The Frozen Ones

Veröffentlicht: Februar 2, 2020 in Kurzgeschichten
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The Frozen Ones

Dem Anfang einer jeden Geschichte liegt ein gewisser Zauber inne, der sich dem schreibenden, wie auch dem lesenden Individuum auf unterschiedliche Weise offenbart. Lässt sich der Lesende ab dem Genuss des ersten Satzes auf ein unbekanntes Abenteuer ein, oder läuft er Gefahr, sich über die nächsten Seiten zu Tode zu langweilen? Birgt die Geschichte den Impuls für neue Ideen, oder bietet sie Stoff für apokalyptische Alpträume? Manchmal ahnt man schon nach dem ersten Satz, worauf man sich bei der betreffenden Geschichte einlassen wird, zuweilen ist man nach dem ersten Kapitel noch nicht klüger geworden. Für den Schreibenden hingegen ist es das blanke Blatt Papier, welches magische Möglichkeiten in sich birgt. Womit soll man die Leere füllen, die sich bis zur Unendlichkeit hin auszudehnen scheint? Wie ist eine Geschichte zu beginnen, die sich vielleicht erst nebulös vor dem geistigen Auge zu entfalten beginnt? Legt man den Fokus auf ein kleines Detail, einen kurzen Satz, eine spezielle Geste oder beginnt man mit einem furiosen Eröffnungstanz, der mitten hineinführt, in die Geschichte?

Beginnen wir mit einem langgezogenen Warteraum, an dessen, mit vergilbter Raufasertapete tapezierten Wänden hunderte Fotos, Poster, Urkunden und Postkarten hängen. Die blendend grelle Neonbeleuchtung und der kotzgrüne PVC-Boden verleihen dem Warteraum jene depressive Grundstimmung, die rational denkende Menschen dazu verleiten kann, Bilder von sentimental blickenden Kätzchen oder drollig in Pose gesetzten Kleinkindern aufzuhängen und so entsteht, im Lauf der trübseligen Jahre, eine spürbar toxische Atmosphäre aus Traurigkeit und Kitsch, die selbst abgehärtete Büropflanzen in den Suizid treiben kann. Nahe der dunkelbraun lackierten Eingangstüre befindet sich die Karikatur einer Rezeption, die unter Aktenbergen und verwelkten Topfpflanzen zu verschwinden droht. Irgendwo in diesem chaotischen Zettelwald klingelt ein Telefon, doch niemand ist da, sich darum zu kümmern.
Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun auf jene Gestalten, die auf bequem aussehenden Sesseln sitzen und den Anschein erwecken, als würden sie sich schon eine geraume Weile im Warteraum befinden und, nun, warten. So unterschiedlich die drei Personen auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild sein mögen, ihr Ausdruck ist nach den gemeinsamen Stunden im Warteraum zu einer traurigen Einheit verschmolzen. Sie alle machen lange Gesichter und starren mit diesem speziellen Blick vor sich hin, der sich in die Augen all derer stiehlt, die im bittersüßen Honigtopf der Hoffnungslosigkeit kleben geblieben sind.
Werfen wir einen genaueren Blick auf sie. Ein älterer Herr, dessen faltenumkränzte Stirnglatze das lieblose Neonlicht spiegelt, sitzt eingekeilt zwischen einem jungen, unscheinbar wirkenden Mädchen mit Brille und einer dicklichen Matrone, die manchmal missbilligend schnaubt, sich ansonsten aber mit ihren Reaktionen ebenso zurückhält, wie die anderen. In regelmässigen Abständen streckt der alte Herr das linke oder rechte Bein vor, um sich ein wenig Linderung in seiner schmerzenden Hüfte zu verschaffen. Ab und an leckt das junge Mädchen geistesabwesend über eine aufgesprungene Stelle an seiner Unterlippe. Alle sitzen und starren, niemand interessiert sich für das verdammte Telefon.
Zeit vergeht. Und wie, sie anders zu beschreiben, als zähflüssig und träge dahinfliessend, in diesem bedrückend öden Warteraum, der jegliche Vitalität aus einem unschuldigen Menschen zu saugen vermag, wie ein grausamer Vampir, der hinterlistig im Schatten lauert und dessen staubgrauer Umhang nach verlorenen Akten und herzloser Verwaltung müffelt. Sekunden fallen wie schwere Regentropfen aus einer laut tickenden Wanduhr, Minuten verschwimmen zu farblosen Pfützen auf dem hässlichen PVC-Boden und versickern schließlich im riesigen Ozean der Ereignislosigkeit. Und immer noch, ist nichts passiert. Und was soll auch schon passieren, in diesem trostlosen Warteraum? Die drei Gestalten sitzen und warten, die Wanduhr wirft ihnen gnadenlos Sekunden vor die Füße, manchmal klingelt das verborgene Telefon. Um diese schreckliche Eintönigkeit zu zerreissen, müsste schon jemand die Stimme erheben…

„Wie lange soll man hier eigentlich noch warten?“, blafft die mollige Matrone in das erdrückende Schweigen hinein. „Das habe ich mich auch gefragt!“, entfährt es dem älteren Herrn erleichtert, er rutscht unwillkürlich auf seinem Sessel nach vorn, um sich seiner Gesprächspartnerin zuzuwenden. „Es ist eine Unverschämtheit!“, echauffiert sich diese, „Ich bin schon seit mindestens fünf Stunden tot und sitze immer noch hier!“ Sie produziert ein hellblaues Stofftaschentuch aus ihrer voluminösen Handtasche, um sich lautstark die Nase zu putzen. „Eine Ungeheuerlichkeit.“, versichert der ältere Herr, eifrig nickend. „Man hat schließlich Termine.“, setzt er gewichtig hinzu. Die Matrone antwortet mit einem trompetenden Schnäuzen. „Das ist unüblich. Sehr unüblich!“, stößt sie mit zorniger Bestimmtheit hervor, während sie das zerknitterte Stofftaschentuch wieder in ihrer Handtasche verschwinden lässt. „Normalerweise wartet man nicht so lange.“ Der alte Herr nickt erneut eifrig. Leise ächzend wendet er sich nach dem unscheinbaren Mädchen um, das still zu seiner Linken sitzt. „Ist das Ihre erste Re-Inkarnation, wertes Fräulein?“, fragt er in gönnerhaftem Ton, doch das Mädchen schüttelt nur abweisend den Kopf, es scheint nicht an einem Gespräch interessiert zu sein. „Ach so, aha.“, macht der ältere Herr etwas enttäuscht. „Es ist eine Unverschämtheit!“, wiederholt die Matrone entrüstet. Dies ist ein guter Augenblick, um Bewegung in sich und die leidige Angelegenheit zu bringen und so erhebt sie sich mit entschlossenem Grunzen aus ihrem Sessel. Breitbeinig stapft sie zur verlassenen Rezeption, um dort ungeduldig das zitternde Doppelkinn nach vorn zu recken und missbilligend auf die Berge aus Akten und losem Papier zu starren. Auch der alte Herr kommt endlich auf die Beine, entschlossen strafft er die schmalen Schultern. Seine kerzengerade Haltung kann beinahe darüber hinwegtäuschen, wie schmal seine Handgelenke, wie dünn seine knochigen Beine sind. „Nun denn!“, stößt er undefiniert hervor. Er fährt erschrocken zusammen, als in diesem Moment das Telefon erneut klingelt. „Wo ist es nur, wo ist es nur?“, stößt die feiste Matrone aufgeregt hervor, während sie hohe Aktenstapel auf der Suche nach dem Telefon durchwühlt. Im Nu ist der Boden vor der Rezeption mit losen Blättern übersäht, dutzende Bögen eng bedruckten Papiers fallen wild durcheinander. „Aha!“, triumphierend zieht die Matrone ein altes Wählscheibentelefon aus dem Chaos, in einer fließenden Bewegung hebt sie den Hörer ab und blafft ein herrisches: „Ja, wer ist da?“ durch die Leitung. Gespannt presst sie den Hörer ans Ohr, doch ihre Gesichtsfarbe wechselt rasch von aufgeregtem dunkelrot zu enttäuschtem blassrosa. „Einfach aufgelegt.“, stößt sie resigniert hervor. „Was kann das bedeuten?“, fragt der ältere Herr, der sich bei all der Aufregung lieber wieder hingesetzt hat. „Wir kommen nicht weiter.“, flüstert eine leise Mädchenstimme neben ihm. „Wie bitte?“, fragt der alte Herr, obwohl er nicht sicher ist ob er verstehen möchte, was soeben zu ihm gesagt wurde. „Wir kommen nicht weiter.“, wiederholt das junge Mädchen nun lauter, zum ersten Mal blickt es dem alten Mann direkt in die Augen und eine Woge grenzenloser Traurigkeit schwemmt seine aufgescheuchten Gedanken fort. Er sinkt im Sessel zurück, wird ganz still und beginnt leicht zu zittern. „Was heißt das, wir kommen nicht weiter?“, schreit die Matrone, sie wirft das Telefon achtlos zurück in das Zettelchaos und schießt wie eine zornige Tarantel hinter der zerwühlten Rezeption hervor. „Was weißt du, was ich nicht weiß?“, zischt sie aggressiv. Das Mädchen wendet den Blick vom alten Herrn zur aufgebrachten Furie. „Du weißt es genauso wie ich. Du willst dich nur nicht erinnern.“ „Ich? Ich?! Was weiß ich?!“, japst die Matrone mit schriller Stimme, ihre Augen sind weit aufgerissen, an ihrem Hals tritt eine dicke Ader hervor. „Die Kryostase.“, haucht der alte Herr, er ist kreideweiß geworden und in seinen Augen sammeln sich Tränen. Das Mädchen nickt und schweigt. „Kryostase? Welche Kryostase?“ Nun ist es an der Matrone, zitternd in einen der Sessel zu sinken. Schwer atmend sucht sie das zerknitterte Stofftaschentuch aus ihrer enormen Handtasche, dann hält sie jäh in der Bewegung inne und starrt mit erinnerungsfernem Blick vor sich hin. „ Ich habe mich einfrieren lassen!“, erinnert sie sich fassungslos. Ein Schauer der Erkenntnis läuft eiskalt über ihren fleischigen Rücken. „Wir sind nicht richtig tot. Wir können nicht weiter.“, flüstert der alte Herr in ihren entsetzten Gedankengang hinein und das Mädchen nickt wieder stumm. „Wie konnte ich das nur tun?“, fragt er mit Bestürzung in der Stimme. „Du konntest dich nicht an das Danach erinnern. Du hattest Angst vor dem Sterben.“, antwortet das Mädchen ruhig. „Warum kannst du dich dann erinnern?“, hakt die Matrone geistesgegenwärtig nach und ihre Augen werden misstrauisch schmal. Sie umklammert ihre Handtasche wie einen schützenden Schild, um sich gegen die bittere Realität zu wappnen und schiebt das Doppelkinn drohend vor. „Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil meine Eltern mich zu der Behandlung gezwungen haben. Aber das ist nur eine Vermutung.“, antwortet das Mädchen ehrlich. „Und was passiert jetzt?“ Es ist der alte Herr, der diese, alles entscheidende Frage stellt. Bleich und in sich zusammengesunken sitzt er unter einer großformatigen Postkarte, die einen orangen Frosch abbildet, der sich tapfer an ein geflochtenes Seil klammert. „Nicht hängen lassen.“ steht in bunten Blockbuchstaben über seinen glubschenden Froschaugen und es gleicht einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dass der alte Mann diesen schweren Moment der Ratlosigkeit unter einer solchen Postkarte erleiden muss. „Jetzt warten wir.“, antwortet das Mädchen und lehnt sich demonstrativ in seinem Sessel zurück. „Eines Tages wird mein Körper entweder erfolgreich wiederbelebt, dann kann ich zurück zur Erde. Oder er stirbt endgültig, dann kann ich weiter in die nächste Emanation. Bis dahin sitze ich hier fest, in diesem abscheulichen Warteraum.“ „Großer Gott!“, entfährt es der dicklichen Matrone, und der alte Herr stöhnt gequält auf. „Was hat Gott damit zu tun?“, fragt das Mädchen schnippisch, es verschränkt die Arme vor seiner schmalen Brust und starrt zornig an die gegenüberliegende Wand. Der Matrone entfährt ein missbilligendes Schnauben, doch es will ihr kein passender Konter einfallen und so verfällt auch sie in mürrisches Schweigen. Eine, alles erdrückende Stille breitet sich zwischen den Wartenden aus, nur zerrissen durch das gnadenlose Ticken der Wanduhr. Und so endet diese Geschichte schließlich, genau da, wo sie ihren Anfang genommen hat. Im trostlosen Warteraum der verlorenen Seelen.

© sybille lengauer

Kommentare
  1. Gruselige Vorstellung. Hier fehlt ein Arno Schmidt: „Wenn ich tot bin, mir soll mal Einer mit Auferstehung oder so kommen: ich hau ihm Eine rein!“

  2. Interessante postmoderne Spielart des magischen Realismus. Upps …

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