Archiv für Februar, 2020

Orca

Veröffentlicht: Februar 22, 2020 in Kurzgeschichten
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Orca

„Sind wir hier auch richtig?“ Frank stellt mir diese Frage jetzt zum dritten Mal. Ich schwimme stumm neben ihm, habe zweimal geantwortet und nun ist es auch genug. „Greg?“ Ich überlege genervt, ob ich Frank abhängen soll. „Greg?“ Aber ich weiß, dass er dann panisch wird. Frank denkt, alles Unerwartete würde uns umbringen. „Hey, Greg, hörst du mir zu?“ Ich denke an einen ruhigen Ort, tief unten im Ozean, an dem ich ihn ermorden könnte. Sein Kadaver für die Haie und die gute, alte Stille für mich. Das wäre ein Angebot. „Greg?“ „Alles gut, Frank. Wir sind hier schon richtig.“ Ich schwimme schneller. Noch ein paar kräftige Schläge und wir erreichen die Strömung. Ich tauche dankbar in sie hinein. Die erdrückend träge Wärmeschicht hat mich wahnsinnig gemacht. Die Kaltströmung ist pure Energie, wir schießen in ihr dahin. Ich führe, Frank folgt mir dicht auf der Flosse. Immer wieder blitzt silbrig geschupptes Leben an uns vorbei. Schnellt in dichten Schwärmen durch das Wasser, folgt dem starken Sog. Ihr Ziel ist allerdings nicht das verdammte Schiff, das wir suchen. Ich habe keine Ahnung, was ihr Ziel ist. Tiefgrüne Wälder wahrscheinlich und ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen Kelpwald durchschwommen habe, es ist eine Ewigkeit her. „Greg?“ „Ja, Frank?“ „Bist du sicher,…“ „Ja, Frank.“ „Du hast mich nicht ausreden lassen.“ „Das ist nicht nötig, Frank. Wir sind auf alles vorbereitet.“ Meine Anzeige leuchtet auf. „Dort vorne ist der Luftvorrat.“ informiere ich ihn und verringere das Tempo. Wir fallen aus der Strömung, tauchen hintereinander in die klobige Vorrichtung und nehmen Sauerstoff auf. Ich verschwende keine Zeit, möchte vermeiden, dass Frank in der Pause ein Gespräch beginnt. Also tauche ich direkt zurück in die Strömung. Je schneller wir am Ziel sind, desto schneller haben wir die Sache hinter uns und können getrennter Wege ziehen. Ich bilde nie wieder ein Team mit Frank. Nie wieder. „Greg?“ „Ja, Frank?“ Ich kann hören, wie meine Zähne knirschen. „Hast du den Kleber dabei?“ Ich könnte es wie einen Unfall aussehen lassen. Die Primaten waren in der Überzahl, Sir. Leider schaffte es unser tapferer Kamerad nicht zurück nach Hause. Mit etwas Glück bekäme ich dafür noch einen Orden. „Greg?“ Das darf nicht wahr sein. „Ja, Frank?“ „Es tut mir leid.“ „Was tut dir leid, Frank?“ „Ich weiß, dass ich dir an den Speck gehe.“ „Tatsächlich?“ „Ich klickere, wenn ich nervös bin. Und ich bin gerade sehr nervös.“ „Wäre mir nicht aufgefallen.“ „Tut mir leid, Greg.“ „Schon gut.“ Ich erhöhe das Tempo. Folge dem kalten Strom und denke nicht mehr an die unzähligen Möglichkeiten, mit denen ich Frank vom Angesicht des Meeres tilgen könnte. Wir sind im Krieg. Ich konzentriere mich auf den Auftrag.
Frank hält tatsächlich eine Zeitlang das Maul. Ich kann mich endlich wieder denken hören.
Wenn wir das Schiff erreicht haben, muss alles ganz schnell geschehen. Die Sprengfallen müssen angebracht werden, ohne von den empfindlichen Außenhautsensoren bemerkt zu werden. Das wird schon schwer genug. Danach den Tank mit der Regentin sicher aus den Trümmern zu bergen, wird allerdings ein Ding der Unmöglichkeit. Wie ich diesen Kraftakt mit ‚Meine-Nerven-fliehen-mit-den-Fischen‘ Frank bestehen soll, ist mir ein Rätsel. Andererseits kann nur er die Sprengfallen vor Ort zünden, sollte etwas schiefgehen. Ich kann dann nur in Stücke fliegen, was vielleicht auch eine Erleichterung wäre. Und die Regentin wäre für immer verloren. So weit darf es nicht kommen. Es darf auf so viele Arten nicht geschehen. Der Schwarm der Möglichkeiten ist schmal. „Greg?“ Und da ist er wieder. „Ja, Frank?“ „Ich glaube, wir sind da.“ Ich habe das Leuchten der Anzeige nicht bemerkt. War zu sehr in meinen Gedanken versunken. „Korrekt.“ bestätige ich und biege unvermittelt aus der Strömung. Wir bremsen abrupt, Frank rammt mich und flüstert eine Entschuldigung. „Aktiviere Tarnkappenvorrichtung.“ kommentiere ich, bin jetzt ganz Profi. Ich kann das Schiff zwar noch nicht orten, aber die Anzeige lotst mich in die entsprechende Richtung. „Tarnkappenvorrichtung aktiviert.“ antwortet Frank. Wir schwimmen los. Steigen zielstrebig nach oben, immer Flosse an Flosse. Ich kann Franks Aufregung spüren. Kann mein eigenes Herz schlagen hören. Ich verlangsame den Rhythmus. „Alles wird gut, Frank.“ „Danke, Greg.“ Jetzt kann ich das Schiff orten. Seine Späher liegen schlafend an der Oberfläche. Gut für uns. Wahrscheinlich müssen sie Energie sparen. Es bedarf eines enormen Aufwandes, um einen ausgewachsenen Orca auf einem verdammten Boot gefangen zu halten. Das kostet. Ich nicke Frank kurz zu und wir trennen uns. Lautlos nähern wir uns von beiden Seiten dem Bauch des Schiffes. Tasten uns vorsichtig heran. Die Späher regen sich nicht vom Fleck, unsere Tarnkappen funktionieren also. Gut. Fünfzig Meter vor dem Ziel reduziere ich die Geschwindigkeit drastisch, sodass mich die Bewegungssensoren an der Außenhaut nicht wahrnehmen können. Es fühlt sich an, als müsste ich rückwärts schwimmen. Meter um Meter schiebe ich mich heran. Weiß, dass Frank es auf der anderen Seite im Idealfall genauso macht. Hoffe, dass er die Nerven behält. Endlich kann ich die Sprengfalle anbringen. Es dauert eine Ewigkeit und ich warte in jeder Sekunde auf den verfluchten Alarm. Kann fühlen, wie alle Muskeln in meinem Körper vibrieren. Als plötzlich grelle Sirenenwarntöne durch das Wasser schrillen, bin ich fast erleichtert. Aber nur für eine Millisekunde. Dann beschleunige ich meine Arbeit, brauche nun ja keinen Gedanken mehr an die Bewegungssensoren zu verschwenden. Wir sind entdeckt. Heilige Delfinscheiße. Die Späher tauchen zu uns ab, ich kann ihre kleinen Motoren durch das Wasser surren hören. Mit einer letzten, kräftigen Drehung ist die Sprengfalle verankert und bereit. Ich lasse mich sofort zurückfallen, tauche kurz auf, schnappe hektisch nach Luft und versuche dann, Abstand zum Schiff zu gewinnen. Werde augenblicklich von ein paar sirrenden Spähern in die Tiefe verfolgt. „Bereit!“ klicke ich lautstark, denn es ist jetzt nicht mehr wichtig, wer mich hören könnte. Ich zerlege eine der flinken Maschinen mit der Schwanzflosse, zermalme eine weitere zwischen meinen Kiefern. Der letzte Späher rammt mich, schlitzt mit einer rasiermesserscharfen Metallflosse tief über meinen Rücken. Ich zerbeiße ihn wütend, ignoriere den brennenden Schmerz. Dann drehe ich mich nach dem Schiff um. „Frank!“ Eine heftige Explosion antwortet auf meinen Ruf. Die Druckwelle trifft mich so hart, dass ich unvermittelt auftauchen muss. An der Oberfläche wird mir schwindlig, ich verliere das Bewusstsein. Die Regentin! Ich bin sofort wieder hellwach. Schieße pfeilschnell in die nachtblaue Tiefe. Meine Anzeige leuchtet nicht, ich muss den Tank selbst orten. Seine Form ist mir vertraut, aber es sind so viele Trümmer. So viele! Ich darf nicht den Kopf verlieren. Systematisch arbeite ich mich Schicht um Schicht nach unten. Schwimme zwischen zerfetzten Primatenleichen und sinkenden Schiffstrümmern. Tauche durch riesige Luftblasen, die nach oben steigen. Ich kann den Tank nicht finden. Suche weiter, sinke tiefer, erreiche den Meeresgrund. Kein Tank. Nur Chaos, das meine Sinne stört. „Greg?“ „Frank!“ Eine Woge der Erleichterung durchströmt mich, als ich Franks besorgtes Rufen durch die Tiefe schallen höre. „Ich finde den Tank nicht!“ rufe ich zurück, kann die Angst in meiner Stimme hören. Franks massiger Körper kommt durch das düstere Wasser auf mich zugeschossen, er zieht eine stark riechende Blutspur mit sich. Wir berühren uns kurz und ich fühle, dass auch er nicht allzu schwer verletzt ist. Dann gleitet er neben mir über den Meeresboden. Lange können wir hier nicht bleiben. Um uns sinken die Trümmer des Schiffes herab, wirbeln Tonnen von Sand auf. Wir suchen stumm. Kein Tank, nirgendwo. Schließlich müssen wir auftauchen. „Greg?“ „Ja, Frank?“ „Was, wenn es das falsche Schiff war?“ „War es nicht.“ „Und was, wenn doch?“ War ich tatsächlich eben noch erleichtert, dass dieser schwachsinnige Fischkopf die Explosion überlebt hat? Bevor ich ihn schlage, suche ich lieber weiter nach der Regentin. „Lass uns noch einmal das Trümmerfeld orten.“ klicke ich und tauche ab, ohne auf seine Antwort zu warten. Das Wasser ist trüb, schlierig, widerwärtig. Ich orte unzählige Trümmer. Kein Teil hat die Form eines Tanks. Die Zeit verrinnt und meine Verzweiflung wächst. Was, wenn ich sie nicht finden kann? Was, wenn sie gerade erstickt? Was, wenn sie bei der Explosion getötet wurde? Als ich gerade wieder aufsteigen will, um zu atmen, beginnt meine Anzeige zu leuchten. „Frank.“ „Ja, Greg?“ „Ich habe Kontakt.“ Frank schießt an meine Seite, wir folgen dem Signal, so schnell wir können. Der Tank liegt, eingeklemmt zwischen einem riesigen Felsen und dem zerbrochenen Bug des Schiffes, auf steinigem Grund. Ich markiere die Fundstelle und wir tauchen eilig auf, um Luft zu holen. Dann schießen wir erneut nach unten, umschwimmen den Tank, suchen verzweifelt nach einer Öffnung. Frank stupst mich an. „Wir könnten ihn aufsprengen.“ schlägt er vor. „Dann ist sie tot!“ „Wenn sie nicht mit Sauerstoff versorgt wird, ist sie das auch.“ antwortet er und ich hasse ihn dafür, dass er recht hat. „Sie ist wahrscheinlich ohnehin tot.“ fährt es verzweifelt aus mir heraus. „Sie ist direkt hinter dir.“ klickt eine mächtige Stimme in meinem Rücken und ich lasse vor Schreck die Luft fahren. Regentin! Ehrfürchtig begrüßen wir sie mit unseren Schnauzen, singen ihren Namen durch den weiten Ozean. Vereinigen ihn mit jenen klingenden Namen, die wir uns nach unserer Befreiung selbst gegeben haben. Unser Lied dröhnt mächtig durch die wogende See. Dann steigen wir hinter ihrer geschmeidigen Gestalt zur Oberfläche auf. Ich wage es nicht, mich an sie zu wenden. Wage es nicht, sie nur länger anzusehen. Ein Schauer durchfährt mich, als sie ihren Blas in Milliarden glitzernden Tropfen in die Luft schießt. „Glorreiche Regentin, darf ich dir eine Frage stellen?“ Oh Frank, du rotierendes Quallengehirn. „Sprich, kleiner Orca.“ Sie antwortet ihm, sie antwortet ihm! „Wie bist du aus dem Tank entkommen, meine Herrliche?“ „Ich weiß es nicht, ich wurde durch die Explosion ohnmächtig und kam an der Oberfläche zu mir. Dann hörte ich eure Rufe und folgte ihnen auf den Meeresboden.“ Ich beobachte argwöhnisch einen Möwenschwarm, der über unseren Köpfen kreist. Die Vögel kreischen aufgeregt, fliegen hektisch durcheinander. Ich traue diesen Vögeln nicht. „Unendlich weise Regentin?“ Frank kann es nicht lassen. Ich fasse es nicht. „Ja, kleiner Orca?“ „Können wir jetzt nach Hause ziehen?“ Ich reiße meinen Blick vom Himmel und remple Frank grob an, tauche seinen nutzlosen Kopf unter Wasser. „Verzeiht, Regentin. Er ist ein rechter Fischschädel.“ versuche ich, mich für seine Grobheit zu entschuldigen. Ihre Antwort ist ein perlendes Lachen. Dann taucht sie unter und ich folge ihr, werde ihr immer folgen, wohin sie auch schwimmt. Und sollte es niemals nach Hause gehen. Wir sind im Krieg. Mein Platz ist an ihrer Flosse.

© sybille lengauer

Achtundsechzig

Veröffentlicht: Februar 13, 2020 in Geschichten oder so ähnlich
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Achtundsechzig

Da lagen wir also und rissen schlechte Witze über den Krebs. Wahrscheinlich, um flüsternde Ängste zu besiegen. Vielleicht aber auch, weil wir es konnten. Sie, weißer Hautkrebs. Ich, Schilddrüsenkarzinom. Wir beide, kurz vor der Operation und definitiv High von der „Alles-Egal-Pille“, die man uns zur OP-Vorbereitung gegeben hatte. Zwei erwachsene Frauen von ganz unterschiedlicher Herkunft und Geschichte, die das Zufallsrad des Lebens zu Krebskumpaninnen im Krankenzimmer gemacht hatte und die sich nun mit schwarzem Humor die Zeit vertrieben.
Wir lästerten gerade episch über den verdammten Sechser im Krebslotto, der uns aus heiterem Himmel in den Schoß gefallen war und gackerten wie Teenager über Murphys Gesetzt, als sich die Tür öffnete und eine dritte Patientin ins Zimmer geführt wurde. Große Ernsthaftigkeit umgab ihre gebeugte Person, ihr Gesicht drückte Schmerz und Verbitterung aus und es folgte ihr eine Stille, die die Seele berührte. Sie setzte sich umständlich auf das freie Krankenbett, rückte ihren weiten Bademantel zurecht und begann damit, der Krankenschwester Anweisungen zu diktieren, wie der externe Waschraum vorzubereiten sei, damit sie „dejektieren“ könne. Ich wusste mit dem Wort nichts anzufangen, erfasste jedoch, dass es sich um keinen angenehmen Vorgang handelte. Ich sah die schmerzerfüllte Schwere ihrer Bewegungen und die unnatürliche Färbung ihrer Haut, ich hörte den ungeduldigen Ton in ihrer Stimme und fühlte diffusen Respekt vor einer Situation, die ich nicht verstand. Kurze Zeit später verließ die Krankenschwester das Zimmer und eine Ordensschwester in dunkelblauem Habit betrat den Raum, anscheinend hatte sie im Flur gewartet, nun ging sie zügig ans Bett der alten Dame und setzte sich in einen Besuchersessel. Ich war neugierig, erwartete Gebete oder salbungsvolle Worte, doch die Frauen sprachen in vertrautem Ton über die unzähligen Operationen, die bereits hinter der gequälten Patientin lagen. Siebenundsechzig Operationen hatte sie nun schon durchgemacht und es sah nicht danach aus, als würde die achtundsechzigste endlich die letzte sein. Die alte Dame sah während des Gespräches mit leerem Blick aus dem Fenster, ihren Worten entströmte tiefe Resignation, die den Raum bis zum Ersticken füllte. Ich lag bedrückt in meinem Krankenbett, fühlte mich betroffen und grün hinter den Ohren, wie ein dummes Schulmädchen. Es war ein Gefühl, als wäre ich im Meer zu weit nach Draußen geschwommen und plötzlich über einen gewaltigen Abgrund geraten, den ich zwar nicht sehen, aber umso besser fühlen konnte. Über mir noch der strahlend blaue Himmel. Doch tief, tief unter mir, Finsternis, Kälte und Tod. Ich tauschte unsichere Seitenblicke mit Weißer Hautkrebs, die still in ihrem Bett lag und sehr blass geworden war. Und ich spürte die Angst, die nun kein leises Flüstern mehr war, sondern eine laut tosende Bedrohung, die nach desinfizierter Hoffnungslosigkeit und langsamem Sterben roch.

© sybille lengauer

Es geht weiter

Veröffentlicht: Februar 11, 2020 in Gefasel
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Es geht weiter…
(Auszug aus „Hirnwichsen“, Text ca. 2002)

Verhungert im Gefühlsbereich und trotzdem übersättigt von all den Liebesbeteuerungen, die man sich zur Bestätigung immer wieder um die Ohren schleimt, so wie Hunde sich gegenseitig am Arsch beriechen. Emotional ausgedörrt und chronisch unterfickt, obwohl man sich doch regelmäßig gegenseitig das Gehirn herausvögelt, um zu beweisen, wie geil man immer noch aufeinander ist. Seit ach so langer Zeit. Und es geht weiter. Was man so denkt, was man so gemacht hat, wo man so war und wie es da gewesen ist, alles wichtig, damit einem der Gesprächsstoff nicht ausgeht, weil Schweigen ja der Tod ist. Obwohl es doch nichts Schöneres gibt, als auch wortlos glücklich zu sein. Mhm.
Die richtigen Gedanken teilt man dann mit dem kleinen Arschloch im Gehirn, das einem vom eigenen Verfallsdatum erzählt und wissen möchte, was man im Leben eigentlich noch so vorhat, außer nett, glücklich und zufrieden sein. Und man schämt sich, dass man genau DAS nicht ist und eigentlich auch gar nicht sein will, weil die Motivation fehlt, man am Ziel schon längst vorbeigeschossen ist und eigentlich auch sich selbst schon längst aus den Augen verloren hat. Unzufrieden und doch gut eingelullt von der allgemeinen Lebensbequemlichkeit, voll Tatendrang, wenn’s mal wieder nichts zu tun gibt, aber leider mit allen möglichen Unmöglichkeiten beschäftigt, sollte doch einmal etwas Wichtiges anstehen. So vergeht das Leben und geht doch weiter und immer weiter, bis man irgendwann zu alt ist, um das Arschloch im Hirn zu finden, da es sich mittlerweile nach Südtirol abgesetzt hat und dort Ski fährt, weil man selbst nichts mehr zum Kotzen findet, als Schnee…

© sybille lengauer

(Fast 20 Jahre später kann ich meinem jüngeren Schreiber-Ich versichern, dass das kleine Arschloch im Gehirn immer noch da ist. Wir haben uns sehr aneinander gewöhnt und Schnee ist unser Freund geworden…)

The Frozen Ones

Dem Anfang einer jeden Geschichte liegt ein gewisser Zauber inne, der sich dem schreibenden, wie auch dem lesenden Individuum auf unterschiedliche Weise offenbart. Lässt sich der Lesende ab dem Genuss des ersten Satzes auf ein unbekanntes Abenteuer ein, oder läuft er Gefahr, sich über die nächsten Seiten zu Tode zu langweilen? Birgt die Geschichte den Impuls für neue Ideen, oder bietet sie Stoff für apokalyptische Alpträume? Manchmal ahnt man schon nach dem ersten Satz, worauf man sich bei der betreffenden Geschichte einlassen wird, zuweilen ist man nach dem ersten Kapitel noch nicht klüger geworden. Für den Schreibenden hingegen ist es das blanke Blatt Papier, welches magische Möglichkeiten in sich birgt. Womit soll man die Leere füllen, die sich bis zur Unendlichkeit hin auszudehnen scheint? Wie ist eine Geschichte zu beginnen, die sich vielleicht erst nebulös vor dem geistigen Auge zu entfalten beginnt? Legt man den Fokus auf ein kleines Detail, einen kurzen Satz, eine spezielle Geste oder beginnt man mit einem furiosen Eröffnungstanz, der mitten hineinführt, in die Geschichte?

Beginnen wir mit einem langgezogenen Warteraum, an dessen, mit vergilbter Raufasertapete tapezierten Wänden hunderte Fotos, Poster, Urkunden und Postkarten hängen. Die blendend grelle Neonbeleuchtung und der kotzgrüne PVC-Boden verleihen dem Warteraum jene depressive Grundstimmung, die rational denkende Menschen dazu verleiten kann, Bilder von sentimental blickenden Kätzchen oder drollig in Pose gesetzten Kleinkindern aufzuhängen und so entsteht, im Lauf der trübseligen Jahre, eine spürbar toxische Atmosphäre aus Traurigkeit und Kitsch, die selbst abgehärtete Büropflanzen in den Suizid treiben kann. Nahe der dunkelbraun lackierten Eingangstüre befindet sich die Karikatur einer Rezeption, die unter Aktenbergen und verwelkten Topfpflanzen zu verschwinden droht. Irgendwo in diesem chaotischen Zettelwald klingelt ein Telefon, doch niemand ist da, sich darum zu kümmern.
Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun auf jene Gestalten, die auf bequem aussehenden Sesseln sitzen und den Anschein erwecken, als würden sie sich schon eine geraume Weile im Warteraum befinden und, nun, warten. So unterschiedlich die drei Personen auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild sein mögen, ihr Ausdruck ist nach den gemeinsamen Stunden im Warteraum zu einer traurigen Einheit verschmolzen. Sie alle machen lange Gesichter und starren mit diesem speziellen Blick vor sich hin, der sich in die Augen all derer stiehlt, die im bittersüßen Honigtopf der Hoffnungslosigkeit kleben geblieben sind.
Werfen wir einen genaueren Blick auf sie. Ein älterer Herr, dessen faltenumkränzte Stirnglatze das lieblose Neonlicht spiegelt, sitzt eingekeilt zwischen einem jungen, unscheinbar wirkenden Mädchen mit Brille und einer dicklichen Matrone, die manchmal missbilligend schnaubt, sich ansonsten aber mit ihren Reaktionen ebenso zurückhält, wie die anderen. In regelmässigen Abständen streckt der alte Herr das linke oder rechte Bein vor, um sich ein wenig Linderung in seiner schmerzenden Hüfte zu verschaffen. Ab und an leckt das junge Mädchen geistesabwesend über eine aufgesprungene Stelle an seiner Unterlippe. Alle sitzen und starren, niemand interessiert sich für das verdammte Telefon.
Zeit vergeht. Und wie, sie anders zu beschreiben, als zähflüssig und träge dahinfliessend, in diesem bedrückend öden Warteraum, der jegliche Vitalität aus einem unschuldigen Menschen zu saugen vermag, wie ein grausamer Vampir, der hinterlistig im Schatten lauert und dessen staubgrauer Umhang nach verlorenen Akten und herzloser Verwaltung müffelt. Sekunden fallen wie schwere Regentropfen aus einer laut tickenden Wanduhr, Minuten verschwimmen zu farblosen Pfützen auf dem hässlichen PVC-Boden und versickern schließlich im riesigen Ozean der Ereignislosigkeit. Und immer noch, ist nichts passiert. Und was soll auch schon passieren, in diesem trostlosen Warteraum? Die drei Gestalten sitzen und warten, die Wanduhr wirft ihnen gnadenlos Sekunden vor die Füße, manchmal klingelt das verborgene Telefon. Um diese schreckliche Eintönigkeit zu zerreissen, müsste schon jemand die Stimme erheben…

„Wie lange soll man hier eigentlich noch warten?“, blafft die mollige Matrone in das erdrückende Schweigen hinein. „Das habe ich mich auch gefragt!“, entfährt es dem älteren Herrn erleichtert, er rutscht unwillkürlich auf seinem Sessel nach vorn, um sich seiner Gesprächspartnerin zuzuwenden. „Es ist eine Unverschämtheit!“, echauffiert sich diese, „Ich bin schon seit mindestens fünf Stunden tot und sitze immer noch hier!“ Sie produziert ein hellblaues Stofftaschentuch aus ihrer voluminösen Handtasche, um sich lautstark die Nase zu putzen. „Eine Ungeheuerlichkeit.“, versichert der ältere Herr, eifrig nickend. „Man hat schließlich Termine.“, setzt er gewichtig hinzu. Die Matrone antwortet mit einem trompetenden Schnäuzen. „Das ist unüblich. Sehr unüblich!“, stößt sie mit zorniger Bestimmtheit hervor, während sie das zerknitterte Stofftaschentuch wieder in ihrer Handtasche verschwinden lässt. „Normalerweise wartet man nicht so lange.“ Der alte Herr nickt erneut eifrig. Leise ächzend wendet er sich nach dem unscheinbaren Mädchen um, das still zu seiner Linken sitzt. „Ist das Ihre erste Re-Inkarnation, wertes Fräulein?“, fragt er in gönnerhaftem Ton, doch das Mädchen schüttelt nur abweisend den Kopf, es scheint nicht an einem Gespräch interessiert zu sein. „Ach so, aha.“, macht der ältere Herr etwas enttäuscht. „Es ist eine Unverschämtheit!“, wiederholt die Matrone entrüstet. Dies ist ein guter Augenblick, um Bewegung in sich und die leidige Angelegenheit zu bringen und so erhebt sie sich mit entschlossenem Grunzen aus ihrem Sessel. Breitbeinig stapft sie zur verlassenen Rezeption, um dort ungeduldig das zitternde Doppelkinn nach vorn zu recken und missbilligend auf die Berge aus Akten und losem Papier zu starren. Auch der alte Herr kommt endlich auf die Beine, entschlossen strafft er die schmalen Schultern. Seine kerzengerade Haltung kann beinahe darüber hinwegtäuschen, wie schmal seine Handgelenke, wie dünn seine knochigen Beine sind. „Nun denn!“, stößt er undefiniert hervor. Er fährt erschrocken zusammen, als in diesem Moment das Telefon erneut klingelt. „Wo ist es nur, wo ist es nur?“, stößt die feiste Matrone aufgeregt hervor, während sie hohe Aktenstapel auf der Suche nach dem Telefon durchwühlt. Im Nu ist der Boden vor der Rezeption mit losen Blättern übersäht, dutzende Bögen eng bedruckten Papiers fallen wild durcheinander. „Aha!“, triumphierend zieht die Matrone ein altes Wählscheibentelefon aus dem Chaos, in einer fließenden Bewegung hebt sie den Hörer ab und blafft ein herrisches: „Ja, wer ist da?“ durch die Leitung. Gespannt presst sie den Hörer ans Ohr, doch ihre Gesichtsfarbe wechselt rasch von aufgeregtem dunkelrot zu enttäuschtem blassrosa. „Einfach aufgelegt.“, stößt sie resigniert hervor. „Was kann das bedeuten?“, fragt der ältere Herr, der sich bei all der Aufregung lieber wieder hingesetzt hat. „Wir kommen nicht weiter.“, flüstert eine leise Mädchenstimme neben ihm. „Wie bitte?“, fragt der alte Herr, obwohl er nicht sicher ist ob er verstehen möchte, was soeben zu ihm gesagt wurde. „Wir kommen nicht weiter.“, wiederholt das junge Mädchen nun lauter, zum ersten Mal blickt es dem alten Mann direkt in die Augen und eine Woge grenzenloser Traurigkeit schwemmt seine aufgescheuchten Gedanken fort. Er sinkt im Sessel zurück, wird ganz still und beginnt leicht zu zittern. „Was heißt das, wir kommen nicht weiter?“, schreit die Matrone, sie wirft das Telefon achtlos zurück in das Zettelchaos und schießt wie eine zornige Tarantel hinter der zerwühlten Rezeption hervor. „Was weißt du, was ich nicht weiß?“, zischt sie aggressiv. Das Mädchen wendet den Blick vom alten Herrn zur aufgebrachten Furie. „Du weißt es genauso wie ich. Du willst dich nur nicht erinnern.“ „Ich? Ich?! Was weiß ich?!“, japst die Matrone mit schriller Stimme, ihre Augen sind weit aufgerissen, an ihrem Hals tritt eine dicke Ader hervor. „Die Kryostase.“, haucht der alte Herr, er ist kreideweiß geworden und in seinen Augen sammeln sich Tränen. Das Mädchen nickt und schweigt. „Kryostase? Welche Kryostase?“ Nun ist es an der Matrone, zitternd in einen der Sessel zu sinken. Schwer atmend sucht sie das zerknitterte Stofftaschentuch aus ihrer enormen Handtasche, dann hält sie jäh in der Bewegung inne und starrt mit erinnerungsfernem Blick vor sich hin. „ Ich habe mich einfrieren lassen!“, erinnert sie sich fassungslos. Ein Schauer der Erkenntnis läuft eiskalt über ihren fleischigen Rücken. „Wir sind nicht richtig tot. Wir können nicht weiter.“, flüstert der alte Herr in ihren entsetzten Gedankengang hinein und das Mädchen nickt wieder stumm. „Wie konnte ich das nur tun?“, fragt er mit Bestürzung in der Stimme. „Du konntest dich nicht an das Danach erinnern. Du hattest Angst vor dem Sterben.“, antwortet das Mädchen ruhig. „Warum kannst du dich dann erinnern?“, hakt die Matrone geistesgegenwärtig nach und ihre Augen werden misstrauisch schmal. Sie umklammert ihre Handtasche wie einen schützenden Schild, um sich gegen die bittere Realität zu wappnen und schiebt das Doppelkinn drohend vor. „Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil meine Eltern mich zu der Behandlung gezwungen haben. Aber das ist nur eine Vermutung.“, antwortet das Mädchen ehrlich. „Und was passiert jetzt?“ Es ist der alte Herr, der diese, alles entscheidende Frage stellt. Bleich und in sich zusammengesunken sitzt er unter einer großformatigen Postkarte, die einen orangen Frosch abbildet, der sich tapfer an ein geflochtenes Seil klammert. „Nicht hängen lassen.“ steht in bunten Blockbuchstaben über seinen glubschenden Froschaugen und es gleicht einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dass der alte Mann diesen schweren Moment der Ratlosigkeit unter einer solchen Postkarte erleiden muss. „Jetzt warten wir.“, antwortet das Mädchen und lehnt sich demonstrativ in seinem Sessel zurück. „Eines Tages wird mein Körper entweder erfolgreich wiederbelebt, dann kann ich zurück zur Erde. Oder er stirbt endgültig, dann kann ich weiter in die nächste Emanation. Bis dahin sitze ich hier fest, in diesem abscheulichen Warteraum.“ „Großer Gott!“, entfährt es der dicklichen Matrone, und der alte Herr stöhnt gequält auf. „Was hat Gott damit zu tun?“, fragt das Mädchen schnippisch, es verschränkt die Arme vor seiner schmalen Brust und starrt zornig an die gegenüberliegende Wand. Der Matrone entfährt ein missbilligendes Schnauben, doch es will ihr kein passender Konter einfallen und so verfällt auch sie in mürrisches Schweigen. Eine, alles erdrückende Stille breitet sich zwischen den Wartenden aus, nur zerrissen durch das gnadenlose Ticken der Wanduhr. Und so endet diese Geschichte schließlich, genau da, wo sie ihren Anfang genommen hat. Im trostlosen Warteraum der verlorenen Seelen.

© sybille lengauer