ihren Plänen für die Zukunft erkundigte. Antonia Wimmer lachte gern, sie war eine fröhliche, kernige alte Dame.
An diesem verregneten Oktoberabend war Antonia Wimmer jedoch nicht nach Gelächter zumute. Auf das Höchste verärgert stand sie in ihrem Wohnzimmer und stierte durch dicke Brillengläser auf eine schwarz vermummte Gestalt hinab, die zusammengekrümmt an einen einfachen Holzstuhl gefesselt war und aus einer schrecklichen Kopfwunde blutete. Das rundliche Gesicht in zornige Falten geworfen, einen stämmigen Arm in die breite Hüfte gestemmt, starrte Antonia kurzsichtig auf die zitternde Gestalt hinab, der alte Nothammer, der dem Fremden die üble Platzwunde zugefügt hatte, lag locker in ihrer rechten Hand. Ihre Hunde saßen stumm um den Einbrecher herum und hechelten. Als Wachhunde waren die Salukis keine große Hilfe, doch Antonia verließ sich ohnehin ganz auf ihren Nothammer. „Was haben Sie in meinem Haus zu suchen?“ fragte sie den Gefesselten drohend. „Es tut mir leid.“ murmelte der Mann leise. „Ich habe nicht um eine Entschuldigung gebeten.“ Antonias Stimme klang kalt und abweisend, der Fremde auf dem Holzstuhl zitterte noch etwas mehr, sein Kopf neigte sich leicht zur Seite. „Entschuldigung.“ flüsterte er, dann begann er das Bewusstsein zu verlieren. Antonia trat grob nach seinem Schienbein. „Hier geblieben.“ grollte sie finster und ihr Gesicht verzog sich zu einer düsteren Grimasse. Die Hunde, die ihre Verstimmung spürten und wussten, wozu sie in einer solchen Gemütsverfassung fähig war, verkrochen sich winselnd auf ihre Decken im Flur. Der Vermummte tauchte mit einem schmerzerfüllten Stöhnen aus seiner Ohnmacht auf. Antonia beugte sich nah an ihn heran und zog mit einer kraftvollen Bewegung die schwarze Skimütze von seinem Kopf. Ein blasses Gesicht, kaum älter als fünfundzwanzig Jahre, von Blut und Rotz zu einer Maske des Elends verschmiert, kam darunter zum Vorschein. „Du meine Güte.“ entfuhr es Antonia Wimmer bestürzt. „Du bist ja noch ein Küken!“ In der überraschten Stille war der gehetzte Atem des wehrlosen Mannes laut im Wohnzimmer zu hören. Doch Antonia überwand ihre Bestürzung rasch, mit einem kleinen Räuspern begann sie den Nothammer zu schwingen. „Nun gut.“ stieß sie brüsk hervor. „Hast du noch etwas zu sagen?“ Der Einbrecher starrte auf den schwingenden Nothammer und begann laut zu weinen, aus dem Flur antwortete das besorgte Winseln der Hunde. „Ich meine es ernst, mein Junge.“ grollte Antonia Wimmer. „Zegrete.“ nuschelte der Fremde mit entsetzensschwacher Stimme. „Wie bitte?“ Der Nothammer schwang immer schneller in Antonias Hand, ruhig verlagert sie das Gewicht ihres Körpers auf das rechte Bein, um einen besseren Stand zu haben. „Zigarette. Eine Zigarette. Bitte.“ sprudelte es aus dem jungen Mann heraus, Tränen und Rotz liefen hemmungslos über sein angstverzerrtes Gesicht. „Ach, ein Raucher. Das ist schade.“ sagte Antonia und schlug erbarmungslos zu. „Ich wollte saure Lunge machen, aber das kann ich ja wohl vergessen. Nun gut.“ Antonia holte noch einmal aus und versetzte dem zuckenden Körper einen finalen Schlag gegen den Schädel. „Dann eben Sauerbraten.“ schnaubte sie.

*

Antonias Sauerbraten:
Sud: Drei kräftige Spritzer Essigessenz auf 1 ½ Liter Wasser, dazu die Scheiben einer großen Gemüsezwiebel, Lorbeer, Gewürznelken und Wacholder in rationalen Mengen. Den Sud aufkochen und anschließend erkalten lassen.
Fleisch: Vom Rind empfiehlt sich das Falsche Filet, knapp 1 ½ Kilo. Vom Einbrecher, der sich leider als Raucher entpuppt, bietet sich ein Schinkenbraten von vergleichbarem Gewicht zur Verarbeitung an.
Zubereitung: Den Braten für eine Woche ins kalte Sudbett legen und an einem kühlen Ort aufbewahren. Am Tag vor der Zubereitung das Fleisch abtropfen lassen, rundherum mit mittelscharfem Senf bestreichen und scharf anbraten, bis es schön gebräunt ist. Mit dem Sud ablöschen, aufkochen und erneut über Nacht zur Ruhe stellen. Am nächsten Tag bei mäßiger Hitze zwei Stunden lang simmern lassen. Das Fleisch ist nun butterzart und bereit für den Tisch. Für die Sauce empfiehlt es sich, ein wenig von Antonias hausgemachter Gemüsebrühe mit dem reduzierten Sud zu vermengen. Pfeffer aus der Mühle darf nicht fehlen und ein Glas Rübenkraut, um dem Essig die Spitze zu nehmen. Mit Mehl abbinden und fertig ist die wunderbare Sauce zum Sauerbraten. Die beigefügten Rosinen verstehen sich von selbst.
Als Beilage bereitet Antonia gerne Salzkartoffeln aus dem eigenen Garten und gedünsteten Rosenkohl mit einem Stich Butter zu. Saisonal können diese Beilagen jedoch variieren.
Dessert: Cremé Catalan. 1 Liter Milch, 10 Eigelb, 2 Päckchen Vanillezucker, etwa 40 Gramm Speisestärke. Das Mark einer Vanilleschote nicht zu vergessen und eine geriebene Tonkabohne. Bei Bedarf Zucker, denn Antonia mag es lieber weniger süß. Die Zutaten unter rühren aufkochen, die heiße Masse in Schälchen füllen und erkalten lassen. Mit einer zarten Schicht aus braunem Rohrzucker bestreuen und karamellisieren. Dazu passen frisch gepflückte Himbeeren.

*

Rückblickend war Antonia Wimmer froh, sich für das Sauerbraten-Rezept entschieden zu haben. Die sieben Tage, die der Braten im Sud benötigte, verbrachte sie mit der Beseitigung der restlichen Leiche und so hatte sie, während der schweißtreibenden Arbeit des Zerlegens, immer ein lukullisches Ziel vor Augen, auf das sie sich freuen konnte. Ein Großteil des jungen Mannes landete im massiven Fleischwolf, den Antonia aus der Fleischhauerei des Vaters übernommen hatte. Zerkleinert, vorgekocht und portionsweise mit Gemüse eingefroren, wanderte das Fleisch als Hundefutter für den Winter in eine der großen Gefriertruhen im Keller. Besondere Stücke wurden eingeschweißt, sorgfältig beschriftet und im Gefrierschrank in der Küche eingelagert. „Filet vom Jungschwein X“ schrieb Antonia in ihrer feinsäuberlichen Handschrift, oder „Braten vom Jungschwein X, 2Kg“. Knochen, Zähne, Haare und Nägel des Toten wurden in einer speziellen Mühle zu feinem Pulver gemahlen und dem Hühnerfutter beigemengt. Antonia Wimmer hielt ausgesprochen schöne Legehennen, deren Eier in der ganzen Region für ihre dunkelgelben Dotter und die besonders kräftige Schale bekannt waren. Was von dem gescheiterten Einbrecher noch übrig blieb, wanderte zerkleinert auf den riesigen Komposthaufen, um den mächtigen Kürbispflanzen, die sich dort umeinander rankten, als Dünger zu dienen.
Am Tag des Anbratens telefonierte Antonia Wimmer mit ihrer Nachbarin Rita Bergheim, um sie für den kommenden Mittag zum großen Sauerbratenschlemmen einzuladen. Rita Bergheim nahm die Einladung mit Freuden an, seit ihr Mann Willi an einem Herzinfarkt verstorben war, bereitete sie nur noch einfache Fertiggerichte für sich zu, die Aussicht auf den Genuss eines herrlichen Sauerbratens versüßte ihren Tag. Und so saßen die beiden Damen genüsslich schmausend an Antonia Wimmers herbstlich dekoriertem Esstisch, als Polizeiinspektor Brandt herrisch an die Eingangstür klopfte. Mit großspurigen Worten und ausladenden Gesten stapfte er ins Haus und wollte sich selbst durch einen angebotenen Teller Sauerbratens nicht erweichen lassen, kurz am Tische Platz zu nehmen. Drängende Fragen lagen ihm auf der Zunge, enormer Termindruck lastete auf seinem breiten Kreuz, Frau Wimmer müsse verstehen. Antonia setzte sich zurück an den Esstisch und tauschte vielsagende Blicke mit Rita Bergheim aus. Polizeiinspektor Brandt ragte breitschultrig in den Raum und legte unverzüglich sein Anliegen dar: Ein junger Mann aus dem Drogenmilieu werde seit einer Woche vermisst, er habe in der Szene damit geprahlt, Antonia Wimmers Hof überfallen zu wollen. Freunde hätten ihn am letzten Donnerstag in der Nähe ihres Grundstücks abgesetzt, der Vermisste sei aber nicht zum vereinbarten Treffpunkt zurückgekehrt. Seine Lebensgefährtin habe sich nun, in tiefster Besorgnis, an die Polizei gewandt. Natürlich sei ihm und dem gesamten Polizeiapparat die bizarre Situation ausgesprochen unangenehm, doch müsse man einer jeden Spur auf den Grund gehen. Der Polizeiinspektor war während seiner umständlichen Rede ganz atemlos geworden, mit rotem Kopf stand er vor den unbeeindruckt wirkenden Damen und rang um Luft. „Und was habe ich mit dieser leidigen Angelegenheit zu schaffen?“ fragte Antonia Wimmer, die ihren leergegessenen Teller von sich schob und mit strenger Miene damit begann, ihre Brille zu reinigen. Die überhebliche Selbstsicherheit der alten Frauen verunsicherte Inspektor Brandt bis in die Knochen, der sich plötzlich an die Zeit bei seiner herrischen Großmutter und an ihre hundsgemeinen Ohrfeigen zurückerinnert fühlte. Ohne es zu bemerkten, griff er sich an die linke Wange, die in seinen Kindertagen so oft von ihrem harten Schlag gebrannt hatte. „Nun, war er hier?“ fragte er unbeholfen. „Wer?“ fragte Antonia zurück, sie schob sich energisch die Brille auf die Nase zurück und starrte durch spiegelblanke Augengläser zum schwitzenden Inspektor empor. „Nun, der Vermisste.“ antwortete der ein wenig hilflos. „Wo, hier?“ Antonia deutete auf ihr sauber aufgeräumtes Wohnzimmer, Inspektor Brandt folgte ihrer Handbewegung mit geröteten Augen. Sein Blick glitt über eine handelsübliche Schrankwand, einen altertümlichen Röhrenfernseher, diverse Hundebettchen und Topfpflanzen. „Ja, Frau Wimmer,“ erwiderte Brandt mit einem Schulterzucken. „haben Sie ihn gesehen?“ „Wissen Sie, Inspektor, ich sehe mittlerweile leider wirklich sehr schlecht. Aber den Hunden wäre es bestimmt aufgefallen, wenn sich jemand hier herumgetrieben hätte. Ist euch jemand aufgefallen, meine Lieben?“ Umständlich drehte sich Frau Wimmer zu den Windhunden um und nickte aufmunternd. Die Salukis, die sich bei der Ankunft des Polizeiinspektors nicht von ihren Plätzen bewegt hatten, hoben kurz die Köpfe und wedelten sanftmütig. „Sieht nicht so aus.“ murmelte Inspektor Brandt resigniert. „Wie bitte?“ fragte Antonia Wimmer streng. „Es hat nicht den Anschein!“ schrie der Inspektor übertrieben laut. „Nun gut, ich muss weiter! Ich lasse Ihnen meine Karte hier, nur für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt! Vielen Dank für das Gespräch!“ Die alte Dame erhob sich nicht von ihrem Platz, sie sah dem Inspektor mit hochgezogener Augenbraue hinterher, der eilig das Wohnzimmer verließ, draußen in seinen schwarzen Mercedes flüchtete und mit quietschenden Reifen vom Hof fuhr. Ärgerlich schob Antonia Wimmer die Oberlippe vor, der Appetit auf die Cremé Catalan war ihr vorerst gründlich vergangen. „Was für ein unerfreulicher Mensch.“ bemerkte sie zu ihrer Nachbarin. „In der Tat, meine Liebe. Poltert hier herum wie ein Oberst im Weinarsenal!“ scherzte Rita Bergheim, die sich bereits am dritten Glas Bier gütlich getan hatte, und den Groll in Antonias Stimme überhörte. „So einen hatten wir schon einmal hier, so einen ‚Oberst‘.“ Antonia rümpfte bei dem Wort die Nase, sie erhob sich ächzend von ihrem Platz, um eine weitere Flasche Bier aus dem Kühlschrank zu holen. „Im großen Krieg, da stand er eines Abends auf dem Hof. Und mit ihm fünf Mann, allesamt näher am Tod als am Leben.“ Antonia kehrte zum Tisch zurück und schenkte Bier nach. Ihr Blick ging in weite Ferne, ihre Stimme bekam einen mädchenhaften Klang, als sie von der Vergangenheit erzählte. „Der Winter war schon fast vorbei, aber trotzdem wären sie draußen zugrunde gegangen.“ erzählte sie andächtig. „Und was habt ihr dann gemacht?“ fragte Rita Bergheim, die den großen Krieg in einem anderen Bundesland erlebt hatte. „Dann haben wir Gulasch gemacht.“ sagte Antonia Wimmer resolut und stellte die leere Bierflasche auf den Tisch.

*
Antonias Gulasch:
Zutaten für die Gewürzmischung: 2 Teile Paprikapulver Edelsüß und 1 Teil Paprikapulver Rosenscharf vermengen. Nach Bedarf gemahlenen, weißen Pfeffer zugeben.
Fleisch: Vom Hirsch nimmt man gewöhnlich Schulter oder Rippenfleisch, mindestens 2 Kilo. Bei der Verarbeitung von größeren Mengen Offiziers- oder Soldatenfleisches kann die Keule bedenkenlos empfohlen werden.
Zubereitung: Das Fleisch in mundgerechte Stücke schneiden und in einer Marinade aus Waldhonig, Rotwein und weißem Pfeffer ruhen lassen. In der Zwischenzeit zwei große Gemüsezwiebeln würfeln. Öl in einem hohen Topf erhitzen, die vorbereitete Gewürzmischung unter ständigem Rühren beifügen. (Hier ist größte Vorsicht angeraten, denn das Paprikapulver darf nicht verbrennen, sonst verdirbt es das Gulasch mit seinem bitteren Geschmack.) Nun die Zwiebeln zugeben und bis zur Glasigkeit anbraten, dann das marinierte Fleisch zufügen. Haben die Fleischstücke Farbe bekommen, wird mit einem guten Liter Suppe abgelöscht. Zwei Lorbeerblätter beigeben und das Gulasch zugedeckt köcheln lassen, bis das Fleisch bei geringem Gabeldruck auseinanderfällt. Vor dem Servieren mit Antonias Suppengemüse und etwas Salz abschmecken.
Als Beilage eigenen sich besonders gut hausgemachte Spätzle, dazu werden 250 Gramm Mehl, 50ml lauwarmes Wasser, 3 Eier und eine Prise Salz benötigt. Eier, Wasser und Salz verrühren und das Mehl langsam einarbeiten. Den Teig rühren, bis er fest, aber leicht fließend ist. Sollte die Masse zu flüssig sein, kann man noch etwas Mehl beimengen. Die Spätzle in kochendes Salzwasser schaben und wieder herausnehmen, wenn sie an der Oberfläche schwimmen. Die Spätzle abschrecken, abtropfen lassen und mit einem Klecks Butter in einer Pfanne anschwenken. Dazu schmeckt grüner Salat mit einem leichten Dressing.
Dessert: Herrencreme, Antonia schwört auf ihren selbstgemachten Vanillepudding, dazu braucht man 500ml Milch, 75 Gramm Puderzucker, 4 Eigelb, 30 Gramm Speisestärke und eine Vanilleschote. Die Milch wird mit dem Mark der Vanilleschote aufgekocht, in der Zwischenzeit werden die Eigelb mit dem Puderzucker aufgeschlagen, bis sich eine dicke Masse gebildet hat. Die Speisestärke unterrühren und dann die Masse, unter ständigem Rühren, zur Milch geben. Aufkochen und anschließend erkalten lassen. Für ordentliche Herrencreme empfiehlt es sich, Österreichischen Rum zu nutzen, doch Vorsicht bei der Dosierung, der Alkohol braucht eine Weile, um sein ganzes Geschmackspotential zu entfalten. Die Herrencreme könnte sonst zu kräftig werden. Den Rum mit dem Pudding verrühren, bis eine glatte Masse entsteht, grob gehackte Stücke Bitterschokolade unterheben. Die Herrencreme kaltstellen und vor dem Servieren mit einem Sahnehäubchen garnieren.

*

Drei Wochen vergingen und Antonia Wimmer hatte die Begegnung mit dem unerfreulichen Menschen Brandt schon längst wieder vergessen, da fuhr dieser an einem späten Novembernachmittag erneut auf ihrem Hof vor. Die alte Dame, die sich zu einem ausgedehnten Mittagsschläfchen auf die Couch gebettet hatte, wunderte sich nicht wenig über sein ungeschlachtes Benehmen, der Polizeiinspektor trampelte mit lehmverkrusteten Schuhen in ihr Wohnzimmer und stellte unerwünschte Fragen. Diesmal hatte er sogar Zeit mitgebracht und so wanzte er sich unaufgefordert an Antonias Esstisch und bat um Kaffee. Frau Wimmer gewährte ihm den Wunsch und reichte ein paar selbstgebackene Kekse dazu, die der Polizeiinspektor mit großem Appetit verschlang. „Er ist also nicht wieder aufgetaucht?“ fragte sie unschuldig, während Brandt ein duftendes Ingwerplätzchen in seinen Kaffee tauchte. „Leider nicht.“ nickte der Polizeiinspektor kauend. „Es ist eine Schande.“ „Sie haben wirklich nichts bemerkt, an jenem Abend?“ Brandt verschlang den letzten Keks und starrte betrübt auf den leeren Teller mit Zwiebelmuster. Antonia Wimmer las seinen Blick, sie erhob sich langsam und holte Nachschub aus der Küche. Bei ihrer Rückkehr schenkte sie dem Inspektor ein kühles Lächeln. „Vielleicht wollte er ja ein neues Leben anfangen?“ überlegte sie laut. „Wer?“ fragte Brandt, der nur Augen für die Kekse hatte, die auf dem Teller drapiert wurden. „Na, der Junge.“ sagte Antonia. Sie setzte sich und verzog ein wenig das Gesicht, in dieser Jahreszeit machte sich ihr künstliches Hüftgelenk gerne bemerkbar. „Kann ich mir nicht vorstellen.“ brummte der Polizeiinspektor, und: „Ihnen ist also wirklich nichts aufgefallen?“ Antonia Wimmer schüttelte den Kopf. Sie setzte zu einer Antwort an, unterbrach sich selbst und versank in einem nachdenklichen Schweigen, das nicht enden wollte. Eine unangenehme Stille breitete sich im Wohnzimmer aus und Inspektor Brandt empfand ein beklemmendes Gefühl, das sich seiner vom Steißbein aufwärts bemächtigte. Wähnte er sich eben noch im Plätzchenparadies, so kehrte er nun unsanft in die harte Realität an Antonia Wimmers Esstisch zurück. Vor ihm saß eine runzlige, alte Frau und stierte mit abwesendem Blick ins Nichts. „Frau… Frau Wimmer?“ Der Polizeiinspektor schluckte trocken, beinah ehrfurchtsvoll wartete er auf eine Reaktion der betagten Dame. Doch Antonia Wimmer dachte gar nicht daran, zu reagieren. Sie stellte sich absichtlich ein wenig senil, um den Inspektor in die Irre zu leiten und von seinen Fragen abzulenken. „Frau Wimmer?“ Inspektor Brandt beugte sich in seinem Sessel nach vorn, ganz nah kam er mit seinem Gesicht an das ihre heran. Antonia nutzte den angespannten Augenblick, um aus ihrer Starre zu erwachen. Ruckartig wandte sie sich dem Inspektor zu und sah ihm direkt in die Augen. Brandt kreischte und fegte die Kaffeekanne vom Tisch.
Fragen wollte er nach diesem peinlichen Zwischenfall keine mehr stellen und fertig war er auch, das konnte er versichern. Mit hochroten Ohren ließ Brandt sich von der betagten Dame beruhigen, die es sich nicht nehmen ließ, die Scherben der Kaffeekanne selbst aufzusammeln. Erleichtert atmete er aus, als sie ihn anschließend zur Tür begleitete und mit wenigen Worten verabschiedete. Zum zweiten Mal fuhr der Inspektor mit quietschenden Reifen von Antonia Wimmers Hof. „Er wird ein wenig lästig, nicht wahr?“ fragte Antonia ihre Hunde, nachdenklich sah sie den Rücklichtern seines Wagens hinterher, die schnell in der Dunkelheit verschwanden. Zwei lange Tage und Nächte grübelte Antonia Wimmer über dem Problem, das der neugierige Polizeiinspektor für sie darstellte. Am dritten Tag, dem ersten Advent, kam ihr Frühmorgens die zündende Idee. „Er war ganz versessen auf die Kekse.“ überlegte Antonia laut, während sie die Salukis mit aufgewärmtem Einbrecher/Gemüsemix fütterte. „Bald ist Weihnachten!“ Und so fuhr Antonia Wimmer wenige Tage später mit einem adrett geschnürten Päckchen, adressiert an den netten Herrn Polizeiinspektor Brandt, Polizeistation 1; zur nächstgelegenen Poststelle. Und nur einen Tag darauf freute sich der nette Polizeiinspektor Brandt über eine liebevoll arrangierte Keksvariation, die als Weihnachtsgruß auf seinem Schreibtisch landete. Gierig, wie er nun einmal war, verschlang er die wohlschmeckenden Kekse bereits auf dem Nachhauseweg.
Rita Bergheim war es, die aus der Tageszeitung von seinem Ableben erfuhr und Antonia Wimmer davon erzählte. „Plötzliche Krankheit. Was meinst du, meinen die mit plötzlicher Krankheit?“ fragte Rita mit echter Betroffenheit in der Stimme, sie hatte ihre Lesebrille zuhause vergessen und hielt nun die Zeitung auf Armeslänge von sich, um die Todesanzeige studieren zu können. „Wahrscheinlich Herzinfarkt. Er sah ja nicht gerade gesund aus.“ antwortete Antonia, die auf einem Schemel saß und hingebungsvoll ihre Windhunde bürstete. „Theodor hieß er. Komisch, der sah gar nicht wie ein Theo aus, oder was meinst du?“ plapperte Rita Bergheim, deren Mundwerk gerne auf Autopilot schaltete, wenn ihr Gehirn überfordert war. „Das ist mir sowas von egal.“ lachte Antonia Wimmer, sie legte die Bürste zur Seite und strich zufrieden über das seidenweiche Fell eines Hundes.

*

Antonias Weihnachtsplätzchen:
Teig: 125 Gramm Butter, 125 Gramm gemahlene Haselnüsse, 125 Gramm Puderzucker, 1 Prise Neugewürz, 2 Teelöffel Zimt, etwas Salz, 280 Gramm Mehl, 1 Päckchen Vanillezucker, Digitalis (geheime Menge)
Kuvertüre oder Zuckerguss nach Geschmack.
Die Zutaten werden zu einem einfachen Teig verarbeitet (Bei der Zugabe von Digitalis ist, wie bei der Gewinnung der Droge, größte Vorsicht angeraten, denn schon geringer Hautkontakt kann zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Das tragen von Handschuhen wird bei der Zubereitung der Weihnachtskekse dringend empfohlen.) Nach einer Ruhezeit von 60 Minuten wird der Teig auf ca. 5mm ausgerollt, traditionell werden Sterne ausgestochen, doch man kann sich für ein beliebiges Motiv entscheiden. Die Plätzchen im vorgeheizten Backofen bei 200 Grad ca. 8-10 Minuten backen. Nach dem Auskühlen können die Zimtsterne mit Kuvertüre oder Zuckerguss überzogen und ganz nach belieben verziert werden.

*

© sybille lengauer

(Mein Dank geht an die Gruppe Krautjunker und I. Heyden, die bei der Inspiration und den Rezepten geholfen haben)

Libellen

Veröffentlicht: Oktober 9, 2019 in Geschichten oder so ähnlich
Schlagwörter:,

Libellen

Es war heiß an jenem Sommernachmittag. Unerträglich heiß. In der Dachgeschosswohnung staute sich die staubgeschwängerte Luft, über vierzig Grad maß das Thermometer. Im Draußen war es nur geringfügig besser, die Hitze stand in den Straßen, brütete über dem Asphalt, flirrte auf den Dächern. Aus den Gullys quoll der Gestank stehenden Abwassers, in den Schwalbennestern vertrockneten die frischgeschlüpften Küken und am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Unablässig brannte die grellweiße Sonne auf das Land nieder, welk und verdorrt vegetierte die Natur unter ihrer schonungslosen Brennglasliebe.
Ich briet schlapp auf dem Sofa. Lag in meinem Schweiß und dachte an Eisberge. Schneetreiben, Eiszapfen, kalbende Gletscher. Hundeschlittenrennen, Arktisexpeditionen, Elchjagd im hüfthohen Schnee. Eisschollen, die der Sturm über Wasser treibt. Wasser… Fließendes, kühlendes, allumschmeichelndes Wasser. Ich dachte an den Fluss, der sich nur wenige Kilometer entfernt durch die Landschaft schnitt. Dachte an die Steine an seinem Ufer, unter denen sich kleine Fische vor hungrigen Kormoranen verbargen. Dachte an Flusskrebse, die sich gegen die Hitze im Sand vergruben. Ich war noch nicht fertig mit den Gedanken, da saß ich auf dem Fahrrad und fuhr. Quer durch das Dorf, vorbei an den Wiesen, die nichts mehr vom frischen Grün des Frühlings in sich hatten. Über die große Kreuzung, die lange Gerade zur Brücke hin und da roch ich ihn bereits, diesen satten, tiefdunklen Duft des Wassers. Ein Fluss riecht anders als ein See. Ein See riecht anders als ein Meer. Und jedes Meer riecht wiederum anders. Aber all diesen Düften ist gemein, dass das Herz höher schlägt, wenn man sich ihrer bewusst wird. Es ist ein Urverlangen, das einen zum Wasser hin treibt. Ich beschloss mich unter der Brücke niederzulassen. Sie würde Schatten spenden und mich vor neugierigen Blicken verbergen. Ich stieg ab, überquerte die Straße und schob das Rad den Deich hinunter. Totes Gras knisterte unter meinen Füßen, im stahlblauen Himmel riefen sich die Lachmöwen schmutzige Witze zu. Und weiter vorne, der Fluss. Still fließend, von Weiden gesäumt, von Libellen umschwärmt, gemächlich zum Rhein hin ziehend. Millionenfach reflektierten seine Wellen das Sonnenlicht, sein Glitzern blendete mich auf dem Weg nach unten. Im Schatten der Brücke, ein erstes, erleichtertes Aufatmen. Das monotone Dröhnen der Autos, die hoch über meinem Kopf in Richtung Stadt donnerten, der vorwurfsvolle Schrei des Graureihers, der sich durch meine Ankunft gestört fühlte, das leise Rauschen des Flusses, das von einer unendlichen Reise erzählte, alles floss zusammen, vereinte sich zu einer Melodie, die jede Faser meines Selbst tanzen machte. Ich warf die überflüssige Kleidung von mir, lästige Fetzen durchschweißten Stoffes, die sie waren, vergeudete ich keinen zweiten Gedanken an sie. Vorsichtig suchte ich meinen Weg durch die tückische Uferbefestigung. Tastete barfuß zwischen angeschwemmtem Totholz und verschlungenen Baumwurzeln, glitt über rutschige Felsen und kantige Steine zum Fluss hin. Bis dann, endlich. Fließendes, kühlendes, allumschmeichelndes Wasser. Ich versenkte mich darin. Löste mich auf und entstand neu als frei atmendes, schwerelos gleitendes Wesen, formlos in der kalten Strömung treibend. Federleicht und endlich befreit vom lähmenden Griff der Sonne, die ihre Feuerarien erbarmungslos auf das Land hinabbrüllte. Erlöst schwamm ich zurück ans Ufer, um nach einem bequemen Stein zu suchen. Im Fluss zu sitzen, das Tagwerk der Fische, Insekten und Vögel zu verfolgen und nichts weiter zu tun zu haben, als große und kleine Gedanken in immer weiteren Kreisen zu zerdenken. Es gibt keine bessere Art die Lebenszeit zu vergeuden. Also saß ich da, glücklich im Fluss, schaute mich satt und träumte den Libellen hinterher, die das Grün der Uferböschung umschwärmten. Wäre es nicht wunderbar, wenn sich eine von ihnen auf mich setzte? Sich vielleicht auf meinem großen Zeh niederließe und dort, sanft mit ihren dunkelblauen Flügeln schlagend, für einen Augenblick verweilte? Also reckte ich das linke Bein aus dem Wasser und wartete. Schaute auf meine aufgeweichten Zehen, die in der Wärme rasch zu trocknen begannen. Hörte den Kanadagänsen hinterher, die sich schnatternd auf einer Sandbank einfanden. Spürte den sanften Wind, der lautlos über den Fluss strich. Ich wartete und wartete, bis mir das Bein schwer wurde. Doch die Libellen setzten sich nicht. Sie flogen um mich herum, ließen sich auf Gräsern, Ästen, Blättern und Steinen nieder, landeten auf der bloßen Erde oder angeschwemmten Muschelschalen,sie setzten sich auf alles, nur nicht auf mich. Ein wenig enttäuscht ließ ich das Bein zurück ins Wasser gleiten. Es hätte mir gut gefallen, dieses Bild der blauen Libelle auf meinem großen Zeh. Doch man kann nicht alles haben. Vielleicht zuckte ich ein wenig mit den Schultern. Vielleicht wackelte ich etwas mit dem Kopf. Welch kleine Bewegung es auch gewesen sein mag, sie ließ den Libellenschwarm auffliegen, der sich unbemerkt auf meinem Haar niedergelassen hatte. Unzählige, dunkelblau geflügelte Libellen waren ruhig auf meinem Kopf gesessen und ihren Libellenträumen hinterhergehangen, bis ein kleines Zucken meines Körpers sie von ihrem Platz verscheuchte. Und ich sah ihnen hinterher und verstand den magischen Moment. Sie hatten sich nicht auf meinen großen Zeh gesetzt, sie hatten mich gekrönt.

© sybille lengauer

Serial Senior

Es hätte alles nicht so schlimm kommen müssen. Auch wenn sich das im Nachhinein vielleicht allzu leichtfertig dahersagen lässt. Schließlich ist man hinterher immer klüger, ist dann doch das ganze Ausmaß der Tragödie bekannt. Am Anfang weiß man oft gar nicht, dass man sich inmitten einer Tragödie befindet, meist ahnt man ja noch nicht einmal, dass man in einer Geschichte steckt. Die Handlungsstränge des Lebensweges fließen nahtlos ineinander und während man orientierungslos von einem Tag zum nächsten stolpert, landet man schon kopfüber in einer blutigen Geschichte. Dabei übersieht man leicht die Hinweise, die unscheinbar am Wegesrand liegen und etwas über die aktuellen Ereignisse verraten könnten. Kleinigkeiten, die sich langsam summieren und in der Erkenntnis kulminieren: „Verdammter Mist, ich stecke in einer fürchterlichen Tragödie.“ Aber dazu kommt es meistens erst zu spät.
So sah Herr Wagner zum Beispiel nicht genau hin, als er die vermüllte Wohnung des pflegebedürftig gewordenen Herrn Peter Tobler entrümpelte. Er warf keinen einzigen Blick in die vielen Fotoalben und Tagebücher, interessierte sich nicht für die akribisch gefaltete Damenunterwäsche, die in einer schmucklosen Holzkiste unter dem Bett lag, überflog nur grob den Inhalt der unzähligen Umzugskartons voller Notizblöcke, Skizzen und Zeichnungen, die der alte Herr in seinen zwei Kellern gehortet hatte. „Alles wertloses Zeug.“ lautete Julian Wagners grimmiges Urteil und er hätte sich nicht schlimmer täuschen können, denn die privaten Besitztümer von Serienmördern sind auf dem Schwarzmarkt heiß begehrte Ware. Doch Unwissenheit und fehlende Neugier beförderten all die wertvollen Beweismittel und Erinnerungsstücke zur Müllverbrennungsanlage, nichts blieb mehr übrig, das man einem enthusiastischen Kuriositätensammler hätte verkaufen können. Bis heute wird Herr Wagner grün vor Zorn, wenn man ihn an diesen groben Schnitzer erinnert. „Hat damals doch keiner was geahnt, von dem Ganzen.“ murmelt er dann meist beleidigt und wechselt das Thema.
Auch Frau Willhelm sah nicht ganz genau hin, als sie den verrunzelten Alten abfertigte, der in einem faltbaren Rollstuhl vor ihr saß und mit blassblauen Augen zur Zimmerdecke schielte. Ihre Hauptaufgabe war es, das Pflegeheim „Drei Linden“ zu verwalten und so verfuhr sie auch mit dem Neuzugang (Herr Peter Tobler, 95, Schwerwiegend gemindertes Wahrnehmungsvermögen mit einhergehender Aphasie) im Sinne der Verwaltung. Hätte sie nur ein wenig genauer hingesehen, ihr wäre vielleicht das kalte Glitzern nicht entgangen, das sich in Herrn Toblers Augen stahl, als er für einen kurzen Moment aus seiner mentalen Umnachtung auftauchte. Sie hätte bemerken können, wie gierig seine knotigen Hände im Rollstuhl zuckten, sie hätte stutzig werden können, als sich sein magerer Körper im Zeitlupentempo vorwärts beugte und sich sehnsüchtig nach einem dolchartigen Brieföffner reckte, der auf ihrem überladenen Schreibtisch lag. Doch bis Frau Willhelm endlich ihre Lesetätigkeit einstellte und kurzsichtig von den Akten aufschaute, hatte Peter Tobler längst wieder den Zugang zur realen Welt verloren, sein Moment der mörderischen Klarheit war dahin und vor ihr saß nur ein bleicher, zitternder Greis, der gedankenverloren ins Nichts starrte. Es darf daher auch nicht verwundern, wenn Andrea Willhelm bis zum heutigen Tage an ihrer Überzeugung festhält, sie hätte „Im Leben nicht!“ bemerken können, welch finstere Abgründe sich hinter Herrn Toblers altersfleckiger Stirn verbargen.
Der einzige, der tatsächlich genauer hinsah, war Peter Toblers neuer Zimmergenosse, Herr Heinz-Bernhard Kolping. Ihm genügte ein kurzer Blick quer durch das Doppelzimmer und schon wusste er, mit wem er es zu tun hatte. Lautstark verweigerte er dem Pflegepersonal die Erlaubnis, den Rollstuhl mitsamt neuem Mitbewohner an sein Krankenbett zu schieben, um sich näher miteinander bekannt zu machen. Schrill hallte sein protestierendes „Er hat den Teufel im Leib!“ durch die grau laminierten Flure der Station. Doch während man sowohl den Entrümpelungsfachmann, als auch die Kauffrau im Gesundheitswesen möglicherweise ernst genommen hätte, wären sie mit etwaigen Erkenntnissen über Peter Toblers mörderische Veranlagung an die Öffentlichkeit gegangen, ignorierte man Heinz-Bernhard Kolpings geschriene Einwände geflissentlich, denn der bettlägrige Senior galt als hochgradig dement und war somit nicht ernst zu nehmen. Eine beschämende Tatsache, die sein trauriges Schicksal besiegelte. Es dauerte keine vierundzwanzig Stunden, da stürzte er tragisch aus seinem Bett und erlag einer üblen Kopfverletzung, die er sich beim Sturz zugezogen hatte.
Nun hätte die Geschichte an diesem Scheideweg noch eine andere, weniger grausame Wendung nehmen können. Einem aufmerksamen Pfleger wären vielleicht die eigenartigen Kratzer und Blutergüsse aufgefallen, die Heinz-Bernhard Kolpings faltigen Hals bedeckten. Ein scharfsinniger Notarzt hätte aus den Beobachtungen des Pflegers vielleicht den Schluss gezogen, dass jemand den armen Herrn Kolping mit roher Gewalt gewürgt und brutal aus dem Bett geschleudert habe. Einem verständigten Polizisten wäre vielleicht aufgefallen, dass Heinz-Bernhard Kolping in den letzten Stunden seines Lebens nur mit einer einzigen Person zusammen war… Vielleicht hätte es auch schon genügt, wäre der Verstorbene zur Leichenbeschau in die städtische Pathologie überstellt worden, doch leider wurde Heinz-Bernhard Kolping ohne weitergehende Untersuchungen verpackt, abgeholt, eingeäschert und auf dem kleinen Urnenfriedhof in der Nähe des Pflegeheims begraben und so zerplatzen all die möglichen „Vielleichts“, „Hättens“ und „Wärens“ wie Seifenblasen. Die Geschichte schlittert in ihre unauslöschliche Bahn, die Tragödie nimmt endgültig ihren Lauf.

Wochen vergingen, in denen sich die tödlichen Unfälle im Pflegeheim „Drei Linden“ wie durch einen bösen Zauber mehrten. Zuerst starben einige der vergreisten Bewohner. Auffällig häufig während der langen Nachtstunden, in denen kaum Personal auf den Stationen anzutreffen war und auffällig nahe an Herrn Toblers Doppelzimmer, in welchem er, seit dem Tode Heinz-Bernhard Kolpings, vorerst alleine residierte. Beate Triebengast zum Beispiel, eine nette, kleine Dame, die ein Einzelzimmer zu seiner Linken bewohnte, verstrickte sich eines Nachts ganz unglücklich in ihrem Beatmungsgerät und erstickte. Sabine Hybner, eine ebenfalls ausgesprochen nette, kleine Dame, die von anhaltender Schlaflosigkeit gequält wurde, rutschte tragisch aus und brach sich das Genick, als sie um halb vier Uhr morgens durch die Station wanderte. Den betagten René Bertling erwischte es auf der Toilette, obwohl er weder nett, noch eine kleine Dame war. Das rettete ihn nicht vor einem überraschend blutigen Ableben auf der Porzellanschüssel.
Als sich die ungewöhnlichen Todesfälle immer weiter häuften und langsam zum allgemeinen Gesprächsthema avancierten, als man damit begann, zusätzliches Pflegepersonal in den Nachtschichten einzusetzen und die Türen der Patientenzimmer ab 21:30 Uhr abzuschließen, da ereilte der plötzliche Tod nicht mehr allein die Bewohner, sondern auch die Mitarbeiter des Pflegeheims am helllichten Tage. So geriet zum Beispiel der Haustechniker, Vadim Antonescu, wohl aus reiner Unachtsamkeit so ungeschickt in den Hebelift, dass dieser, als er sich unerwartet in Bewegung setzte, seinen Unterleib sauber abtrennte und ihn halbierte. Die Raumpflegerin Suzana Tomic stürzte ganz unglücklich im Treppenhaus, doch wurde sie zum Glück nur schwer verletzt, ihrer Kollegin Sylva Nowak erging es schlechter, sie starb durch einen fürchterlichen Stromschlag, den ihr ein defektes Staubsaugerkabel versetzte. Schlimm erging es auch dem jungen Auszubildenden, Sören Nievers. Er stolperte bei der Essensausgabe und landete kopfüber in einem Besteckkasten. Niemand konnte zufriedenstellend erklären, wie sich ausgerechnet ein Löffel durch sein Auge ins Gehirn bohren konnte.
All diese Unglücksfälle hätten einen aufmerksamen Beobachter auf die Spur des Serienmörders Peter Tobler lenken können, denn dieser war immer in der Nähe, wenn sich ein grässlicher Zufall ereignete. In manchen Fällen gab es sogar Zeugen, so schwor die Pflegeassistentin Roswita Almbach, sie habe „Mit eigenen Augen gesehen!“ wie der lahme Peter Tobler im Gemeinschaftsraum blitzschnell einen Fuß ausstreckte, um der betagten Hildegard Schneider ein Bein zu stellen. Suzana Tomic, die sich im Krankenhaus nur langsam von ihrem schweren Sturz im Treppenhaus erholte, berichtete von dunklen Erinnerungen an eine schattenhafte Gestalt im Rollstuhl, die urplötzlich hinter ihr aufgetaucht war. Patienten begannen instinktiv, die Nähe des stummen Eigenbrötlers zu meiden, Pfleger hatten das unbewusste Gefühl, ein kalter Schauer liefe über ihren Rücken, wenn sie sein Zimmer betraten. Doch all diese kleinen Hinweise und merkwürdigen Zufälle verpufften in der brodelnden Gerüchteküche des Pausenraumes, in der jedermann viele Theorien und wenige Tatsachen zu den schauerlichen Vorfällen beizusteuern wusste. Die Geschichten waren unüberschaubar aufgeblasen und verworren und so war es Frau Willhelm schlicht unmöglich, bei einer hausinternen Untersuchung klare Erkenntnisse zu gewinnen. Doch auch wenn ihre missliche Lage auf menschlicher Ebene nachvollziehbar erscheint, so muss doch an dieser Stelle betont werden, dass es ein schweres Versäumnis von ihrer Seite war, den Tag Der Offenen Tür unbedingt veranstalten zu wollen, obwohl besagte Veranstaltung von derart schwerwiegenden Vorkommnissen überschattet wurde. In ihrer Verantwortung hätte es gelegen, den Besuch der Grundschulklasse 2b abzusagen und die Leben der armen Kinder zu retten. Doch was nützt es jetzt, auf die Schuldige zu verweisen, wo sie doch alle tot und begraben unter der Erde liegen? Vielmehr nützt es vielleicht, in einem Nebensatz zu erwähnen, dass Peter Tobler unter den wohlsorgenden Händen des verängstigten Pflegepersonals prächtig gediehen war. Der Aufenthalt im Pflegeheim kam für ihn einer Verjüngungskur gleich. War er bei seiner Ankunft noch abgemagert, zitternd und gelblich-bleich, hatte er in den letzten Wochen kräftig an Gewicht zugelegt. An guten Tagen ruckelte er seinen Rollstuhl allein durch die Station, manchmal wirkte er heiter gestimmt, ja, beinahe vergnügt und ein rosiger Hauch lag auf seinen runzligen Wangen.
Die Besucher, die am Tag Der Offenen Tür ins Pflegeheim strömten, bekamen es also mit einer deutlich agileren Version des alten Tattergreises zu tun, doch hätte man ihm trotzdem niemals zutrauen können, ein derartiges Gemetzel unter ihnen anzurichten. Der Zufall half, das darf man nicht unterschlagen, fast scheint es, als lastete ein böser Fluch auf den armen Menschen, so einfach wurden sie zu Herrn Toblers Opfern. Denn wie lässt es sich erklären, dass Peter Tobler ausgerechnet am Abend vor der Veranstaltung einen unverschlossenen Putzmittelschrank fand, als er ruhelos mit seinem Rollstuhl durch die Flure geisterte? Wie soll man verstehen, dass er unentdeckt ins Getränkelager gelangen und die alkoholfreie Bowle vergiften konnte, die man für den angekündigten Besuch der Grundschulklasse 2b vorbereitet hatte? Er, der noch nicht einmal in der Lage war, seine Schuhbänder selbst zuzubinden! Wie ist es möglich, dass niemand ihn entdeckte oder zumindest aufmerksam wurde, als sich am nächsten Tag die Kinder über den eigenartigen Geschmack der Bowle beschwerten? Mussten sie denn wirklich alle trinken? Und warum trank auch der Lehrer, der doch eigentlich gar keine alkoholfreie Bowle mochte? Wie kann es sein, dass selbst der Stadtrat, der zur Eröffnungsrede eingeladen war, ein Glas hinunterstürzte, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon einige Schüler über Atemnot klagten? Es ist nicht zu erklären. Unverständlich auch, wie Peter Tobler in der anschließenden Panik die Gelegenheit und Ausdauer besaß, zwei Besucherinnen abzustechen, die das Pech hatten vor seinen Rollstuhl zu geraten. Die Damen waren zur Unterstützung des Kuchenbuffets erschienen und wurden im Gewühl der hysterischen Leiber vom kaltblütigen Schlächter hingemetzelt. Blutüberströmt rollte er anschließend durch das Menschengewimmel davon, Augenzeugen berichten von einem irren Grinsen, das dabei auf seinem zahnlosen Gesicht lag. Sie beschreiben es einstimmig als „abgrundtief böse.“
Und abgrundtief böse war er auch, der Serienmörder Peter Tobler. Wie viele Personen er in seinem langen Leben ermordet hat, niemand kann es mit Sicherheit sagen. In seinem ehemaligen Beruf als Fernfahrer standen ihm ungeahnte Möglichkeiten zur Verfügung. Tötete er sechzig, hundertdreißig, sogar zweihundert Menschen? In wie vielen Ländern war er früher unterwegs? Die Ermittlungen der Polizei dauern an und den Berichten in den Medien ist nicht zu vertrauen, es herrscht allgemeine Unsicherheit über das gewaltige Ausmaß seiner Taten. Mit Sicherheit ist nur zu sagen, dass Peter Tobler an jenem Vormittag unbeschadet aus dem Chaos entkam, das er unter den Gästen des Pflegeheims „Drei Linden“ angerichtet hatte. Man fand ihn schließlich im hauseigenen Gärtchen, umgeben von toten Spatzen und Tauben, die er mit vergifteten Brotkrumen angefüttert hatte. Während vor dem Pflegeheim die Krankenwagen und Polizeiautos in langen Kolonnen auffuhren und aus dem Gebäude entsetzte Hilferufe drangen, war Peter Tobler im herbstlich milden Sonnenschein einem Hirnschlag erlegen und es ist vielleicht eine Tatsache, vielleicht aber auch nur ein zynisches Gerücht, dass auf seinem Gesicht ein zufriedenes Lächeln lag…

© sybille lengauer

Sterbens-Angst

Veröffentlicht: Oktober 5, 2019 in Gedichte
Schlagwörter:, , ,

Sprechen wir von Sterbens-Angst

Vom heiß-kalten Zittern sprechen wir später,
Vom großen Gebibber, dem Zähnegeklapper,
Von den reibenden Händen,
Den wippenden Knien…
Ach, sprechen wir davon.
Ja, sprechen wir davon.
Vom gordischen Knoten im furchtsamen Herzen,
Vom pechschwarzen Abgrund, dem ziellosen Denken,
Von den schweißnassen Achseln,
Den unruhigen Fingern…
Ach, sprechen wir davon.
Ja. Sprechen wir davon.
Vom trockenen Tasten der pelzigen Zunge,
Vom hastigen Atem, dem Pinkelwettlauf,
Von den gefühllosen Beinen,
Den unsteten Augen…
Ach, sprechen wir davon.
Ja. Sprechen wir davon.
Vom entnervten Verdrängen der bitteren Wahrheit,
Vom Täuschen und Tarnen, dem Tapferkeitsmarsch,
Von den bohrenden Fragen,
Den nagenden Zweifeln…
Ach, sprechen wir davon.
Ja. Sprechen wir davon.

© sybille lengauer