Archiv für Januar, 2020

Federgeistchen

Veröffentlicht: Januar 28, 2020 in Kurzgeschichten, Video
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Federgeistchen

„Sir, ich denke wir haben ein Problem.“ Der untersetzte Mann im Laborkittel wendet sich vom Mikroskop ab und blickt bedeutungsvoll über den Rand seiner Brille. Der angesprochene Sir steht mit überkreuzten Armen neben einer Vitrine und schaut bedeutungsvoll zurück. „Es gibt keine Probleme, Dr. Paul. Es gibt nur Herausforderungen.“ konstatiert er missbilligend. Dr. Paul seufzt. „Dann handelt es sich hierbei um eine maximale Herausforderung, Sir.“ Er nimmt seine Brille ab und legt sie neben das Mikroskop. „Funktionieren Ihre Gen-o-Bots nicht?“ „Nein, Sir, die Gen-o-Bots arbeiten ganz hervorragend. Das Problem… die Herausforderung ist, dass sie zu gut arbeiten. Sie sterilisieren nicht nur die Tigermücke. Ich habe die Befürchtung, dass sie auch auf andere Mückenarten übergreifen.“ In der anschließenden Stille hört man nur das monotone Brummen elektrischer Geräte. Als Dr. Paul gerade ansetzt, um erneut zu sprechen, klingelt ein Handy. „Mossman? Ja, Sir. Bin noch im Labor. Danke Sir. Ich habe verstanden, Sir.“ Mr. Mossman klappt sein Handy zu. „Das war der Präsident der CroP-CORP. Ich treffe ihn in vier Stunden in Chicago zum Abendessen. Er wird mich fragen ob wir Fortschritte mit den Gen-o-Bots gemacht haben. Haben wir Fortschritte gemacht, Dr. Paul?“ „Schon, Sir.“ sagt der Wissenschaftler und macht ein unglückliches Gesicht. „Die Tigermücke spricht auf die Gen-o-Bots an. Eine komplette Ausrottung wird auf zwei Jahre errechnet. Allerdings kann ich nicht zu einem Freilandversuch raten, solange die Mutationsrate bei über 0,5 Prozent liegt. Wenn sie bereits unter kontrollierten Bedingungen eine derart hohe Variabilität zeigen, wären die Folgen in der Natur nicht absehbar!“ „Die Tigermücke ist also sterilisierbar?“ „Ja, Sir.“ seufzt Dr. Paul. „Gut.“ Mr. Mossman klappt sein Handy auf. „Sehen Sie zu, dass Sie die Mutationssache in den Griff bekommen. Ich freue mich darauf, Ihren Bericht zu lesen.“ Im hinausgehen beginnt er ein neues Gespräch…
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„Was ist denn das für eine Headline? ‚Frankenstein-Roboter der Amerikaner bedrohen Biodiversität‘ willst du mich auf den Arm nehmen?“ Der Chefredakteur lässt wütend das Pad sinken und lehnt sich in seinem Sessel nach vorn. „Frankenstein-Roboter? Was haben Gen-o-Bots mit Frankenstein zu tun, der baut mit Leichenteilen, du Idiot. Und Ausdrücke wie Biodiversität kannst du nicht benutzen. Das versteht kein Schwein. Leidest du an Demenz oder warum muss ich dir das immer wieder erklären? Kurz, knackig, kreativ! Das sind unsere Headlines. Und nicht so dahingeschissene Stolpersteine, die kein Mensch lesen kann. ‚Das Ende der Insekten!‘ oder: ‚Gen-o-Bots, kommt jetzt der Untergang?‘ damit kommen die Leute klar.“ Der zusammengestauchte Reporter sitzt ihm stocksteif gegenüber. „Was bitte ist an ‚Das Ende der Insekten‘ kreativ? Da kann ich auch schreiben: ‚Gen-o-Bots, gefährlicher als gedacht‘ das ist ähnlich degeneriert. Georg, ich habe acht Monate für diese Story recherchiert. Ich bin nicht hier um mich über die verdammte Headline zu streiten, ich…“ „Ich weiß genau, wie lange du recherchiert hast.“ fällt ihm der Chefredakteur ins Wort. „Immerhin habe ich die Honorarnoten bezahlt, vielleicht erinnerst du dich. Und vielleicht erinnerst du dich auch, dass du nicht wieder mit total überdrehtem Rotz bei mir aufschlagen solltest. Hier: ‚Erhöhte Mutationswahrscheinlichkeit‘ oder: ‚Prozentuale Möglichkeit artübergreifender Kollateralschäden‘, wer bist du, die scheiß Science News? Schreib deine Story, aber schreib sie so, dass ich sie auch drucken kann. Und jetzt raus hier, Robert.“ Der Chefredakteur sinkt mit hochrotem Kopf zurück in seinen Sessel…
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„Hast du schon den Newsfeed gecheckt? Die scheiß Insekten sterben aus. Die sind alle Speril!“ Ein blasser Junge von etwa zwölf Jahren spuckt feine Speicheltropfen durch seine Zahnspange. Sein gleichaltriger Freund lümmelt neben ihm in der halbvollen U-Bahn und zuckt desinteressiert mit den knochigen Schultern. „Mir doch egal. Ich kann die verkackten Spinnen sowieso nicht leiden.“ „Insekten sind doch keine Spinnen, Loco.“ „Hab ich jetzt Biologie, Herr Lehrer?“ „Alter.“ „Was? Wir fahren sowieso bald alle mit dem A-Ticket zur Hölle, hat dir dein kack Newsfeed davon nichts erzählt?“ Der Zahnspangenjunge beobachtet, wie eine sehr dicke, in sehr rotes Leder gekleidete Frau versucht, einen sehr dicken, in sehr rotes Leder gekleideten Mops auf ihren Schoß zu heben. Das Tier rutscht ihr immer wieder aus den Fingern und plumpst zurück auf den Boden. „Hölle kann auch nicht viel anders sein als hier.“ murmelt er leise…
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„Pack deine Sachen und komm!“ In einem altmodisch eingerichteten Wohnzimmer versucht ein älterer Herr, seine Frau vom Fernseher wegzuziehen. „… berichten von erneuten, massiven Übergriffen an der Ostküste. Der Einsatz von Atombomben ist nicht auszuschließen. Ich wiederhole. Der Einsatz von Atombomben kann nicht ausgeschlossen werden…“ „Dass ich das noch erleben muss.“ jammert die alte Dame, während der Mann ungeduldig an ihrem Ärmel zupft. „Was machen wir mit Ben?“ Ihre Stimme ist ein ängstliches Flüstern. „Über den Hund denken wir nach, wenn wir unsere Sachen gepackt haben. Ich will nicht mehr hier sein, wenn die Kacke am Dampfen ist.“ „Joshua, Ausdruck!“ „Nicht jetzt, Laura. Komm!“ Als die beiden das Schlafzimmer erreichen, blitzt es grell und sie sind nur noch zwei Schatten an der Wand…
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REKONSTRUKTION UNVOLLSTÄNDIG. WEITERE FRAGMENTARISCHE DATENSÄTZE VORHANDEN. MIT DER WIEDERGABE FORTFAHREN?

Es bleibt minutenlang still in der riesigen Höhle, während die Nachbilder der holografischen Darstellung wie Geister durch die Dunkelheit schimmern. Nur gelegentliches Rascheln und leises Husten deuten darauf hin, dass ein Mensch zugegen ist. Als schließlich eine Stimme spricht, klingt sie stockend und rau. „Ja. Wiedergabe fortsetzen.“

© sybille lengauer

(Falls der gesetzte Starter bei euch auch nicht funktioniert, „Federgeistchen“ startet ab Minute 6:58)

2 Uhr Früh

Veröffentlicht: Januar 22, 2020 in Kurzgeschichten
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2 Uhr Früh

Dahlhoff schaut schon wieder ständig zur Tür. Wenn er so komisch zur Tür schaut, bekommt er in der nächsten halben Stunde garantiert eine Panikattacke. Dann schreit und brüllt er wie ein Verrückter, dass er endlich nach Draußen will und wir ihn gehen lassen sollen. Dauert dann immer Ewigkeiten, bis er sich beruhigt. Dann heult er in seiner Ecke und wir müssen die nächsten Stunden leise sein, damit er nicht wieder die Nerven verliert. Ist wie das berühmte Amen in der Kirche. Glotzt er mit diesem wässrigen Hundeblick die Tür an, geht es gleich los mit dem Gebrüll. Ich sollte wohl etwas dagegen unternehmen. Sollte ihn ablenken, oder was weiß ich. Interessiert mich aber nicht. Ist mir scheißegal. Soll er doch ausrasten. Dann ist er wenigstens beschäftigt und hört auf, so wässrig zu glotzen. Kotzt mich sowas von an, dieser elende Blick, ist kaum zu ertragen. Wir könnten ihn gehen lassen. Natürlich könnten wir das. Wäre ein Leichtes. Die Tür auf und hinaus mit ihm, viel Spaß beim Überleben. Und wir wären wieder einer weniger. Einer weniger, der die Vorräte frisst und schlechte Laune verbreitet. Einer weniger, auf den es im Notfall ankommen könnte. Scheiß Situation. Wirklich, scheiß Situation. Von all den Menschen mit Potential, die es in diese gottverlassene Gegend hätte verschlagen können, hat es ausgerechnet uns fünf getroffen. Uns fünf Deppen. Bernhard Dahlhoff, den übersensiblen Steuerberater mit Hang zum Drama. Marissa Lindberg, die depressive Erzieherin und ihre nervtötenden Söhne Johann und Wolfgang, die Arbeit nur aus dem Fernsehen kennen, obwohl sie stramm auf die Dreißig zugehen. Und natürlich mich. Katharina Regner. Verhinderte Schriftstellerin. Verhinderte Selbstmörderin. Verhinderte Existenz. Wir sind schon ein Spitzenteam. Zusammen bilden wir nun also den räudigen Rest Zivilisation, der sich tapfer dem Untergang der Menschheit entgegenstemmt. Oder wie stand das nochmal im Kleingedruckten der Apokalypse?
Zwei Uhr früh. Da ging es immer los. Da wachten sie auf. Erst traf es nur ein paar unruhige Schläfer, dann wurden es immer mehr. Punkt zwei Uhr schlugen sie die Augen auf und fühlten sich unruhig. Jede Nacht. Immer um zwei Uhr. Immer ein schlechtes Gefühl. Das blieb natürlich eine Weile unbemerkt. Man läuft ja nicht sofort zum Arzt, nur weil man beschissen schläft. Aber nach ein paar Monaten drang es doch durch. Dass etwas nicht ganz stimmen könnte. Stand dann auch in der Zeitung. Der halbe Kontinent, immer um zwei Uhr früh wach. Das ist nicht normal. Also wurden Untersuchungen angestellt und eine Reihe hochintelligenter Leute begann sich schlaue Gedanken zu machen. Am Ende ihres Denkprozesses waren sie allerdings kaum klüger geworden. Die Schlaflosigkeit breitete sich ungehindert aus und niemand konnte sich einen Reim darauf machen. Bis wir schließlich das Signal entdeckten. Mit wir meine ich natürlich die ESA. Wir meint die Wissenschaft und ganz bestimmt nicht mich. Ich saß zu jener Zeit zwischen zwei unveröffentlichten Büchern fest und wälzte mich in schwermütigen Gedanken. Die Schlaflosigkeit anderer ging mir am Arsch vorbei. Aber ist auch egal. Das Signal stammte jedenfalls vom Rand unseres Sonnensystems. Aus irgendwelchen, uns unbegreiflichen Gründen, störte es den Schlafrhythmus hunderttausender Menschen. Und es wurde stärker. Das war schon eine krasse Nachricht. Riss selbst mich aus meiner trübseligen Stimmung. Was kam da aus den Tiefen des Weltalls auf uns zu? Die Frage stellte natürlich nicht nur ich. Wir alle stellten sie. Weltweit. Und die möglichen Antworten machten uns Angst. Es wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, um als Menschheit näher aneinander zu rücken. Ein Schulterschluss der Nationen, oder wie man es auch nennen will. Stattdessen schlugen wir uns die Köpfe ein. Reflexhaft, möchte man schon sagen. Vielleicht lag es aber auch an dem verdammten Signal.
Die Dahlhoff-Show beginnt. Er hyperventiliert jetzt. Gleich kommt die Nummer mit den rollenden Augen und dann geht es richtig los. Schon irgendwie spannend, wie vorhersehbar so ein Nervenzusammenbruch ist, wenn man sich gut kennt. Die alte Lindberg steht auch schon in den Startlöchern, um Dahlhoffs Ausbruch abzufangen. Ist so etwas wie ihr neues Hobby. Das und die Sorge um ihre missratenen Söhne. „Mamma, wann gibt es wieder Strom?“ „Mamma, ist der Krieg bald vorbei?“ „Mamma, was wird jetzt aus uns?“ „Mamma dies, Mamma das.“ Die beiden benehmen sich wie kleine Kinder. Erwachsene Männer. Wahrscheinlich ein Trauma. Ist aber auch egal. Alles ist egal. Wir haben keine Ahnung, was mit dem Strom ist. Oder mit dem Krieg. Wir haben keine Ahnung, was überhaupt noch ist. Wir wissen nur, was war. Und das war blutiger Wahnsinn. Überall. Und ich weiß nicht, warum ich bis heute überlebt habe. Ich kann nicht zählen, wie oft ich beinahe gestorben wäre. Aber plötzlich klebte ich an meinem Leben. Ich kämpfte. Ich tötete. Und landete schließlich hier. In diesem Bauernhaus am Arsch der Welt. Um Dahlhoff dabei zuzuhören, wie er im Namen seiner toten Frau nach Gerechtigkeit schreit. Ach verdammt, ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren. Aber ist auch egal. Das hier wird sowieso keiner mehr lesen.

© sybille lengauer

Wo soll uns das alles noch hinführen?

Am Ende einer unscheinbaren Sackgasse unseres Dorfes steht, vom blassen Schein einer alten Straßenlaterne beleuchtet, ein kleiner, gelber Schaufelbagger. Seine Schaufel stützt sich schwer auf den asphaltierten Boden, als hätte er sie, erschöpft von den Mühen des Tages, zum Schlafen dort abgelegt. Sein leeres Führerhäuschen weist aus dem Dorf hinaus, auf kahle Büsche und Bäume, die in diesem ewigen Herbst, der nicht Winter werden will, ihre Blätter dem gefräßigen Wind geopfert haben. In manchen Nächten leistet ihm ein verbeulter Metallcontainer schweigsame Gesellschaft, doch meist steht der kleine Bagger ganz allein im Licht der alten Laterne und manchmal spaziere ich spätabends vorbei, um ihm dabei zuzusehen. Über uns, im regnerischen Wolkenhimmel, reißt der Wind dann vielleicht eine Lücke auf. Zeigt sich, mit etwas Glück, der unermüdlich jagende Orion und ich denke dann bei mir, dass es ein verdammt langer Weg ist, von diesem winzigen Schaufelbagger, hin zu den gewaltigen Sternen. Doch schon im nächsten Augenblick weht der Wind neue Wolkenberge heran und es bleibt, tief unter ihnen begraben, nicht viel mehr übrig, als der einsame Schaufelbagger und meine diffuse Sehnsucht nach den Sternen. Und ich frage mich, ob er nicht doch genauso froh ist wie ich, wenn Morgen die Sonne wirklich wieder aufgehen will.

© sybille lengauer

Was ist Zeit?

Veröffentlicht: Januar 16, 2020 in Gedichte
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Was ist Zeit?
(Reaktion auf das Photo-Projekt „Noah takes a photo of himself every day for 20 years“)

Wie ein Orkan ist sie.
Sie, die Unerschütterliche,
Tost allgewaltig um unsre suchenden Gestalten.
Umstürmt uns, die Jungen, wie die Alten.
Bis wir spurlos in ihr verweh’n.
Sie ist der Atem der Götter,
Die vielleicht nie existierten.
Sie steht am Anfang.

Wie ein Fluss ist sie.
Sie, die Unbegreifliche,
Gräbt tiefe Schluchten in unsre fragenden Gesichter.
Überschwemmt uns rastloses Gelichter,
Bis wir lautlos in ihr untergeh’n.
Sie ist der Hauch der Erkenntnis,
Dass wir vielleicht existieren.
Sie steht am Ende.

© sybille lengauer

A S H

Veröffentlicht: Januar 8, 2020 in Kurzgeschichten
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A S H
(Anonyme Super-Helden)

Alles begann vor vierzig Jahren, als ein ungewöhnlicher Asteroidenschauer plötzlich die Atmosphäre der Erde traf… Ach fuck it. Jede Geschichte, die seither erzählt wurde, beginnt mit dem verdammten Asteroidenschauer. Jeder Idiot, der es auch nur halbwegs versteht zu schreiben, erzählt über die Wolke und ihre fatale Wirkung auf unsere Gene. Dabei kennen wir alle die Geschichten. Jedes Kind weiß, was damals geschah. Und dass seither alles anders geworden ist, brauche ich auch niemandem zu sagen. Im Grunde kann ich nur meine Geschichte erzählen und das reicht eigentlich auch schon. Also hey, mein Name ist Joe und ich habe übermenschliche PSI-Kräfte. Wenn man es genau nimmt, habe ich natürlich einen Scheiß. Wenn man es ganz genau nimmt, teile ich einen Körper mit meinem eineiigen Zwillingsbruder Jack. Sag hallo, Jack. „ACH, FICK DICH, JOE.“ Danke für deinen Beitrag, Jack. Wie dem auch sei, wir stecken also von Geburt an zusammen in einem Körper und da es nur einen aktiven Geist braucht, um so einen Fleischklops zu bedienen, kann der andere den Körper verlassen um, nur zum Beispiel, die Antworten einer laufenden Prüfung nachzuschlagen. Wir haben eine Menge hoch dotierter Auszeichnungen gewonnen, bevor uns die IMAB (Internationale Mutanten-Abwehr-Behörde) auf die Schliche kam. Danach war es natürlich vorbei mit der akademischen Bilderbuchkarriere und die nächsten Jahre arbeiteten wir ausschließlich im Auftrag der IMAB. Es gab ja nur diese Möglichkeit. Die einfache Wahl lautete: Die Behörde oder der Knast. Was gab es da groß zu überlegen? Also wurden wir ausgebildet und schließlich als Internationaler Mutanten-Suchagent, IMS Joe Jackson, auf die Welt losgelassen. Ich weiß nicht, wer in dieser humorlosen Behörde ausgerechnet an jenem Tag einen Clown gefrühstückt hat, aber danke noch einmal für diesen bekackten Namen, Kumpel. Unsere Aufgabe war es, geheime Mutantentätigkeiten innerhalb europäischer Firmen zu untersuchen. Illegale Geschäfte also, bei denen sich ein Unternehmen unerlaubten Vorteil durch den Einsatz eines oder mehrerer Mutanten verschafft. Die Sache lief eigentlich immer gleich ab. Joe Jackson begann als kleiner Angestellter in einer unbedeutenden Abteilung zu arbeiten und während er sich brav zwischen 9 und 17 Uhr abrackerte und zufriedenstellende Ergebnisse an seine Vorgesetzten lieferte, durchdrang ein geisterhafter Unsichtbarer alle Abwehrsysteme der Firma, um selbst ihre bestbehüteten Geheimnisse zu erforschen. Was wir fanden unterliegt selbstverständlich behördlicher Geheimhaltung, aber ich kann verraten, dass jedes, wirklich jedes Unternehmen, das wir in sechs Jahren untersucht haben, in irgendwelche miesen Geschäfte verwickelt war. Natürlich ging es dabei nicht immer um Mutanten. Aber nicht selten landeten wir einen Volltreffer. Die Behörde interessierte sich ausschließlich für unsere Erkenntnisse im Bereich illegaler Mutantentätigkeiten. Jack und mich hingegen interessierten die profan menschlichen Fälle von Eifersucht und Seitensprung, nagender Missgunst und Gier, die uns ein einträgliches Feld der Erpressung eröffneten. Wirklich reich sind wir darüber nicht geworden, aber ich will mich auch nicht beklagen. Wir haben unseren Schnitt schon gemacht. Das Leben lief eigentlich gut. Klar, es war nie einfach. Wie soll es das auch sein, wenn du eine Zwangs-WG in einem Körper bildest und nichts von dem, was du denkst oder tust, vor deinem Bruder verborgen bleibt? Da kommt es ganz unausweichlich zu Reibereien und um ehrlich zu sein, gab es davon nicht wenige. Aber irgendwie verstanden wir es immer, uns schließlich wieder zusammenzuraufen. Gemeinsam gegen den Rest der Welt, oder so ähnlich. Es lief irgendwie. Bis Natascha in unser Leben trat. Nein, ich erzähle hier keine schmalzige Liebesgeschichte. Billige Romanzen kannst du dir meinetwegen im rosaroten Boudoir deiner sentimentalen Busenfreundin reinziehen. Natascha war dreizehn Jahre alt und fand die Strähnen in unserem ergrauenden Barthaar alles andere als sexy. Tatsächlich fand sie uns sogar ausgesprochen unsympathisch, als wir uns zum ersten Mal begegneten. IMS Joe Jackson arbeitete damals Inkognito in der deutschen Niederlassung eines namhaften Softwareherstellers. Wir hatten die Führungsetage und einen Großteil der Angestellten unter die Lupe genommen und bisher keinen greifbaren Beweis für illegale Mutantentätigkeiten entdeckt. Hinweise gab es zwar zuhauf, aber jede Spur, die wir verfolgten, verlief irgendwann im Sande und wir standen vor der Entscheidung, einen negativen Abschlussbericht an die Behörde zu verfassen. Jack kam schließlich auf den zündenden Gedanken, jene vielgerühmte Jugend-Sportgruppe in Augenschein zu nehmen, die drei Mal wöchentlich auf dem firmeneigenen Sportgelände trainierte und für das Unternehmen an protzigen Wettbewerben teilnahm. Was Jack dort neben hervorragenden Weitsprung- und Lauftalenten fand, waren engagierte, junge Mutanten, die unter der Anleitung ihres vermeintlichen Sportlehrers Spezialaufgaben für die Firma erledigten. Der heimliche Star der Truppe war eine junge Gedankenmanipulatorin namens Natascha. Niemand konnte sich der Kraft ihrer autosuggestiven Botschaften widersetzen, nichts blieb ihrem alles durchdringenden Blick verborgen. Auch Jack nicht, der sich unsichtbar im Kraftraum unter die Teenager mischen wollte und von Nataschas entrüsteten Schreien vertrieben wurde. Wir waren aufgeflogen. Das war uns noch nie passiert. Natascha war ein verdammtes Mutantensucher-Suchgerät. Das war brandgefährlich, aber zugleich hochinteressant und so zögerten wir den Bericht an die IMAB hinaus, um uns näher mit Nataschas Fähigkeiten auseinanderzusetzen, bevor sie im gefräßigen Bauch der Behörde verschwand. Ich werde unser Treffen nie vergessen. „Was wollt ihr alten Säcke von mir?“, fragte das zierliche Mädchen in den zerrissenen Jeans und ich antwortete mit einem Schulterzucken. Wir standen vor einem billigen Schnellrestaurant, Natascha, Jack und ich. Drei Menschen, die nur zwei Schatten warfen, aber daran störte sich Natascha nicht. Sie schaute uns herausfordernd an und zog geräuschvoll Rotz durch ihre gerötete Nase: „Also, was ist jetzt?“ „Wir wollen dir helfen.“, übernahm Jack das Ruder. „Wobei wollt ihr Pappnasen mir schon helfen?“, schoss Natascha gereizt zurück und ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Beim Überleben.“, antwortete Jack düster. Er hatte immer schon diesen Hang zum theatralischen. „Ja klar.“, schnaubte Natascha abfällig. Sie drehte sich um und schlenderte, demonstrativ desinteressiert, die Straße hinunter. Wir folgten ihr dichtauf und ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden erneut das Wort an sie richtete, ich weiß nur noch, dass der Begriff Mutanten fiel und Natascha daraufhin die Beherrschung verlor. „Ich bin kein Mutant, du dämlicher Wichser, ich bin ein gottverdammter Superheld!“, schrie sie zornig, dann schlug sie Jack und mich mit einer mentalen Schockwelle zu Boden und verschwand in den Straßenschluchten der Stadt. Nach dieser Auseinandersetzung gab es kein Herankommen an sie, Natascha hielt vorsichtigen Abstand zu Joe Jackson und der Firma. Also informierten wir nach einigen Tagen die IMAB und ließen den Dingen ihren Lauf. Nie hätte ich damit gerechnet, Natascha eine Woche später vor der Tür unserer Wohnung zu finden. Zitternd und mit dunklen Ringen unter den Augen, durchfroren, übernächtigt und zutiefst verängstigt. „Ihr wolltet mir helfen. Jetzt helft mir auch.“, forderte sie und in ihren Augen lag keine Bitte. „Nein.“, antwortete Jack ohne zu zögern und in diesem Moment zerbrach das fragile Band, das mich und meinen Bruder bis dahin verbunden hatte. Ein Streit entbrannte, den ich hier nicht beschreiben will, den ich nicht beschreiben kann, denn die Dinge, die gesagt wurden, öffneten eine Mördergrube zwischen uns, die sich bis heute nicht geschlossen hat. Natascha beendete die wüste Auseinandersetzung, indem sie Jack aus Joe Jacksons Körper schleuderte und mir die alleinige Kontrolle überließ. Als materieloser Geist konnte Jack nicht viel ausrichten, Natascha war also vorerst in Sicherheit. Einer Sicherheit wovor? War es wirklich mein Plan, eine dreizehnjährige Mutantin vor der IMAB zu verstecken? IMS Joe Jackson, der willige Grüßaugust der Behörde, der jahrelang ein zufriedenes Dasein als schattenhafter Befehlsempfänger geführt hatte? Wenn nicht ich, wer dann? Ich beschloss, Natascha zu verstecken. Es hätte ein großartiges Abenteuer werden können. Eine spritzige Geschichte über Verfolgungsjagden und geheime Treffen, gespickt mit markigen Sprüchen und hirnlosen Dialogen, aber es endete noch in derselben Nacht. Mit Tränen. Ich hätte wissen müssen, dass IMS Joe Jackson von der Behörde überwacht wurde. Warum sollte die IMAB einem altgedienten Mitarbeiter vertrauen, wenn sie ihn auch abhören kann? Unbewusst hatte ich vielleicht sogar damit gerechnet, denn wirklich erschrocken war ich nicht, als das Sondereinsatzkommando der Behörde unser schäbiges Hotelzimmer stürmte. Trotzdem kämpfte ich tapfer. Für Natascha, die in einem verwaschenen Superman T-Shirt vor dem Fernseher hockte und gellend schrie. Für den Mann, der vielleicht aus mir geworden wäre, wenn mich die Behörde damals nicht erwischt hätte. Ich kämpfte für Joe, ich kämpfte für Jack, ich kämpfte für meine diffuse Vorstellung von Freiheit und Würde. Ich kämpfte und ich verlor. Natürlich. Die IMAB kennt Methoden, um sich gegen mentale Angriffe von Mutanten zu verteidigen. Ihre Strategien sind nicht schön, sie sind nicht elegant, aber sie sind unglaublich effektiv. Wir hatten keine Chance. Ich glaube, dass ein Teil von mir damals auf diesem klebrigen Hotelzimmerteppich gestorben ist. Ein naiver, aufgeweckter Teil, der die Welt als einen großen Spielplatz betrachtete und das Leben für ein Abenteuer hielt. Als ich hilflos mitansehen musste, wie Natascha von den Spezialagenten überwältigt und brutal verhaftet wurde, erstarb jedes gute Gefühl in mir und übrig blieb kaum mehr als kalte Bitterkeit. Ich habe sie nie wieder gesehen. Natascha verschwand, wie so viele, die in die Fänge der Behörde geraten sind. Vielleicht sitzt sie isoliert in irgendeiner Sonderzelle und zählt tote Fliegen. Vielleicht bekommt sie in einem dieser verdammten Umerziehungslager eine Gehirnwäsche verpasst. Ich kenne die Geschichten. Ich bin nicht dämlich. Und das Ende vom Lied? Ich habe meine Haftstrafe abgesessen. Jack auch, was unsere Beziehung nicht gerade verbessert hat. Als ich schließlich rehabilitiert und in die freie Gesellschaft entlassen wurde, beschloss ich den Verein der Anonymen Super-Helden zu gründen, um Natascha und all den anderen Kindern eine Stimme zu geben. Es ist unsere Aufgabe, aus der stummen Masse hervorzutreten und den Menschen dieser Welt zu sagen: Ihr ruft uns Superhelden oder schimpft uns Mutanten, aber egal wie ihr uns nennt, ihr drückt damit nur eines aus: Dass ihr anders seid als wir. Und das stimmt auch. Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht. Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht. Und wenn ihr uns beleidigt, werden wir uns rächen. Freiheit für Mutanten. Jetzt und überall.

© sybille lengauer

Jessica

Veröffentlicht: Januar 7, 2020 in Geschichten oder so ähnlich
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Jessica

Heute Morgen ist die kleine Jessica gestorben. Auch wenn uns allen bewusst war, dass dieser Moment unausweichlich kommen würde, herrscht seither betroffenes Schweigen. Wir wollen nicht sprechen, können nicht denken, müssen trotzdem weitermachen. Irgendwie, auch wenn die Richtung fehlt. Ganz dumpf bin ich geworden, innen wie außen. Als hätte sich jemand in meine Seele geschlichen und heimlich das Licht gelöscht. Nirgendwo ist ein Ausweg in Sicht. Nur alles erdrückende Traurigkeit. Ich würde gerne Jessicas Lebensgeschichte erzählen, aber ich kenne nur jene wenigen Tage, die sie mit uns hier im Luftschutzbunker verbracht hat. Manchmal stöhnend oder leise wimmernd. In fiebrigem Delirium gefangen. Ihre halbgeschlossenen Augen, deren verhangener Blick nicht mehr in der Lage war ein Ziel zu fokussieren. Ihre kleinen Hände, schweißnass und gelblich verfärbt, die in den Falten der zerlöcherten Decke nach Geborgenheit suchten. Jessica konnte nicht mehr von ihrem Leben vor dem Krieg erzählen, also stelle ich mir vor, dass sie in einem hübsch eingerichteten Häuschen im Vorort der Stadt wohnte. Mit glücklich verheirateten Eltern und liebevollen Geschwistern. Mit einem bunten Hund, der gerne die Katze des Nachbarn auf Bäume jagte und einem wuchernden Kräutergarten, in dem Schmetterlinge nektartrunken um blühenden Lavendel taumelten. Ich stelle mir vor, wie Jessica in diesem Häuschen lachte und lebte, um zu vergessen, dass sie nun tot in unserem Lagerraum liegt. Ich habe ihr Lachen nie gehört. Bestimmt war es glockenhell und unbelastet von den eiskalten Strömungen der realen Welt, die sie schließlich gnadenlos mit sich rissen und in die hilflosen Hände unserer Gruppe spülten. In meinen Gedanken lernt Jessica ein silbernes Fahrrad zu fahren, sie backt Muffins mit Blaubeeren oder spielt ausgelassen im Garten mit dem Hund. Der Himmel über ihrem Kopf ist immer strahlend blau, weil immer Sommer ist. In meinen Gedanken ist der Krieg kein Teil der Gleichung. Ist der Tod nicht mehr als ein leises Flüstern im kniehohen Gras.
Ich weiß nicht einmal, ob ihr Name wirklich Jessica war.

© sybille lengauer