Jessica
Heute Morgen ist die kleine Jessica gestorben. Auch wenn uns allen bewusst war, dass dieser Moment unausweichlich kommen würde, herrscht seither betroffenes Schweigen. Wir wollen nicht sprechen, können nicht denken, müssen trotzdem weitermachen. Irgendwie, auch wenn die Richtung fehlt. Ganz dumpf bin ich geworden, innen wie außen. Als hätte sich jemand in meine Seele geschlichen und heimlich das Licht gelöscht. Nirgendwo ist ein Ausweg in Sicht. Nur alles erdrückende Traurigkeit. Ich würde gerne Jessicas Lebensgeschichte erzählen, aber ich kenne nur jene wenigen Tage, die sie mit uns hier im Luftschutzbunker verbracht hat. Manchmal stöhnend oder leise wimmernd. In fiebrigem Delirium gefangen. Ihre halbgeschlossenen Augen, deren verhangener Blick nicht mehr in der Lage war ein Ziel zu fokussieren. Ihre kleinen Hände, schweißnass und gelblich verfärbt, die in den Falten der zerlöcherten Decke nach Geborgenheit suchten. Jessica konnte nicht mehr von ihrem Leben vor dem Krieg erzählen, also stelle ich mir vor, dass sie in einem hübsch eingerichteten Häuschen im Vorort der Stadt wohnte. Mit glücklich verheirateten Eltern und liebevollen Geschwistern. Mit einem bunten Hund, der gerne die Katze des Nachbarn auf Bäume jagte und einem wuchernden Kräutergarten, in dem Schmetterlinge nektartrunken um blühenden Lavendel taumelten. Ich stelle mir vor, wie Jessica in diesem Häuschen lachte und lebte, um zu vergessen, dass sie nun tot in unserem Lagerraum liegt. Ich habe ihr Lachen nie gehört. Bestimmt war es glockenhell und unbelastet von den eiskalten Strömungen der realen Welt, die sie schließlich gnadenlos mit sich rissen und in die hilflosen Hände unserer Gruppe spülten. In meinen Gedanken lernt Jessica ein silbernes Fahrrad zu fahren, sie backt Muffins mit Blaubeeren oder spielt ausgelassen im Garten mit dem Hund. Der Himmel über ihrem Kopf ist immer strahlend blau, weil immer Sommer ist. In meinen Gedanken ist der Krieg kein Teil der Gleichung. Ist der Tod nicht mehr als ein leises Flüstern im kniehohen Gras.
Ich weiß nicht einmal, ob ihr Name wirklich Jessica war.
© sybille lengauer
das hast du sehr gut gemacht
und die Emotionen sind immer das Wichtigste, nicht wahr?
jetzt muss ich doch noch mal nachfragen:
das ist nur eine geschichte, nicht wahr?
das ist nichts, was du wirklich erlebt hast, oder?
Die Frage ist ein großes Kompliment. Vielen Dank dafür. Diese Geschichte ist frei erfunden, aber die Emotionen darin sind echt.
So schön erzählt … aber so traurig …
sehr traurig
Jetzt heißt sie Jessica, gewiss… behutsam und berührend, deine Sätze.
Danke