Archiv für März, 2020

Für die wunderbare Seite „Krautjunker“ durfte ich eine Rezension zu Roald Dahls „Danny oder Die Fasanenjagd“ schreiben. Wer neugierig ist, folge gerne dem Link unter dem Bild.

Buchvorstellung von Sybille Lengauer Fasanenwilderei ist ein abscheuliches Verbrechen! Diese Ansicht vertritt zumindest der dickwanstige Bierbaron Victor Hasel, in dessen Waldstück, dem Haselwald, sich hunderte Fasanen tummeln. Der finanzkräftige Brauereibesitzer hält die prächtigen Vögel jedoch nicht, um sich bei geruhsamen Sonntagsspaziergängen an ihrem exotischen Anblick zu erfreuen. »Er kauft jeden Sommer Hunderte von jungen Fasanen […]

über Danny oder Die Fasanenjagd — KRAUTJUNKER

Die Hirschfrau

Veröffentlicht: März 26, 2020 in Kurzgeschichten
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Es ist nie still im nächtlichen Sommerwald. Emsige Lebewesen knistern im dichten Unterholz, Wind flüstert in den Wipfeln der Bäume. Fledermäuse sirren durch die Dunkelheit, jagen geisterbleichen Motten hinterher. Ein Waldkauz jammert klagend. In einem Tümpel rufen Frösche sehnsüchtig zur Balz auf. Über den rauschenden Baumkronen spannt sich der grenzenlose Himmel, bauschige Wolken durchziehen seine samtblaue Weite. Funkelnde Sterne treten gegen einen sichelförmigen Mond an, der ein sardonisches Lächeln in die Nacht reißt.
Clemens fühlt sich einsam inmitten der Fülle. Er hört nicht den Nachtgesang der Frösche, hört nur die Stille in seinem Herzen. Er sieht nicht, wie das Licht des Mondes durch die Bäume schimmert, sieht nur das Ende seines Weges, an einem glatten Buchenast. Clemens erhängt sich. Zumindest ist das seine Absicht. Bisher hat er es vom Waldparkplatz bis zur kräftigen Buche geschafft, die er ausgesucht hat.
„An diesem Ast könnte man sich prima aufhängen.“ dachte er vor drei Monaten, als sein Bruder ihn schwatzend durch das Naturschutzgebiet schleifte. Die jungen Blätter des Baumes hatten in der Frühlingssonne beinah neongrün geleuchtet und Clemens war kurz stehengeblieben, hatte sich vorgestellt, wie er friedlich unter dem hellgrünen Blätterdach im Wind schaukelte. Der Gedanke wirkte beruhigend auf ihn. Es fiel Clemens leichter, den Schwall der Worte zu ertragen, den sein Bruder über ihm ausgoss. Es fiel Clemens leichter, den sinnlosen Spaziergang zu ertragen. Die Fahrt zurück im stickigen Auto und auch den nächsten Tag, mit all seinen Hindernissen. Und so blieb der Gedanke. Lungerte in seinem Gehirn, weckte ihn manchmal auf, wenn er abends vor dem Fernseher einschlief und zeigte ihm das Bild seiner schaukelnden Leiche.
Clemens ist schon lange schwer depressiv. Bisher fehlte ihm der Antrieb, um sich das Leben zu nehmen, aber sein Therapeut hat neue Tabletten verordnet. Dr. Mertens hofft, dass Clemens durch die veränderte Medikation mehr aus sich heraus und in die Umarmung eines sozialen Umfelds treten könnte, doch der springt stattdessen über seinen eigenen Schatten und überwindet die letzte Hemmschwelle. Clemens leuchtet mit seiner Stirnlampe den glatten Stamm der Buche empor. Der Ast reckt sich hoch über seinem Kopf in die Dunkelheit, blickt nicht zurück, sieht nicht einladend oder abweisend aus, ist einfach nur ein stabiler Buchenast. Clemens überprüft den Inhalt seines Rucksacks. Starrt auf das Seil, ohne es wirklich anzusehen. Dann schlingt er seinen Ledergürtel um den Stamm des Baumes und klettert ungelenk nach oben. Seit seiner Jugend ist er nicht mehr auf Bäume geklettert, doch im Grunde ist es wie mit dem Fahrradfahren. Man verlernt es nie. Clemens zieht sich auf den untersten Ast. Keuchend legt er eine Pause ein. Der wackelnde Lichtkegel seiner Stirnlampe macht ihn seekrank. Ärgerlich schaltet er das Lämpchen ab, wartet auf dem Ast, bis sich seine Augen an die Nacht gewöhnt haben. Dann klettert er weiter nach oben, bis er, verschwitzt und außer Atem, den hohen Ast erreicht. Clemens ist am Ziel. Er empfindet Erleichterung. Das Seil ist präpariert, der Knoten ist geübt, Clemens weiß, was er tut. Keine drei Minuten später sitzt er sieben Meter über dem Waldboden, die Schlinge um den Hals gelegt, das Seil fest um den Ast geschlungen. Zum ersten Mal nimmt Clemens seine Umgebung wirklich wahr. Er riecht den harzgeschwängerten Duft des Waldes, hört die Blätter der Buche in der sanften Brise rauschen, spürt ihre kühle Rinde unter seinen Händen. Durch das dichte Laubdach funkeln vereinzelte Sterne. In diesem Augenblick leuchten sie nur für ihn. Clemens springt. Schmerz folgt auf den kurzen Fall, blendender, gellender Schmerz. Schmerz der aufhören will. Nicht mehr gespürt werden will. Der atmen will. Der gequälte Körper bäumt sich auf, wehrt sich krampfhaft gegen das straffe Seil, das gnadenlos den Kehlkopf zerdrückt. Clemens zuckt und schaukelt wild hin und her.

Dunkelheit. Nichts als Dunkelheit. Zeit vergeht nicht. Zeit existiert nicht. Nur Dunkelheit. Keine Schmerzen, keine Gedanken, keine Richtung. Nur ein Körper, der an einem Seil im Nichts hängt. Clemens wartet. Hängt da und wartet darauf, dass etwas passiert. Dass sich die Dunkelheit auflöst, oder ein Abgrund sich auftut, aber es bleibt einfach nur Finster. Er erschrickt heftig, als plötzlich eine Frau vor ihm steht, die ein mächtiges Hirschgeweih auf dem Kopf trägt. Mit dunklen Augen sieht sie ihn ausdruckslos an. Ein Blumenkranz aus Lungenkraut, Waldmeister und Goldnessel windet sich durch ihr langes Haar, rankt das ausladende Geweih empor. Ihr Körper verschwindet in einem dicken Mantel aus rotbraunem Fell, der bis zu ihren nackten Füßen reicht. Weidenröschen sprießen zwischen ihren Zehen hervor. Ein intensiver Geruch nach Moschus und Jasmin hüllt Clemens ein, der an seinem Seil baumelt und die Augen aufreißt. „?“ fragt die fremde Frau. Clemens versteht nicht. Er hängt nur sprachlos im Nichts und starrt die Hirschfrau an. „?“ fragt sie erneut, dann zieht sie ein kleines Messer unter ihrem Mantel hervor und schneidet mit einer fließenden Bewegung das Seil durch. Clemens fällt entgeistert ins Nichts. Er landet auf weichem Boden, spürt knisterndes Laub zwischen seinen Fingern, obwohl er nichts sehen kann. Verwirrt blickt er zu der Fremden auf. Die Hirschfrau neigt den schönen Kopf, lächelt und streckt eine schlanke Hand zu ihm aus. Clemens denkt nicht lange nach und ergreift sie. Um ihn herum erwacht die Dunkelheit zum Leben. Schatten von riesigen Bäumen wachsen aus dem Nichts. Recken sich in einen sternlosen Himmel, über den fahle Polarlichter wandern. Hunderte Waldblumen sprießen aus einem federweichen Boden. Prächtiger Fingerhut blüht in leuchtenden Farben, Waldveilchen entfalten sich in einem dicken Teppich aus Sauerklee und Moos. Farne entrollen riesige Blätter, Weißdornbüsche schießen auf und tausende, schneeweiße Blüten verbreiten süßlichen Duft. „?“ fragt die Frau wieder. „Ich kann dich nicht verstehen.“ sagt Clemens und fasst sich erschrocken an den Hals. Er hat den Schmerz nicht vergessen. Er hat die Todesangst nicht vergessen. Die Fremde nickt wissend. Sie zieht Clemens auf die Beine. Hält seine Hand fest und sieht ihm sanft ins Gesicht. Ihre Haut fühlt sich warm und weich an. Ihre großen, dunklen Augen sprechen von Geborgenheit. „Bin ich tot?“ fragt Clemens mit leiser Stimme. „Im Moment zappelst du noch ein wenig.“ antwortet es rau in seinem Rücken. Clemens dreht sich schaudernd um. In einer jungen Esche sitzt ein Rabe und erwidert herausfordernd seinen Blick. „Krah.“ macht der Rabe. „!“ sagt die Frau. Der Rabe flattert zornig auf und verschwindet krächzend zwischen den mächtigen Bäumen. Clemens sieht ihm erstaunt hinterher. „Was war das?“ fragt er. Die Fremde berührt sein Gesicht, wendet es sanft dem ihren zu. Die Hirschfrau haucht ein Lied. Die Melodie ist simpel und doch komplex. Traurig und trotzdem heiter. Leise und dabei so laut, dass der Wald erzittert. Clemens spürt das Lied in seinem Kopf, fühlt, wie die Töne auf seiner Haut prickeln und sein Innerstes berühren. Er drückt die Hand der Fremden, so fest er kann. Weint, lacht, weiß selbst nicht, was er empfindet. Während sie singt, rankt der Blumenkranz im Haar der Hirschfrau langsam über ihren Rücken, den langen Mantel hinunter. Verschmilzt mit dem dichten Blütenteppich auf dem Waldboden. Fingerhut beginnt, ihren Rücken hinauf zu wachsen. Zu ihren Füßen reifen Erdbeeren. Clemens lauscht verzaubert, saugt die Melodie in sich auf, spürt, wie sein ganzer Körper mit den Tönen schwingt. Berauscht gerät er ins Taumeln, lässt die Hand der Hirschfrau los und fällt jäh ins Nichts. Erschrocken starrt Clemens die blumenumrankte Gestalt an, die in der absoluten Dunkelheit vor ihm steht. Das Lied ist verklungen, der Wald ist verschwunden, Clemens zittert. „Wer bist du?“ fragt er. Die Fremde antwortet mit einer traurigen Geste. „?“ fragt sie ihn und streckt erneut die Hand aus. Clemens liegt auf dem Rücken im Nichts, starrt auf ihre Hand, starrt auf die Erdbeeren, die immer noch zwischen ihren Zehen reifen. Er hebt den Kopf. Über ihm baumelt sein Körper am Seil. Seine Füße treten wild durch die Luft, seine Hände versuchen krampfhaft, die enge Schlinge zu lösen. „Ich sterbe gerade.“ stellt er nüchtern fest. Die Hirschfrau sieht ebenfalls zu seinem zuckenden Körper hinauf, sie nickt langsam. „Du bist so etwas wie ein Engel.“ flüstert Clemens und kommt sich dumm vor. Die Fremde sieht ihn sanft an und streckt wieder die Hand aus. „Okay.“ sagt er nur und greift nach ihr. Schon steht er wieder im dichten Blütenmeer, sein baumelnder Körper verschwindet, hohe Bäume ersetzen den bitteren Anblick. Polarlichter ziehen wieder über einen nachtschwarzen Himmel. Clemens atmet den intensiven Duft von Moschus und Jasmin, verliert sich in der Farbenpracht des Waldes. „Sing mir dein Lied.“ bittet er. Im Geweih der Frau erblüht roter Fingerhut, als sie erneut die überirdische Melodie haucht. Clemens beobachtet gebannt, wie sich ihre vollen Lippen teilen. Sein Blick gleitet über ihr betörendes Gesicht. Vorsichtig berührt er die glatte Haut ihrer Wange. Die Hirschfrau schließt die Augen, tritt näher an ihn heran. Clemens nimmt sie in die Arme, versinkt in der wohligen Wärme ihres Pelzes. Das Lied schwingt in ihm, er zertritt achtlos die Beeren, die zu seinen Füßen wachsen. Schmiegt sich an ihren weichen Körper, verliert sich im Augenblick. Die Fremde öffnet die Augen und beendet ihr Lied. Die Melodie schwingt trotzdem weiter, wird von den Blüten und Blättern des Waldes getragen. Klingt in den Polarlichtern am Himmel. Clemens atmet tief ein und küsst sie. Eng umschlungen stehen sie da, unter den wogenden Zweigen der gewaltigen Bäume. Der Wald erzittert in einer großartigen Harmonie. Die Hirschfrau legt ihren Mantel um Clemens Schultern, erwidert fordernd seinen schüchternen Kuss. Clemens kriecht in ihre innige Umarmung, versinkt in ihrem animalischen Duft. Zarte Blumen beginnen in seinem Haar zu sprießen.
Ein Fuchs beobachtet das Liebespaar. Er liegt unter einem Weißdorn und zuckt ungeduldig mit den Ohren. „Wann können wir endlich anfangen?“ fragt er. Oben im Weißdorn hockt der Rabe. „Wen meinst du mit wir?“ fragt er zurück. „Bruder, du gibst mir doch etwas ab.“ bettelt der Fuchs und hechelt treuherzig zum Raben empor. „Mein Fund, mein Fest.“ antwortet der. „Es ist doch genug für uns beide da.“ bittet der Fuchs und zeigt beim Lächeln alle Zähne. „Das wird sich zeigen.“ brummt der Rabe. „Wir könnten ein Spiel spielen.“ schlägt der Fuchs vor. „Ich kenne deine Spiele.“ versetzt der Rabe. „Andererseits, warum nicht. Es dauert eine Weile, bis sie seine Seele gefressen hat.“ Der Fuchs nickt wissend. Gemeinsam ziehen sie sich tiefer in den Wald zurück.

© sybille lengauer

Schreiblosigkeit

Veröffentlicht: März 21, 2020 in Gedichte
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Tausend Sätze gehäuft.
Doch kein Wort bleibt auf dem andern.
Im Erdrutsch der Gedanken.
Poltern Phrasen, wie schwere Steine.
Was bleibt sind Fragmente.
Die sich am Fuß der Angst türmen.
Und ein Himmel, der sich selbst gehört.
Derweil die Wolken in ihm treiben.
Tausend Sätze gestrichen.
Denn kein Wort bleibt auf dem andern.
Im Sog der Katastrophe.
Versinken Floskeln, wie schwere Steine.
Was bleibt sind Bilder.
Die durch meinen Kopf stürmen.
Und ein Himmel, der sich selbst gehört.
Derweil die Wolken in ihm treiben.

© sybille lengauer

Die Wunderkröte

„Meine Damen und Herren, ich bitte um Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit!“
Ein pummeliges, etwa achtjähriges Mädchen mit burschikoser Kurzhaarfrisur steht im großmütterlichen Garten zwischen aufschießenden Apfelbäumchen und verbeugt sich vor einem unsichtbaren Publikum. „Ich präsentiere Ihnen nun… Nein, das klingt nicht gut… Die unvergleichliche Katharina die Große ist nun bereit, Ihnen ihren bisher atemberaubendsten Zaubertrick vorzuführen!“ Das dickliche Mädchen dreht eine umständliche Pirouette und verbeugt sich wieder tief. „Die mysteriöse Verwandlung der blutroten Todesorange!“ Theatralisch hebt Katharina eine gewöhnliche Blutorange auf, die bisher zwischen ihren Füßen im Gras gelegen hat. Die Zitrusfrucht wird hoch in die Luft gereckt und dem staunenden Fantasiepublikum präsentiert, dann vollführt Katharina eine komplizierte Geste und die Blutorange verschwindet in buntem Konfettiregen. Das Fantasiepublikum reagiert mit tosendem Applaus, hunderte Phantomgestalten klatschen begeistert in die Händen und trampeln mit den Füßen, bis die Erde bebt. Katharina steht mit strahlenden Augen inmitten der großmütterlichen Apfelbäumchen und grinst hochzufrieden. Plötzlich reißt sie ihre Augenbrauen steil nach oben und legt in gespielter Aufregung einen Finger an die gespitzten Lippen. Ihre Körperhaltung signalisiert höchste Anspannung. „Doch, was ist das?“, fragt Katharina mit erregter Stimme. Sie wartet einige Sekunden, um die Spannung ins Unermessliche zu steigern, dann vollführt sie eine weitere, komplizierte Geste, es folgt mehr Konfettiregen und in ihrer linken Hand erscheint ein Glas Apfelsaft, in dem ein paar Fetzen Konfetti schwimmen. Katharina verbeugt sich mit selbstgefälligem Grinsen, als das Publikum in ihrem Kopf die Fassung verliert und in laute Jubelschreie ausbricht. „Danke, danke, ich danke Ihnen. Sie waren ein ganz wunderbares Publikum!“ Mit einer allerletzten Verbeugung beendet das pummelige Mädchen die Vorstellung und läuft zurück ins Haus.

Abends sitzt die große Zauberkünstlerin Katharina mit angewidertem Gesichtsausdruck vor einem Teller Pilzsuppe und wünscht sich nichts sehnlicher, als diesen genauso verwandeln zu können wie die blutrote Todesorange. Katharina verabscheut Pilze und ganz besonders, wenn diese in Form einer schleimigen, nach zerkochten Champignons stinkenden Suppe auf ihrem Teller landen. Das Mädchen schließt die Augen, atmet aus und hält dann theatralisch die Luft an, bevor es den Löffel an die Lippen setzt. Atmen macht den Geschmack nur noch schlimmer. „Bist du mit der Suppe fertig?“, ruft die Großmutter aus der Küche, Katharina schluckt schwer und zieht angewidert die Nase kraus. Modriger Champignongeschmack breitet sich auf ihrer Zunge aus, zähe Pilzstückchen matschen kaugummiartig zwischen ihren Zähnen. „Gleich, Oma!“, ruft Katharina mit jammernder Stimme und schüttelt sich wie ein nasser Hund. Als die Großmutter mit der Hauptspeise zum Tisch kommt, ist Katharinas Teller nur zur Hälfte leergegessen. Das Mädchen setzt ein schiefes Grinsen auf und hofft auf das Beste, doch die alte Dame ist nicht auf das Beste gestimmt, seit sie am späten Nachmittag Katharinas Konfetti-Hinterlassenschaften aus dem Garten geräumt hat. „Iss endlich auf. Das Gulasch wird kalt.“, rügt sie in ruppigem Ton und Katharina senkt ergeben den Löffel zurück in die Suppe. Ihre Großmutter steht schweigend neben dem Tisch und wartet, bis der letzte Rest in Katharinas Mund verschwunden ist, dann tauscht sie den leergegessenen Suppenteller gegen einen Teller mit Kalbsgulasch aus. Gierig schaufelt Katharina große Bissen des butterzarten Fleisches hinunter, um den widerwärtigen Geschmack der Pilze aus dem Mund zu bekommen. „Schling nicht, Kind. Das verdirbt dir den Magen.“, tadelt die Großmutter, sie setzt sich zu Katharina an den Tisch, lehnt sich zurück und kreuzt bequem die Arme vor der Brust. „Hast du deine Hausaufgaben fertig?“, fragt sie nach einer kleinen Weile, in der ihr zufriedener Blick durch das blitzsauber geputzte Esszimmer wanderte. „Nuschelnuschelnuschel.“, murmelt Katharina ins Kalbsgulasch. „Wie bitte?!“, versetzt ihre Großmutter scharf. „Mussichnochfertigmachen.“, haspelt Katharina, verlegen kauend. „Katharina Amalie Ludwig…“, hebt die Großmutter mit strenger Stimme an und Katharina rollt hinter ihren Stirnfransen heimlich mit den Augen. Wenn ihr zweiter Vorname ins Spiel kommt, entwickelt sich das Gespräch meist in eine unangenehme Richtung. „Sind so gut wie fertig!“, ruft sie betont deutlich, um einer großmütterlichen Belehrung aus dem Weg zu gehen. „Dann kann ich also schon einen Blick darauf werfen, ja?“, fragt die alte Dame lauernd. „Ein bisschen muss ich noch machen.“, windet sich Katharina, die natürlich noch keinen Strich in eines der Hausaufgabenhefte gesetzt hat. „Du bist genau wie dein Großvater. Nur Flausen im Kopf und kein Sinn für die Realität.“, versetzt die Großmutter ohne zu lächeln, dann räumt sie missgestimmt den Tisch ab und kehrt kopfschüttelnd in die Küche zurück.

„Genau wie dein Großvata-ta-ta.“, ätzt Katharina leise, sie sitzt mit krummem Rücken vor ihrem Schreibtisch und kritzelt beleidigte Smileys in einen karierten Notizblock. Seit gefühlten Stunden brütet sie nun über den Mathehausaufgaben und immer noch ist keine Lösung vom Himmel gefallen. Katharina verabscheut Mathe genauso sehr, wie sie Pilze verabscheut. Vielleicht sogar noch mehr, denn Katharina findet, dass sich die Mathematik von Stunde zu Stunde undurchsichtiger gestaltet, während Pilze einfach zuverlässig widerlich schmecken. Da weiß man, was man hasst „Opa war wenigstens lustig.“, schmollt Katharina, während sie eines der Smileys mit einem Zauberhut verziert. In ihrem sensiblen Kinderherz ist die Liebe für den verstorbenen Großvater unerschütterlich verankert. Die raue Haut seiner schwieligen Finger, mit denen er manchmal zärtlich über Katharinas Wange streichelte, der derbe Geruch von Tabak und Alkohol, den er beim Lachen verströmte, das tiefe dröhnen seiner Stimme, wenn er von seiner gloriosen Zeit beim Zirkus erzählte, all dies verschmilzt in Katharinas Erinnerung zu einem Gefühl wohliger Geborgenheit, das nur noch in der Vergangenheit existiert. Seufzend denkt sie zurück an jenen fernen Nachmittag, an dem der Großvater ihr den ersten Zaubertrick beibrachte. Er ließ ein Geldstück aus seiner Hand verschwinden und zeigte dann geduldig, wie man die Münze unbemerkt in der Hosentasche deponierte, während man die Aufmerksamkeit der Zuschauer durch dramatische Bewegungen der Finger ablenkte. Katharina hatte den Trick schnell verstanden, doch ihren kleinen Händen fehlte die nötige Geschicklichkeit, immer wieder fiel die Münze klirrend zu Boden und die Kleine weinte bittere Tränen der Frustration. Sie übte stundenlang, tagelang, sie übte so lange, bis die Großmutter erbost ein Zaubertrick-Verbot verhängte, da sie befürchten musste, das Kind werde über die endlosen Fingerspielereien verdorben für eine vernünftige Lebenslaufbahn. Doch zu diesem Zeitpunkt war es schon längst zu spät, das Erbe des Großvaters ging in Katharina auf und auch wenn er kurze Zeit später an einem Herzinfarkt verstarb, lebten seine Zaubertricks durch seine Enkelin weiter, die jeden Tag heimlich trainierte und ihre Geschicklichkeit kontinuierlich verbesserte.
„Wenn ich groß bin, werde ich die berühmteste Zauberin der Welt, koste es, was es wolle!“, grummelt Katharina nun, während sie weiter im Notizblock kritzelt. „Dann mache ich nie wieder Mathehausaufgaben und Pilze werden bei Todesstrafe verboten. So!“ Sie malt einen riesigen Pilztotenkopf neben die beleidigten Smileys und seufzt dabei tief. Ihr Blick gleitet über den chaotischen Schreibtisch und aus dem gekippten Fenster hinaus, dem dunkler werdenden Himmel entgegen. Ihre Gedanken gleiten noch viel weiter fort, in eine ferne Zukunft, in der ihr die Menschenmassen zu Füßen liegen und tausende Fans ihren Namen rufen. Scheinwerferlicht brandet gleißend heran, donnernder Applaus tost über sie hinweg, silbernes Konfetti flirrt durch die Luft und bedeckt knöcheltief den Bühnenboden, auf dem sie triumphierend steht. Katharina lächelt selbstzufrieden und sonnt sich im Rampenlicht. Lautes Klopfen reißt sie abrupt aus ihren Tagträumen. „Kind, wie lange brauchst du noch?“, fragt die Großmutter ungeduldig auf der anderen Seite der Tür und Katharina sackt schuldbewusst in sich zusammen. „Ein bisschen noch!“ Sie blättert hastig die vollgekritzelte Notizblockseite um und beginnt Zahlenkolonnen auf ein neues Blatt Papier zu schreiben. Keine Sekunde zu früh, denn schon betritt die Großmutter schwungvoll das Zimmer. „Katharina Amalie Ludwig,“, hebt sie drohend an und es ist kein gutes Zeichen, dass Katharina ihren vollen Namen zum zweiten Mal an einem Tag zu hören bekommt. „Ich habe deine Verzögerungstaktiken satt, mein Fräulein! Wenn du in fünfzehn Minuten nicht fertig bist, setzt es ein Donnerwetter, von dem du noch deinen Enkelkindern erzählen kannst. Hast du mich verstanden?“ Die alte Dame stiert aus funkelnden Augen auf Katharina herab, die nur still dasitzt und nickt. „Gut.“, schnaubt die Großmutter, sie kehrt auf dem Absatz um und wirft knallend die Tür hinter sich zu. „Und dich zaubere ich auf den Mond.“, flüstert Katharina zornig, dann wendet sie sich dem Notizblock zu. ‚Triff mich heute Nacht, wenn kein Regen mehr fällt, an der uralten Fichte im Garten. Lass mich nicht warten. Ein Freund.’ , steht in fein geschwungenen Buchstaben neben ihren gekritzelten Zahlenkolonnen. „Was? Wer hat das geschrieben?“, stammelt Katharina verwirrt, doch es ist niemand da, um auf ihre Fragen zu antworten. Eine unangenehme Stille breitet sich im Zimmer aus, nur durch das gekippte Fenster dringt leises Rauschen herein, als es draußen plötzlich anfängt zu regnen.

„Ich gehe, ich gehe nicht, ich gehe, ich gehe nicht…“, Katharina liegt im Bett und tut, was unzählige Kinder vor ihr in unauslotbaren Situationen getan haben. Sie rupft ein Gänseblümchen. Heimlich hat sie das Pflänzchen aus dem Vorgarten geholt, während die Großmutter mit der Vorbereitung des Abendbrots beschäftigt war. Vorsichtig hat sie es in der Brusttasche ihrer Latzhose verstaut und sich wenige Minuten später mit großem Appetit über Wurstsalat mit Essiggurken und Zwiebeln hergemacht. Jetzt liegt sie pappsatt und warm eingemummelt unter der weichen Bettdecke und rupft das welke Gänseblümchen. „Ich gehe, ich gehe nicht, ich gehe!“ Das letzte Blütenblatt ist erreicht, die Entscheidung, heute Nacht zur uralten Fichte zu gehen, ist endgültig getroffen. Akribisch sammelt Katharina die Blütenblätter vom Betttuch und versteckt diese in der Seitentasche ihres Pyjamas, dann wickelt sie sich erneut in die Decke und wartet auf das Ende des Regens. Das Bett ist angenehm weich und gemütlich, der Tag war lang und ereignisreich. Ein starker Sog scheint Katharina immer tiefer in die kuschelige Matratze zu ziehen, mühsam wehrt sie sich gegen den Schlaf, doch ihre Augenlider werden unerträglich schwer. Katharina knurrt unwillig, sie strampelt die Decke fort, schwingt die Beine aus dem Bett und starrt entschlossen aus dem Fenster. „Ich schlafe garantiert nicht ein!“, grummelt sie energisch. Draußen regnet es ungerührt weiter. Die Minuten vergehen, aus energischem Starren wird gelangweiltes Gähnen…
„Wieso schläfst du neben dem Bett?“ Die missbilligende Stimme der Großmutter reißt Katharina aus traumlosem Schlummer, erschrocken rappelt sie sich vom Parkettboden hoch und hebt zu einer Entschuldigung an, doch die Großmutter ist gar nicht da. Katharina ist allein im Zimmer, nicht das kleinste Geräusch ist zu hören. Fröstelnd schlurft das Mädchen ans Fenster, um einen Blick in den Garten zu werfen. Draußen hat es aufgehört zu regnen, vereinzelte Wolkenfetzen treiben über den dunklen Nachthimmel. „Das ist nicht gruselig.“, sagt Katharina laut, um den Schrecken aus ihren Gliedern zu vertreiben.

„Kein bisschen gruselig.“, wiederholt Katharina mit echter Enttäuschung, als sie vor der gewaltigen Fichte steht und diese mit einer funzeligen Taschenlampe ableuchtet. Sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen war nicht schwer, denn die Großmutter schläft nachts ohne Hörgerät und so könnte eine ganze Armee durch die Flure des Hauses trampeln und nichts würde den geruhsamen Schlaf der alten Dame erschüttern. Katharina ist auf das nächtliche Abenteuer gut vorbereitet, über ihrem Pyjama trägt sie einen gelben Regenmantel, an den Füßen dazu passende Gummistiefel und, verborgen vor neugierigen Blicken, ein kleines Schweizer Armeetaschenmesser, das sie für den Ernstfall eingesteckt hat. Bisher besteht der Ernstfall allerdings nur daraus, sich im eiskalten Nachtwind eine böse Erkältung zu holen, denn unter dem alten Baum findet sich nichts, als nasses Moos und Steine. „So ein blöder Mist.“, brummt Katharina, sie leuchtet noch einmal lustlos die tropfenden Nadeln der Fichte ab, dann lässt sie die Taschenlampe sinken und zieht einen enttäuschten Schmollmund. Der Lichtkegel ihrer Lampe trifft auf die rotgoldenen Augen einer Erdkröte, die vor Katharinas linkem Gummistiefel im Moos sitzt und starrt. „Schön, dass du es einrichten konntest.“, sagt die Kröte mit basstiefer Stimme. „Hast du gerade gesprochen?“, fragt Katharina verdattert. „Siehst du hier sonst noch jemanden?“, fragt die Erdkröte gereizt zurück. Das Mädchen glotzt die Amphibie mit großen Augen an und schweigt. „Na?“, macht die Erdkröte schließlich und Katharina erwacht aus ihrer Erstarrung. Tausend Fragen schießen gleichzeitig durch ihren Kopf, nicht eine kann sie vernünftig ausformulieren. „Entschuldigung.“, murmelt sie schließlich verlegen. „Ist schon gut, Mädchen.“ Die Kröte hüpft etwas näher an Katharinas Gummistiefel heran und tätschelt versöhnlich die Stiefelspitze. Katharina unterdrückt den Impuls ihren Fuß zurückzuziehen, sie schenkt der Kröte ein unsicheres Lächeln und umklammert die Taschenlampe mit beiden Händen. „Was, w-wer bist du?“, stammelt sie und kommt sich dabei dumm vor. „Siehst du doch. Ich bin eine Kröte.“, antwortet das Tier und grinst gemein. „Aha.“, macht Katharina und schluckt das Lächeln hinunter. „Ach, Mädchen.“, seufzt die Kröte, sie lehnt sich schwer gegen den Gummistiefel und zeigt ihren gesprenkelten Bauch. Aus dem Nichts erscheint eine winzige Zigarre in ihrem warzigen Vorderbeinchen, lässig beginnt die Kröte zu rauchen. „Ich bin die Erfüllung deiner Träume, Kleines. Ich bin eine magische Wunderkröte.“ „Du bist was?“, japst Katharina ungläubig. „Du hast mich schon verstanden, Kleines.“ Das Tier kratzt sich den Bauch und bläst große Rauchringe in die Luft. Das Mädchen schweigt und starrt. „Was ist, haben sie dich als Baby auf den Kopf fallen lassen?“, ätzt die Kröte ungehalten, doch Katharina zuckt nur mit den schmalen Schultern und zieht ein unglückliches Gesicht. „Pass auf, Mädchen, das läuft jetzt folgendermaßen. Ich sage dir, dass du dir etwas wünschen kannst. Egal was, du wirst es bekommen. Du freust dich und nennst mir deinen Wunsch. Dann unterschreiben wir einen kleinen Vertrag und alles nimmt seinen wunderbaren Lauf. Kapiert?“ Die Kröte klopft Zigarrenasche an Katharinas Gummistiefel ab und schielt ungeduldig zu ihr empor. Katharina runzelt die Stirn und denkt angestrengt nach. „Du bist also eine magische Wunderkröte.“, sagt sie schließlich gedehnt. Die Kröte nickt ungeduldig. „Das habe ich gerade gesagt, ja.“ „Und ich habe einen Wunsch frei? Ganz egal welchen?“ „Ja, ja!“ „Ich glaube dir kein Wort.“ Katharina schüttelt die Kröte von ihrem Gummistiefel und tritt einen Schritt zurück. „Was?“, ruft diese ungläubig, ihre rotgoldenen Augen funkeln im Licht der Taschenlampe. „Ich glaube dir nicht. Du bist fies!“, ruft Katharina entschlossen, sie dreht sich um und läuft über den nassen Rasen zurück ins Haus. „Na sowas.“, brummt die Kröte enttäuscht, sie bläst noch einen letzten Rauchring, dann löst sie sich in der kalten Nachtluft auf und verschwindet.

Der nächste Morgen beginnt mit einem fürchterlichen Donnerwetter. Katharina hat nach ihrem nächtlichen Ausflug vergessen die Gummistiefel vor dem Haus auszuziehen, Hauseingang und Flur sind mit ihren matschigen Stiefelabdrücken überzogen. Katharina behauptet zwar steif und fest, sie wisse nicht, woher die schmutzigen Abdrücke stammen, doch die Großmutter lässt sich nicht belügen und ärgert sich gewaltig. Sie verhängt Stubenarrest und Fernsehverbot für eine Woche. Katharina fühlt sich ungerecht behandelt und von der Wunderkröte verraten, die ihr den ganzen Schlamassel eingebrockt hat. Beleidigt und frustriert macht sie sich nach dem Frühstück auf den Weg zur Schule, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, den Blick starr auf die Straße gerichtet, trottet sie schlecht gelaunt dahin. „Hey, du Hässliche!“ Katharina wird plötzlich von hinten grob angerempelt, sie stolpert und fällt. „Aua!“ „Ha-Ha. Das Riesenbaby kann nicht laufen! Ha-ha.“ Katharinas Mitschüler, Florian und Matthias, stehen lachend über ihr und zeigen mit den Fingern. Wutrot rappelt sich das Mädchen vom Asphalt hoch. „Ihr Arschgeigen!“, zischt es mit funkelnden Augen. „Riesenbaby, Riesenbaby!“ Die Jungen laufen prustend an Katharina vorbei und verschwinden hinter einer dichten Magnolienhecke, die den Eingang zum Schulhof verbirgt. „Schweinepriester!“, schreit Katharina ihnen hinterher. Erst jetzt macht sich der Schmerz in ihren Handflächen und Knien bemerkbar, die vom Sturz aufgeschürft sind und bluten. „So eine Scheiße.“, flucht das Mädchen, dann humpelt es den anderen hinterher zur Schule. „Riesenbaby, Riesenbaby, ist zu dumm zum Laufen! Riesenbaby, Riesenbaby, muss sich nen Rollstuhl kaufen!“ Es ist große Pause, Florian und Matthias haben sich den Reim in der letzen Stunde ausgedacht und brüllen ihn nun quer über den Schulhof. Katharina sitzt allein unter einer großen Eiche und schmollt. Ihre Schulfreundinnen spielen oder feilschen um die besten Pausenbrote, die Lehrer stehen in einer Ecke beisammen und rauchen. Niemand interessiert sich für das Mädchen mit den aufgeschürften Knien. Florian und Matthias nutzen die fehlende Aufmerksamkeit, sie laufen zu Katharina und bauen sich breitbeinig vor ihr auf. „Hey Riesenbaby, musst du jetzt heulen?“, fragt Florian mit hämischem Grinsen. „Das Riesenbaby will zu seiner Mutti.“, feixt Matthias mit weinerlicher Stimme, aber Florian schüttelt verneinend den Kopf. „Die hat doch gar keine Mutter, weißt du doch.“ Es ist dieser Moment, in dem etwas in Katharina zerreisst. Mit einem schrillen Aufschrei stürzt sie sich auf die beiden Jungen.

„Es ist eine Schande. Eine Schande!“ Die Großmutter sitzt stocksteif am Esstisch, ihr Gesicht ist weiß vor Zorn. In der rechten Hand hält sie ein Schreiben von Katharinas Lehrerin, das die heutige Schlägerei auf dem Schulhof behandelt. Katharina sitzt der Großmutter gegenüber und weint leise vor sich hin, doch die alte Dame lässt sich nicht von ihren Tränen erweichen. Sie starrt das Mädchen lange an und grollt schließlich ein drohendes: „Geh mir aus den Augen.“ Katharina steht betont langsam vom Tisch auf und schlurft mit gesenktem Kopf aus dem Raum. In ihrem Zimmer lässt sie sich weinend auf das Bett fallen. „Das ist so unfair!“, schluchzt sie heulend in ihr Kissen. „Absolut unfair.“, bestätigt eine dunkle Stimme. Katharina zuckt erschrocken zusammen. „Wer ist da?“, fragt sie in das leere Zimmer hinein. „Hier unten.“, antwortet die dunkle Stimme, Katharina beugt sich nach vorn und schielt vorsichtig unter das Bett. Zwischen Staubflusen und Kekskrümeln hockt die Wunderkröte und grinst: „Na, alles klar?“ „Was machst du hier?“, zischt Katharina aufgeregt. „Ich stehe dir zur Verfügung.“, antwortet die Kröte mit einer leichten Verbeugung. „Aha.“ Katharina zieht Rotz durch die Nase hoch und wischt kullernde Tränen aus ihrem Gesicht. „Komm schon, Mädchen, lass dich nicht hängen.“ Die Kröte hüpft unter dem Bett hervor und blickt Katharina aus funkelnden Augen an. „Das Leben ist schon kompliziert genug, du musst es nicht noch schwerer machen. Na los. Wünsch dir was!“ Katharina schüttelt automatisch den Kopf, doch dann verharrt sie in der Bewegung und denkt angestrengt nach. „Ich will eine echte Zauberin sein.“, sprudelt es plötzlich aus ihr heraus. Die Kröte prustet und kichert. „Mädchen werden doch keine Zauberer. Mädchen werden Zauberer-Assistentin! Sie tragen kurze Röcke und glitzernde Capes und werden in der Mitte durchgesägt.“ „Ich nicht! Ich will Zauberin sein. Die größte Zauberin der Welt!“ Katharina verschränkt entschlossen die Arme vor der Brust. „Kannst du das machen, oder nicht?“ „Natürlich, natürlich.“, beeilt sich die Kröte, sie hüpft näher an Katharinas Bett heran und reckt ein Vorderbeinchen in die Höhe. Mit einem leisen Plop erscheint ein Bogen Papier, Katharina schnappt erschrocken nach Luft. „Mal sehen, mal sehen.“, murmelt die Kröte, sie überfliegt das Schriftstück und pafft dabei weltmännisch an einer winzigen Zigarre. „Unbegrenzte, magische Macht… Ungeahnte Zauberkräfte…Die Welt liegt dir zu Füßen…Das ganze Programm. Du musst nur noch hier unterschreiben, dann sind wir im Geschäft.“ Die Kröte nickt, das Blatt Papier schwebt federleicht empor und verharrt vor Katharinas gerötetem Gesicht. Das Mädchen nimmt den Vertrag entgegen und beginnt aufmerksam zu lesen. Nach wenigen Augenblicken hebt es den Blick vom Papier. „Was heißt das: ‚Im Austausch für den zu erfüllenden Wunsch ist der unsterbliche Teil des Selbst zu entrichten‘? Das verstehe ich nicht.“ „Das ist eine ganz unglückliche Formulierung, ich weiß.“, versichert die Kröte, genüsslich schmauchend. „Diese Juristensprache macht mich auch immer ganz fertig.“ Katharina runzelt unwillig die Stirn: „Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ „Ja, ja.“ Die Kröte schwenkt die Zigarre hin und her und betrachtet den aufsteigenden Rauch „DumusstmirdeineSeeleverkaufen.“, murmelt sie ungewöhnlich schnell. „Bitte was?“ Die Kröte seufzt und lässt mit einem knappen Nicken die halbgerauchte Zigarre verschwinden. „Deine Seele. Ich bekomme deine Seele.“ „Meine was?“ „Spreche ich vielleicht aramäisch? Deine Seele, Mädchen. Der unsterbliche Teil deines Selbst.“ „Und was machst du dann damit?“ Katharinas Blick wandert skeptisch zwischen Papier und Kröte hin und her. „Was interessiert dich das?“, versetzt das Tier gereizt. „Es interessiert mich eben.“, kontert Katharina mit blitzenden Augen. Die Kröte zögert und denkt angestrengt nach. „Nichts, ich mache nichts damit.“, antwortet sie schließlich. „Wie, nichts?“ „Na, nichts. Ich kümmere mich nur um den Vertrag.“ „Aber was wird denn dann aus meiner Seele?“, fragt Katharina, nun ernstlich besorgt. Die Kröte hüpft noch näher ans Bett heran. „Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Du bist mein erster Auftrag.“, verrät sie, leise flüsternd. „Ach!“, entfährt es Katharina aufgeregt. „Was, ach? Nichts, ach. Jeder fängt mal an!“, versetzt die Kröte beleidigt. „Ist das so etwas wie eine Strafaufgabe?“, fragt Katharina interessiert. Die Augen der Kröte werden misstrauisch schmal. „Wie meinst du das?“, grollt sie mit belegter Stimme. „Naja, ich denke, dass du vielleicht nicht immer eine Kröte gewesen bist. Ich denke, dass du vielleicht etwas ausgefressen hast und dafür in eine Kröte verwandelt wurdest.“ Katharina sieht der Kröte tief in die Augen, das Tier hält dem für eine kleine Weile stand, dann unterbricht es den Blickkontakt. „Du hast recht.“, antwortet es schließlich kleinlaut. „Aha!“ Katharina schlägt sich triumphierend mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. „Das läuft alles völlig verkehrt!“, jammert die Kröte verzweifelt. Katharina fühlt sich schuldig, auch wenn sie nicht weiß, warum. „Tut mir leid.“, versichert sie sanft. „Unterschreibst du jetzt den Vertrag?“ Die Augen der Kröte glitzern erwartungsvoll, doch Katharina schüttelt ablehnend den Kopf. „Nein, danke.“, sagt sie schlicht und reicht den Bogen zurück. „Ach, komm schon!“, bettelt die Kröte, sie winkt mit einem Vorderbeinchen und der Vertrag schwebt zurück zum Bett. „Ich will nicht!“, stößt Katharina entschieden hervor. „Jetzt unterschreib’ endlich den verdammten Vertrag!“ „Nein, nein und nochmal nein!“ Katharina zerreißt das Papier und wirft die Schnipsel zornig nach der Kröte. Das Tier hüpft rückwärts über den Boden und flucht lautstark. „Was geht hier vor?“ Eine mächtige Stimme erschüttert das Kinderzimmer, Katharina schreit erschrocken auf, die Kröte verschwindet blitzschnell unter dem Bett. Schwarzer Rauch wabert über den Boden, ein gewaltiger Schatten senkt sich drohend von der Zimmerdecke herab. „Ich habe gefragt, was hier los ist.“, donnert die körperlose Stimme. „Nichts, äh, rein gar nichts ist los.“, piepst es ängstlich unter dem Bett hervor. „Es hört sich aber nicht nach Nichts an, Louis.“ Der schwarze Rauch verdichtet sich zu einer diffus menschlichen Gestalt, die in der Mitte des Raumes schwebt. „Wir wollten gerade den Vertag unterzeichnen. Alles läuft nach Plan. Ganz ehrlich!“ Die Kröte schiebt sich vorsichtig unter dem Bett hervor und starrt demütig in den finsteren Rauch. „Ist dem so?“ Das Wesen wendet sich fragend an Katharina, die zitternd auf dem Bett sitzt und schwitzt. „Naja.“, macht das Mädchen. „Naja.“, macht die Kröte. „Was soll das heißen?“, versetzt die mächtige Stimme. „Es ist kompliziert.“, antwortet die Kröte und Katharina muss kichern. „Findest du das etwa komisch, Kind?“ Das körperlose Wesen schwebt bedrohlich nahe an das Bett heran, Katharina fühlt eine unangenehme Kälte, die bis in ihre Knochen zu kriechen scheint. Ängstlich klammert sie sich an ihr Kopfkissen und hält den Atem an. „Soll ich dich in vier Teile spalten und dein Innerstes nach außen kehren, damit dir das Lachen vergeht?“, faucht die Stimme zornig. „Lass sie in Ruhe, Papa.“ Katharina und die Schattengestalt wenden sich ungläubig der Kröte zu. „In Ruhe lassen?“, knurrt die Stimme erbost. „Papa?“, flüstert Katharina ungläubig. „Sie ist meine Freundin.“, sagt die Kröte, sie springt mit einem gewaltigen Hopser auf das Bett und setzt sich neben Katharina. „Bist du verrückt geworden?“, brüllt die Rauchgestalt, helle Funken springen aus ihrem wabernden Körper. „Vielleicht.“, versetzt die Kröte mutig. „Und jetzt verschwinde.“ Sie rückt näher an Katharina heran und quakt leise. Das Mädchen streckt eine Hand aus und hält diese schützend vor den kleinen Körper der Amphibie. „Das hat ein Nachspiel, Louis! Hast du mich verstanden? Das wird dir noch leid tun!“ Die Rauchgestalt beginnt sich aufzulösen, das Licht kehrt zurück ins Kinderzimmer. Katharina lässt erleichtert den angehaltenen Atem entweichen. „Puh, das war ganz schön heftig.“, bemerkt die Kröte und schüttelt sich. Das Mädchen nickt zustimmend. „Dein Vater ist jetzt wohl ziemlich böse auf dich, was?“ „Ach, der ist immer böse.“ Die Kröte zuckt desinteressiert mit ihren warzigen Schultern. „Und, was machen wir jetzt?“, fragt sie nach einer Weile des Schweigens. „Wir könnten etwas spielen.“, schlägt Katharina freudig vor. Die Kröte schüttelt skeptisch den Kopf. „Ich weiß nicht. Was denn zum Beispiel?“ Katharina denkt angestrengt nach. „Kennst du Schiffe versenken?“ „Sterben dabei Menschen?“, fragt die Kröte hoffnungsvoll. „Eher nicht.“, antwortet Katharina ehrlich. „Dann ist es langweilig.“ „Wie wäre es dann mit ‚Vier gewinnt‘?“ „Klingt nicht besser.“ „Jetzt weiß ich!“, ruft Katharina plötzlich und ihre Augen blitzen aufgeregt. „Wir spielen Hexe und Zauberer!“ Die Kröte rutscht unsicher auf dem Bett hin und her. „Können wir jemanden in Pudding verwandeln, oder so?“ Katharina denkt an Florian und Matthias. „Wir können es immerhin versuchen.“, antwortet sie und ein kleines, gemeines Lächeln umspielt ihre Lippen.

© sybille lengauer

Menschenrecht

Veröffentlicht: März 3, 2020 in Politisches
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Menschenrecht

Geschrieben steht es.
Für uns alle.
Goldauswurf der Menschheit.
Schwarz auf Weiß.
Das eine Wort.
Menschenrecht.
Men-schen-recht!
Ersäuft.
An unseren Stränden.
Erfriert.
In unseren Lagern.
Krepiert.
Vor unseren Grenzen.
Blut.
Klebt an unseren Händen.
Geschrieben wird es.
Immer groß.
Goldgeschenk des Friedens.
Mensch, da steht es!
Schwarz auf Weiß.
Das eine Wort.
Das Eine Wort.
Menschenrecht.
Men-schen-recht!
Ersäuft.
An unseren Stränden.
Erfriert.
In unseren Lagern.
Krepiert.
Vor unseren Augen.
Schuld.
Klebt an unseren Händen.

© sybille lengauer

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte