Der Mann auf der Raumstation
Der Mann erwachte in tiefer Finsternis. Mit weit aufgerissen Augen und ohne jede Erinnerung an das, was vor seinem Erwachen geschehen war, stierte er in die Schwärze und fürchtete, blind geworden zu sein. Er wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht und wimmerte leise, da er nichts sah als absolute Dunkelheit. Heißkalte Wellen der Angst brandeten über seinen Rücken, doch er kämpfte tapfer gegen die aufsteigende Panik. Keuchend tastete er um sich und begriff, dass er auf kaltem, glatten Boden lag. Er wälzte sich erst auf die Knie, dann stand er umständlich auf und atmete gegen ein heftiges Schwindelgefühl an. Lange stand er so da, schwankend und schnaufend, mit ausgestreckten Armen nach Gleichgewicht suchend, bis sein Kreislauf sich allmählich beruhigte. Das ohrenbetäubende Rauschen seines Blutes verklang und es gelang ihm besser, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Er lauschte angestrengt ins Dunkel, doch hörte er nur jene Geräusche, die er selbst verursachte und fühlte sich dem Gedanken ausgeliefert, die allumfassende Finsternis verschlänge selbst diese, seine gehetzten Atemzüge. Erneut brandete die Panik heran, ein leises Schluchzen drängte aus seiner eng werdenden Kehle, der Puls beschleunigte sich und seine Beine begannen stark zu zittern. „Hallo?“ stieß er hervor, mehr um sich selbst von der Existenz seiner Stimme zu überzeugen, als um tatsächliche Antwort hoffend. „Ist da jemand?“ Doch nur sein eigener, pochender Herzschlag antwortete seinem ängstlichen Rufen und verstärkte das beklemmende Gefühl, von unsichtbaren Gefahren belauert zu werden. „Hallo!“ rief er noch einmal, dann nahm er all seinen Mut zusammen und tastete durch die Dunkelheit. Vorsichtig, mit Händen und Füßen seine Umgebung erkundend, einen kleinen Schritt vor den anderen setzend, schob er sich langsam voran. Seine suchenden Finger stießen schließlich auf eine Wand, die sich so kalt und glatt anfühlte wie der Boden, auf dem er gelegen hatte. Die linke Hand an die kalte Wand gepresst, die rechte Hand suchend in die pechschwarze Stille gestreckt, drang er weiter in die undurchdringliche Schwärze vor. Zwar wusste er nicht, wohin er sich bewegte, doch die Bewegung selbst vermittelte eine gefühlte Sicherheit, nach der er dringend bedurfte. Dann sah er die Sterne. Erst dachte er an eine Sehstörung, hervorgerufen durch die alles umhüllende Finsternis. Funkelnde Tupfer blitzten in seinem linken Augenwinkel, er wandte seine Aufmerksamkeit irritiert der Störung zu und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er vor ein großes Fenster geraten war, welches sich nahtlos in die glatte Wand einfügte. Er presste sein Gesicht an das Fenster und starrte fassungslos hinaus. Unberührt von seinen Emotionen starrten die Sterne zurück, sie verschenkten ihr irrlichterndes Gleißen ohne Anteilnahme an jeden, der in der Lage war nach ihnen zu schauen. Eine Erkenntnis brach wuchtig an die Oberfläche seines gelähmten Verstandes. „Ich bin im Weltraum.“ hauchte er betroffen. Jäh brandeten Fragmente verschütteter Erinnerungen in seine konfuse Bestürzung, eine Flut an Bildern und Gesprächsfetzen schwemmte die Sterne vor seinen Augen fort. Von heftigem Schwindel erfasst, taumelte er rückwärts und fiel schwer auf den Hosenboden, japsend und zitternd saß er da, während die Vergangenheit unkontrolliert auf ihn eindrang.
„Verdammt, wir haben ein Strahlungsleck. Geh zum Schildreaktor und sieh nach den Injektoren.“ Eine dunkel uniformierte Frau wirft ihm den Befehl mit knappem Kopfnicken zu, dann konzentriert sie sich auf einen kleinen Monitor, dessen Anzeigen hektisch blinken. Eine graue Haarsträhne löst sich aus ihrem Haarknoten und fällt vor ihr besorgt wirkendes Gesicht, mit einer ärgerlichen Handbewegung wischt sie sie fort. Ihr Name lautet Walsh. Leutnant Beth Walsh.
„Der Strahlungsalarm wurde ausgelöst. Was ist passiert?“ Eine hochgewachsene Gestalt in oranger Schutzkleidung fängt ihn auf dem Weg zum Reaktorraum ab. In der Stimme des jungen Mannes ringen professionelle Neugierde und besorgte Unerfahrenheit um den ersten Platz, sein bartloses Gesicht wirkt unter der dünnen Folie des Schutzhelms unnatürlich blass, trotzdem reckt er mutig das Kinn vor. Er hört auf den Namen Reid. Fähnrich Connor Reid.
„Verschwinde von hier, du Idiot!“ Ein stämmiger Techniker wirft Fähnrich Reid aus dem Reaktorraum. Die leidenschaftlichen Proteste des jungen Mannes ignorierend, schubst er ihn kurzerhand auf den Gang der Sektion zurück und betätigt die Türverriegelung. Seine schwarzen Augen leuchten intensiv, seine ungeschützten Wangen und Hände sind von der entweichenden Strahlung stark gerötet. „Wir müssen die Eindämmung wiederherstellen, sonst sind wir geliefert!“ brüllt er entschlossen. Sein Name ist Mason. Leitender Ingenieur Owen Mason.
„Neukalibrierung gescheitert. Überprüfe Befehlseingabe.“ Eine sachliche Computerstimme, die mitleidslos die Katastrophe kommentiert. Das Entsetzen in den Augen des leitenden Ingenieurs Mason, als er die Ausweglosigkeit der Situation erkennt und von der sofortigen Evakuierung der Raumstation spricht. Rote Lichter. Warnsirenen. Das Gefühl, ganz nah an einem Abgrund zu stehen. Der Geruch von synthetischem Zimt und heißem Metall. Eine kurze Reflexion des eigenen Spiegelbildes auf einem blankpolierten Bedienelement. Ein entsetztes Gesicht, das den Namen Androy Dee trägt. Der verschreckte Mann im Reaktorraum und der zitternde Mann in der Dunkelheit verschmelzen zu einer Person, die erschrocken nach Luft schnappt. „Sie haben mich zurückgelassen.“ flüstert er schockiert.
Atemlos saß Androy Dee im Dunkeln, minutenlang blinzelte er mit tränenden Augen ins Nichts, während sich weitere Bruchstücke seiner Erinnerung zusammenfügten und ein lückenhaftes Bild der vergangenen Ereignisse entstand. Er sah Owen Mason auf dem Weg zu den Fluchtkapseln stöhnend zusammenbrechen. Sah sich selbst bei dem wimmernden Mann ausharren, um ihm Mut zuzusprechen und fühlte, wie er eben jenen Mut verlor, als der Ingenieur einen letzten, verkrampften Atemzug tat und starb. Er hörte die gehetzten Worte der Entschuldigung, mit denen er den Leichnam zurückließ, durchlebte wie im Zeitraffer den kräftezehrenden Lauf zu den Fluchtkapseln und fühlte die heranrasende Welle greller Panik, als er bei seiner Ankunft erkennen musste, dass alle Kapseln fort waren. „Oh nein. Oh nein. Oh nein.“ jammerte Androy Dee in seiner Erinnerung und in der Finsternis, vor dem Fenster sitzend. Die Bilderflut aus der Vergangenheit endete abrupt und ihm war, als würde sein Selbst zu einem kläglichen Schluchzen zusammenschrumpfen. Mühsam kam er auf die Beine, schwer lehnte er sich an das glatte Fenster, das die funkelnde Schönheit der mitleidlosen Sterne offenbarte. Er blickte nach draußen und glaubte beinah, in der Ferne die ovalen Fluchtkapseln sehen zu können, wie sie, kleinen Blumensamen gleich, in der Unendlichkeit des Weltraums verschwanden, doch es waren nur seine überreizten Nerven, die einen grausamen Scherz mit ihm trieben. „Ich bin noch hier!“ schrie Androy Dee, mit aller Kraft trommelte er gegen das Fenster, doch dann verstand er, dass niemand da war, um ihn zu hören. Er war absolut allein.
*
„Mayday, Mayday. Hier spricht Raumstation Alpha7. Kann mich jemand hören?“ Unter dem schummrigen Licht der Notbeleuchtung war es ausgesprochen schwierig, die komplizierten Regler der Kommunikationsanlage sachgemäß zu bedienen. Androy Dee hatte frustrierend lange Stunden damit zugebracht, die autonome Energieversorgung im Kommandozentrum der Raumstation wiederherzustellen. Die Reparatur war quälend langsam vorangegangen, doch schließlich war es ihm gelungen jenen kleinen Teil der Station zu reaktivieren. Viele Apparaturen waren aufgrund der hohen Strahlenbelastung irreparabel beschädigt und so setzte er all seine Hoffnung in die robuste Zuverlässigkeit des Deep-Space-Funksystems. Mit zusammengekniffenen Augen stierte er auf die Anzeigen, unablässig funkte er seine Botschaft in den Weltraum. „Hier spricht Raumstützpunkt 62. Sie kommunizieren auf einer militärischen Frequenz. Identifizieren Sie sich.“ blaffte es unvermittelt aus der Anlage. Androy Dee zuckte erschrocken zurück, dann stieß er einen erleichterten Freudenschrei aus. „Ich bin noch hier!“ schrie er aufgeregt, die nervenaufreibende Anstrengung der letzten Stunden fiel ab von seinem Herzen und er fühlte sein Selbst federleicht werden. „Mein Name ist Androy Dee. Ich befinde mich auf Raumstation Alpha7. Wir mussten die Station evakuieren, aber ich habe es nicht zu den Fluchtkapseln geschafft. Bitte, holt mich hier raus!“ „Wollen Sie mich verarschen, Mann?“ fragte der Funker auf Raumstützpunkt 62 kaltschnäuzig. „Was? Nein!“ schrie Androy Dee, seine wilde Euphorie wandelte sich schlagartig in blankes Entsetzten. „Verfolgen Sie mein Signal zurück, wenn Sie mir nicht glauben wollen!“ bat er den Fremden verzweifelt. „In der Tat.“ antwortete jener nach einem kurzen Moment des Schweigens. Seine Stimme klang zwar weniger barsch, drückte jedoch immer noch skeptische Reserviertheit aus. „Holt mich hier raus!“ schluchzte Androy Dee. „Ich verständige das Hauptquartier. Erwarten Sie meine Rückmeldung. Raumstützpunkt 62 Ende.“ Der Mann auf der Raumstation brach in Freudentränen aus, auch wenn sich die heitere Leichtigkeit nicht wieder einstellen wollte, die ihn eben noch von Kopf bis Fuß erfasst hatte. Mit jeder verstreichenden Minute drückte die Einsamkeit schwerer auf seine Brust, unbehaglich wurde er sich der Dunkelheit bewusst, die vor der Tür des Kommandozentrums auf ihn zu warten schien. Als die vertraute Stimme des Funkers erneut aus der Kommunikationsanlage dröhnte, riss sie Androy Dee aus einer düsteren Erstarrung, die sich seiner schleichend bemächtigt und jegliches Gefühl der Hoffnung aus seinen Gedanken getilgt hatte. „Raumstützpunkt 62 ruft Raumstation Alpha7, empfangen Sie mich?“ Androy Dee schnellte aus seiner brütenden Starre empor. „Hier Raumstation Alpha7, ich empfange Sie laut und deutlich!“ meldete er aufgeregt. „Ich habe schlechte Nachrichten.“ meldete der Funker geradeheraus, er schien kein Freund der umständlichen Rede zu sein. Androy Dee erwiderte nichts. Stumm stand er vor der Kommunikationsanlage und jegliche Lebendigkeit wich aus seinen Augen. „Wir haben Ihre Angaben überprüft. Raumstation Alpha7 wurde vor achtzig Tagen evakuiert. Ein Crewmitglied mit ihrem Namen ist nicht in den Besatzungslisten verzeichnet.“ „Aber.“ hauchte Androy Dee, doch der Funker unterbrach ihn augenblicklich. „Ich kann den Sachverhalt erklären. Bitte hören Sie mir aufmerksam zu.“ „In Ordnung.“ antwortete Androy Dee und unterdrückte ein Zittern. „Sie sind der oberste Wartungsandroide der Station, Mister Dee. Wir vermuten, dass Ihr Uplink zum Leitsystem durch die Strahlung zerstört wurde, die während des Reaktorunfalls entwichen ist. Offenbar wurden Sie in den vergangenen Tagen durch Ihr internes Selbsterhaltungsprogramm reaktiviert.“ sagte der Funker und es klang, als würde er die komplizierteren Worte von einem Blatt Papier ablesen. „Aber ich atme doch! Ich kann fühlen, dass ich Lebe.“ flüsterte Androy Dee, seine Knie wurden weich und er hielt sich krampfhaft an der Bedienfläche der Kommunikationsanlage fest, um nicht zu stürzen. „Raumstation Alpha7 ist seit achtzig Tagen offline. Es gibt keinen Sauerstoff mehr.“ erwiderte der Funker sachlich. „Es tut mir leid.“ setzte er in gefühlvollerem Ton hinzu und es schien, als wäre damit alles gesagt. „Ihr werdet mich nicht rausholen.“ murmelte Androy Dee nach einer Minute schockierten Schweigens. „Sie sind radioaktiv verstrahlt, Mister Dee. Raumstation Alpha7 ist auf unbestimmte Zeit gesperrt. Es tut mir leid.“ wiederholte der Mann am anderen Ende der Verbindung. „Was kann ich tun?“ fragte Androy Dee und er konnte hören, dass sein Gesprächspartner umständlich schluckte, bevor er zu einer Antwort ansetzte. „Deaktivieren Sie Ihr internes Selbsterhaltungsprogramm.“ „Wie bitte?“ „Schalten Sie sich ab, Mister Dee.“ „Nein!“ schoss es spontan aus Androy Dee heraus, mit einem unartikulierten Schrei beendete er die Funkverbindung zu Raumstützpunkt 62. In der anschließenden Stille hörte er das wilde Pochen seines künstlichen Herzens. „Das kann ich nicht.“ flüsterte er dumpf.
*
Still war es, auf der menschenverlassenen Raumstation Alpha7. Düster und Glanzlos hing sie in der unermessliche Leere des Weltalls, wie ein ungeschliffener Edelstein, der seine Schönheit nicht dem eiskalten Griff des Vakuums preisgeben mochte. Tief in ihren Eingeweiden kämpfe Androy Dee mit gerechtem Zorn gegen das klaustrophobische Gefühl, von nahen Wänden erdrückt zu werden. Ausdauernd fluchte er über die lebensnahen Körperfunktionen, die ihm das Arbeiten unter Extrembedingungen erschwerten und er wurde nicht müde, an der fachlichen Kompetenz seiner Erbauer zu zweifeln. Seit neun Stunden quälte er sich durch bedrückend enge Wartungsschächte, um eine defekte Leitung des Energiesystems zu reparieren. Schweißüberströmt legte er einen letzten Bypass, dann kroch er ein Stück zurück, bevor er die neue Verbindung testete. Mit einem sonoren Brummen erwachte die instandgesetzte Leitung zu neuem Leben. Zufrieden überprüfte Androy Dee den Energiefluss mit einem Messgerät, dann beendete er den Reparatureinsatz mit aller erforderlichen Gewissenhaftigkeit. Androy Dee hatte Zeit. Es würde noch lange dauern, bis das Energiesystem der Station wiederhergestellt war und es würde noch länger dauern, die Schäden am Schildreaktor zu beheben. Doch Androy Dee war hier, um sich um die Bedürfnisse der Raumstation Alpha7 zu kümmern und er würde noch hier sein, wenn die Menschen wiederkehrten, um sie erneut in Besitz zu nehmen.
© sybille lengauer