Archiv für Januar, 2021

Brief an einen Sohn

Regen. Immer nur Regen. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich nichts als graue Wolkenberge und diesen gottverdammten Regen. Egal ob ich morgens, mittags oder abends nach draußen schaue, es regnet, regnet und regnet. ‚Wie soll man da keine Depressionen bekommen?‘, höre ich manchmal eine melancholische Stimme in meinem Hinterkopf fragen. ‚Indem man sich keine verfluchten Depressionen leisten kann!‘ , antworte ich dann meist und werde zornig. Ich weiß nicht ob es normal ist solche Streitgespräche mit sich selbst zu führen, aber was ist heutzutage schon normal? Es regnet seit siebzehn elenden Jahren, da fallen Selbstgespräche wohl nicht mehr ins Gewicht. Und wenn ich ehrlich bin interessieren Depressionen auch niemanden mehr, wahrscheinlich ist inzwischen die ganze Menschheit depressiv, würde mich zumindest nicht wundern. Trotzdem. Jeden Tag erneut, als ob ich es nicht besser wüsste, quäle ich mich aus dem Bett, statt platt auf der verschimmelten Matratze liegen zu bleiben und endlich aufzugeben, trete ans Fenster und starre hinaus in den Regen.
Und alles nur wegen ihr, dieser verlogenen Hure, die sich Hoffnung nennt. Ständig hoffe ich auf irgendetwas, als wäre das Hoffen eine Sucht. Ich hoffe, dass es endlich aufhört zu regnen, ich hoffe, dass mir dieses alte Haus nicht unter dem Arsch zusammenfällt, ich hoffe, dass ich endlich Nachricht von Dir erhalte, ich hoffe, dass ich hier nicht alleine sterben muss. Alles kreuzdumme und überflüssige Gedanken, weil ich auf nichts davon auch nur den geringsten Einfluss habe, und trotzdem bringen sie mich immer wieder dazu aufzustehen und weiter einen Schritt vor den anderen zu setzten. Hoffnung zwingt mich auf die Beine, treibt mich aus dem Haus und sorgt dafür, dass ich einen weiteren Tag ums Überleben kämpfe, wie eine Ratte in der Falle. Hoffnung lässt mich stundenlang in der Warteschlange vor der Wohlfahrtskantine ausharren, dicht gedrängt mit all den anderen Verdammten, die einfach nicht aufgeben können. Hoffnung bringt mich dazu jeden noch so widerlichen Fraß hinunterzuschlingen, den sie bei der Zuteilung für mich übrig haben. Hoffnung lässt mich zurückkehren in dieses morsche, vom Regen zerfressene Haus und erneut eine Nacht lang unruhig von vergangenen Zeiten träumen. Hoffnung lässt mich diesen Brief an Dich schreiben, obwohl ich nicht weiß, ob er Dich jemals erreichen wird. Bestimmt ist das fürchterlich naiv und dumm von mir, aber es ist ja auch naiv und dumm in dieser dunkelfeuchten Hölle am Leben zu hängen und trotzdem bin ich immer noch hier.
Geht es Dir gut, so hoch oben in den Bergen? Ist der Himmel dort so blau, wie Du es Dir erhofft hast? Kannst Du die Sonne sehen? Manchmal bekomme ich Panik bei dem Gedanken, dass ich sie nie mehr wiedersehen werde. Für immer Regen und Wolken wohin man schaut. Dann versuche ich mir vorzustellen, wie Du auf einem Gipfel stehst und die endlose Wolkendecke überblickst und meine Gedanken beruhigen sich wieder. Es ist gut, dass Du fortgegangen bist, Thomas. Hier unten gibt es keine Zukunft mehr. Du hast die richtige Entscheidung getroffen, auch wenn ich damals strikt dagegen war. Ich wollte Dich nicht verlieren! Als ich endlich begriffen habe wie egoistisch dieser Gedanke im Grunde war, konnte ich Dich auch in meinem Herzen ziehen lassen. Es tut mir leid, dass ich nicht früher dazu in der Lage war. Und wieder kann ich nur hoffen. Hoffen, dass du mir verzeihen kannst, dass ich versucht habe Dich aufzuhalten. So wie ich Dir verziehen habe, dass Du trotzdem davongelaufen bist. Es blieb Dir nichts anderes übrig, das verstehe ich jetzt.

© sybille lengauer

Da ist plötzlich so ein Geräusch.

Da ist plötzlich so ein Geräusch. So ein kleines Geräusch, das mitten hineinschlägt in die widerliche Fresse dieser Stille. Dieser unsäglichen Stille, die sich zwischen uns ausbreitet wie die schiere Pest. Eine widerliche Pest verletzter Gefühle, die uns versichert, dass wir uns egal sind. Dass wir uns scheißegal sind und ein „Du und ich“ uns sowieso nicht mehr interessiert. Uns nicht mehr im Geringsten interessieren würde, selbst wenn der andere in Flammen stünde.
In Flammen stünden wir tatsächlich, hätten wir ein wenig aufgepasst. Ein wenig auf uns aufgepasst und auf das, was wir zu sagen hatten. Bis wir nichts mehr zu sagen hatten und dann plötzlich wieder dieses Geräusch. Dieses kleine Geräusch wie von einem brechenden Herzen. Einem profan brechenden Herzen, das mitten hineinschlägt in die ekelhafte Fresse des Stolzes. Diese grinsende Fresse falschen Stolzes und beiläufiger Freundlichkeit, die uns die letzten Monate gekostet hat.
Die uns alles gekostet hat, und ich schaue dich an und du schaust zurück, und wessen Herz das jetzt war, das weiß keiner so genau. Aber so ganz genau interessiert uns das auch nicht mehr, immerhin ist der Zug ja abgefahren. Und hey, abgefahren wie dir plötzlich Tränen aus den Augen kullern und aus meinen Augen läuft auch so ein Zeug, so ein feuchtes, so ein warmes Zeug eben. Dieses Scheißzeug eben, das schon viel früher hätte laufen sollen, als es noch nicht zu spät war. Aber jetzt ist es eben zu spät und plötzlich ist es da wieder.
Plötzlich ist da wieder so ein Geräusch. So ein kleines Geräusch das mitten hineinschlägt in die ekelhafte Fresse unserer Selbstsucht. Unserer unvorstellbaren Selbstsucht, die sich zwischen uns ausgebreitet hat wie eine Seuche. Die grassierende Seuche unausgesprochener Schuld, die uns immer noch trennt, selbst jetzt wo wir hier zusammenstehen wie begossene Pudel und anfangen zu heulen. Heulen und Zähneklappern als beschämender Rest, der uns bleibt und dann nichts mehr. Nichts mehr außer zwei gebrochene Herzen, deren klägliche Scherben irgendwann aus unserer Haut eitern werden. Eine pochende, eiternde Wunde, die sich nur noch um sich selbst dreht.
Also dreh dich nicht um, aber geh. Geh rückwärts aus dem Raum, damit ich dir beim Gehen in die Augen sehen kann. Damit ich noch einmal sehen kann, warum ich einmal ganz verträumt war, wenn du bei der Tür hereingekommen bist. Wenn du hereingekommen bist, und ich dachte: Sind wir füreinander bestimmt, ist es möglich, vielleicht? Und vielleicht kommt dann noch so ein kleines Geräusch. So ein klitzekleines Geräusch von mir, wenn ich flüstere, dass ich dich noch liebe. Dass ich dich verdammt nochmal liebe und du jetzt trotzdem gehen sollst. Dass du so schnell du kannst gehen sollst und bitte, komm nicht mehr wieder. Und wiederum denke ich insgeheim, du schlägst genau dann hinein. Schlägst mitten hinein in die eiskalte Fresse meiner hochnäsigen Sturheit und bleibst.
Bleibst bei mir und holst mich heraus aus diesem Kreislauf. Reißt uns fort von dem Fiasko. Nimmst mich mit auf eine neue Ebene. Lässt mit mir alles hinter dir und raus hier! Wir brechen die alten Normen auf, wir bezwingen unsere Eitelkeiten und beginnen neu. Ab hier ist alles anders. Wir sind frei!
Plötzlich ist da so ein Geräusch. So ein kleines Geräusch, das mitten hineinschlägt in die lächerliche Fresse dieser Hoffnung. Dieser letzten, unerfüllten Hoffnung meiner Liebe zu dir. Meiner zerplatzenden Liebe, die sich peinlich anfühlt, als du die Tür zuziehst und es zum letzten Mal klickt.
copyright sybille lengauer / aus „Mottengedanken“ erschienen 2020 Rodneys Underground Press

Wintersturmdepression

Veröffentlicht: Januar 21, 2021 in Gedichte
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Wintersturmdepression

Heulend drängt der Wind aus Südwesten heran,
Reißt knisternde Blätter von schwankenden Bäumen,
Schlingt den Himmel in Bänder aus Schatten und Licht,
Alles regt und bewegt sich –
nur mein Herz nicht.
Fauchend rückt der Wind an die Siedlung heran,
Weht trippelnde Senioren über verregnete Straßen,
Im Himmel drängeln Wolken dicht an dicht,
Alles lebt und bewegt sich –
nur mein Herz nicht.

© sybille lengauer

Lars liest „Dezemberkain“

Veröffentlicht: Januar 20, 2021 in Video
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Dezember-Kain
(Snippet)

Es war einer jener eintönig grauen Dezembertage, die in ihrer feuchtkalten Gleichmäßigkeit den vorangegangenen Tagen des Novembers täuschend ähneln und sich nahtlos aneinanderreihen, bis sie zu dröger Beliebigkeit verkommen. Von frostkaltem Tau bedeckt lagen die Felder, still und verlassen, unter einem dicht verhangenen Winterhimmel. Ihre rostbraun verfärbten Blätter lautlos von sich werfend, reckte sich eine einsame Stieleiche über die endlosen Reihen von verblühtem Ölrettich hinweg und nur der hallende Flügelschlag einer auffliegenden Ringeltaube jagte für einen kurzen Moment ein Gefühl von Lebendigkeit über die glanzlose Szenerie. Nichts hätte das gelangweilte Auge des Betrachters dazu veranlasst, in dieser tristen Ackerlandschaft den Schauplatz einer Bluttat zu vermuten und doch lag er da, am Feldrand, zwischen umgeknickten Halmen und aufgewühltem Laub. Der Sterbende. Mein Bruder. Lag da und dampfte in der Kälte des Morgens, während das Leben in warmen Strömen aus ihm pulste und in der schwarzen Erde verrann, in die sich seine Hände gruben. Aus weit aufgerissenen Augen versuchte er meinen Blick einzufangen und eine Antwort auf die Frage zu erzwingen, die er zu stellen nicht mehr in der Lage war. Sein anklagendes „Warum?“ hing unausgesprochen zwischen uns und ich verweigerte ihm die Gnade einer Antwort mit stummer Entschlossenheit. Breitbeinig stand ich über ihm, die Arme überkreuzt und die Seele fest verschlossen, erwartete ich seinen letzten Atemzug, doch er machte es mir nicht leicht, hatte es mir niemals leicht gemacht und so wartete ich lange, bis er einen letzten, angestrengten Seufzer tat, der sich im schmutzigen Weiß des Himmels auflöste und verlor. Ich sah jener kleinen Atemwolke hinterher und gedachte der fragilen Flüchtigkeit der Dinge, als plötzlich hoch über meinem Kopf der jammernde Ruf eines Raben erscholl, der in meinen Ohren klang wie der vorwurfsvolle Schrei Gottes. Ich zuckte zusammen und schaute angestrengt nach oben, doch gab es dort nichts anderes zu sehen, als niederdrückende Wolkenberge, die sich grau in grau übereinander schoben und nichts zu hören, als mein eigenes, schnaufendes Atmen. Die Stille kehrte zurück auf die verlassenen Felder und mit ihr kroch feuchte Einsamkeit in meine klammen Glieder. Ich warf einen letzten Blick auf meinen Bruder, der erschlagen am Rand des Feldes lag, blutüberströmt und reglos auf der feuchten, kalten Erde. Dann drehte ich mich um und ging den gewundenen Feldweg zurück nach Hause. Der Rabe war fortgeflogen. Gott schwieg.

© sybille lengauer / aus „Mottengedanken“ erschienen 2020 bei Rodneys Underground Press

Kein Winter

Veröffentlicht: Januar 12, 2021 in Gedichte
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Kein Winter

Kein Winter im Westen,
Nur Morast und feuchte Socken,
Die Sonne verborgen,
Unter Grau und kein Himmel,
Kein Winter im Westen,
Nur Dreck und feuchte Träume,
Monoton monochrom,
Die Landschaft,
Und mein Herz.

© sybille lengauer

Kra Fratzra

Veröffentlicht: Januar 8, 2021 in Kurzgeschichten
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Kra Fratzra
(Eine Stop-Motion-Knetfiguren-Geschichte)

Sonnenuntergang im Land hinter den Träumen, eine orangerot flackernde Feuerblume tauscht ihren Platz am Himmel mit einem pockennarbigen Mond, der sein fahles Licht nur zögerlich über die krummen Hausdächer von Monsterstadt scheinen lässt. In seinem Schlepptau bummeln gelblich leuchtende Sterne, die in gemütlichem Tempo ihre Plätze zwischen den Wolken einnehmen und dabei ohne großes Interesse auf die erwachende Monsterwelt hinabfunkeln, niemand scheint in besonderer Eile zu sein, die Nacht ist schließlich noch jung.
Im außergewöhnlich unordentlichen Badezimmer der Familie Kra steht Fratzra schmollend vor einem alten Hängespiegel, der von unzähligen Rissen durchzogen und an manchen Stellen bereits blind geworden ist. Kritisch betrachtet sie ihr verschwommenes Spiegelbild, mustert streng das buntgeschuppte Monstergesicht mit dem breiten, gelben Vogelschnabel, aus dem spitze Krokodilszähne ragen und egal wie lange sie hinschaut, sie findet nichts Gutes an dem was sie sieht. Erfolglos versucht Fratzra die struppigen Rabenfedern zu glätten, die an den unmöglichsten Stellen aus ihrem Kopf und Körper sprießen, auf dem schmuddeligen Fliesenboden erzählen diverse leergedrückte Tuben ‚Federglatt‘ von einem aussichtslosen Kampf. „Ausgerechnet heute muss ich wieder aussehen wie eine alte Vogelscheuche“, murmelt sie bitter und rupft frustriert mit dem Schnabel an einigen besonders störrischen Federn, die aus ihrem schlanken Unterarm wachsen, da lässt plötzlich ungestümes Türklopfen das Badezimmer so heftig erzittern, daß Putz von der Decke rieselt. „Bist du endlich fertig?“, nörgelt eine helle Kinderstimme von der anderen Seite der Türe. „Lasst mich in Frieden!“ Fratzra faucht gereizt, ihre violetten Augen werden ärgerlich schmal, die farbenfrohen Schuppen in ihrem Gesicht verfärben sich für einen kurzen Moment stechend hellgrün. „Wie lange brauchst du denn noch?“, quengelt eine andere Kinderstimme ungehalten. „Ihr sollt mich in Ruhe lassen!“ Fratzra wirft zornig die letzte Tube ‚Federglatt‘ gegen die Türe und stampft mit dem Fuß auf. „ Papa-Papa-Papa! Fratzi blockiert schon wieder das Bad!“, kreischt ein schriller Kinderchor auf dem Flur. „Ihr sollt mich! Nicht! So nennen!“, brüllt Fratzra entrüstet. „Nun beeil dich, Liebes! Das Gelege will schließlich auch ins Bad!“, ruft Vater Kra mahnend aus der Küche, entnervt streckt Fratzra ihrem Spiegelbild die Zunge heraus, dann gibt sie den Widerstand auf und verlässt murrend das Badezimmer. Im schummrig beleuchteten Flur stolpert sie beinah über ihre neunhundertneunundneunzig Geschwister, die in einem unübersichtlichen Knäuel über den Teppichboden toben, die kaum daumengroßen Monsterkinder, die mehr an bunte Staubflusen als an echte Monster erinnern, wuseln furchtlos um die krallenbewehrten Füße ihrer großen Schwester und kümmern sich nicht um deren Gezeter. „Könnt ihr euch nicht ein einziges Mal benehmen?“, herrscht sie die wimmelnde Kinderschar an, als diese mit lautem Getöse an ihr vorbei ins Badezimmer strömt. „Unmöglich, diese Brut“, setzt Fratzra kopfschüttelnd hinterher, sie trottet mit schlurfenden Schritten in die Küche, wo Vater Kra gerade ein üppiges Frühstück zubereitet, während Mutter Kra kopfüber von der Zimmerdecke hängt und entspannt in der Abendzeitung schmökert. „Guten Abend, mein Herz, hast du gut geschlafen?“, fragt Mutter Kra, ohne von der Zeitung aufzuschauen, ihre Tochter zuckt nur mit den Achseln und setzt sich wortlos an den reich gedeckten Tisch. Fratzra fühlt einen schweren Klumpen im Magen liegen, die knusprig gebratenen Maden und der frischgepresste Larvensaft können sie heute nicht locken. „Ach Liebes, wird schon schiefgehen“, brummt Mutter Kra freundlich, sie hebt nun doch den Blick von der Zeitung und auf ihrem tiefschwarzen Rabengesicht erblüht ein aufmunterndes Lächeln. Fratzra lächelt schwach zurück, „davon bin ich überzeugt“, heuchelt sie leidenschaftslos. Vater Kra stellt eine Schüssel voll dampfender Speckkäfer auf den Tisch, „Ich bin ja so unheimlich stolz auf dich!“, flötet er honigsüß, die changierenden Farben seines schuppigen Reptiliengesichts formen winzige, kitschige Herzchen, die wie Tränen aus seinen dunklen Echsenaugen fließen. „Du machst das Kind ja noch ganz verlegen“, mahnt Mutter Kra von der Zimmerdecke. „Es ist ihr erster Mensch, das ist etwas Besonderes!“, hält Vater Kra beharrlich dagegen, er wischt seine großen Echsenhände an seiner grässlich geblümten Kochschürze sauber und wendet sich erneut dem glutheißen Ofen zu, um weitere Pfannen und Töpfe aufzusetzen. Fratzra beobachtet seine vertrauten Bewegungen und empfindet für einen kurzen Moment Geborgenheit, doch als ihre neunhundertneunundneunzig Geschwistermonster wenige Sekunden später lärmend und krakeelend die Küche stürmen, erlischt das angenehme Gefühl abrupt. Mürrisch beobachtet Fratzra das Treiben der kleinen Monsterchen, die wie verhungernde Piranhas über das Frühstück herfallen und dabei ein heilloses Durcheinander anrichten. Eine halbe Stunde später trägt Fratzra denselben mürrischen Gesichtsausdruck zur Wohnungstür hinaus, stumm erduldet sie die guten Ratschläge, die im elterlichen Vehikel unablässig auf sie einprasseln, Vater Kra hat vehement darauf bestanden, seine Tochter persönlich zur Vergabestelle für Minderjährige zu fahren und Fratzra denkt verstimmt, daß der Weg dorthin zum Glück nicht besonders weit ist. Nervös starrt sie aus dem Seitenfenster auf die hell erleuchteten Straßen von Monsterstadt, die wohlgemeinten Worte des Vaters strömen bald nur noch ungehört an ihr vorbei, erst als der Wagen mit quietschenden Reifen vor dem hochaufragenden Gebäudekomplex der Vergabestelle hält, dringen seine Worte langsam wieder zu ihr durch. „…aber solange du diese Regeln befolgst, kann eigentlich nichts schiefgehen“, resümiert Vater Kra gerade hochzufrieden, Fratzra nickt ungeduldig, drückt einen flüchtigen Schnabelkuss auf seine schuppige Wange und klettert so schnell sie kann aus dem Fahrzeug. „Endlich alleine“, entfährt es ihr erleichtert, schnellfüßig hopst sie die unebenen Steinstufen bis zum Haupteingang empor, doch als dessen spiegelblank polierte Schiebetüren automatisch vor ihr aufgleiten und das düstere Innere des Gebäudes offenbaren, verlässt sie auch schon wieder der Elan. „Oh Scheiße“, flüstert Fratzra, ihre Fingerspitzen beginnen unangenehm zu schwitzen, ihre Zunge scheint nicht mehr richtig in ihren Schnabel zu passen, alles fühlt sich grässlich verkehrt an, ganz so, als wäre ihr Körper plötzlich auf links gezogen worden. Eingeschüchtert betritt sie die gewaltige Eingangshalle der Vergabestelle für Minderjährige und meldet sich kleinlaut am lieblos dekorierten Informationsschalter, wo zuallererst ihre Personalien mit dem Computersystem abgeglichen werden. Angespannt folgt Fratzra den Anweisungen einer adipösen Beamten-Qualle, die ihr mit großem Ernst einen Fragebogen zum Ausfüllen überreicht und in verschlungenen Gesten den Weg durch das Gebäude erklärt, kurz darauf drängt sich das Monstermädchen mit fünfzehn weiteren jugendlichen Monstern in einem kleinen, überheizten und fensterlosen Warteraum. Sie ist zu nervös, um neue Bekanntschaften zu schließen und bleibt lieber für sich, unruhig tritt sie von einem Bein auf das andere, ihre Blase meldet ein dringendes Bedürfnis, doch Fratzra ist tödlich entschlossen unter keinen Umständen die Toilette aufzusuchen, immerhin könnte ausgerechnet dann ihr Name aufgerufen werden und diese Peinlichkeit würde sie keinesfalls überstehen. „Ygs Gramlord, Zimmer Drei“, quäkt eine blechern klingende Stimme aus einem uralten Lautsprecher an der Wand, ein magerer Werwolfsjunge mit schrecklicher Akne im struppigen Gesicht schnellt erschrocken aus seinen Gedanken. „Gwarl Schopfwürg, Zimmer Sieben. Lyn Wilbranda, Zimmer Vier“, scheppert die körperlose Stimme, hastig stürzen die aufgerufenen Monster aus dem Warteraum, an der Türe entsteht heftiges Gerangel, als alle drei gleichzeitig hindurchpreschen wollen. Fratzra beobachtet das unfreiwillig komische Schauspiel mit großen Augen, die Andeutung eines Lächelns schleicht sich in ihre Schnabelwinkel und sie fühlt sich ein klein wenig besser. „Kra Fratzra, Zimmer Elf. Thixt Engerling, Zimmer Neun. Hrgh Beißfest, Zimmer Vierzehn“, scheppert es unerbittlich aus dem Lautsprecher, Fratzra schluckt laut, sie versucht die herangaloppierende Panik zu unterdrücken, ihre Kopffedern stehen wie elektrisiert zu Berge, doch das bemerkt sie zum Glück nicht. „Ach Kacke“, haucht sie unhörbar leise, wie in Zeitlupe folgt sie den anderen Monsterteenies aus dem Warteraum, die wenigen Schritte bis zu Zimmer Elf fallen unsagbar schwer. Fratzra leidet unter schrecklicher Prüfungsangst und wenn man es genau nehmen will ist die erste Zuteilung eines Menschenkindes nichts anderes, als die gewaltigste Prüfung von allen, an deren Ende die Aufnahme in die Erwachsenenwelt steht. Fratzra weiß recht genau was jetzt auf sie zukommt, seit ihrem siebten Lebensjahr wurde sie im Sonntagsunterricht auf jenen großen Moment vorbereitet, an dem sie zum ersten Mal das Monster unter dem Bett sein wird, ihre theoretische Ausbildung ist abgeschlossen, nun ist es Zeit für die Praxis, doch Fratzra ist nicht sicher ob sie tatsächlich für den großen Moment bereit ist, die Angst vor dem Versagen lastet schwer auf ihrem Gemüt. Zögerlich öffnet sie die Tür zu Zimmer Elf einen Spaltbreit und linst vorsichtig hindurch, doch in dem gelbgekachelten Zimmer warten nur eine unbequem erscheinende Ruheraumliege, auf der eine dünne Bettdecke mit rot-weiß-kartiertem Bezug liegt und sterile, kalte Sauberkeit. Fratzra atmet dreimal tief ein und aus, betritt mit einem großen Schritt das Zimmer und schließt sorgfältig die Tür hinter sich, ihre Hand schlingt sich fest um den Türgriff und ein Teil von ihr möchte am liebsten nie wieder loslassen, quälende Unsicherheit lähmt ihre Glieder, jegliche Farbe ist aus ihren Schuppen gewichen, wie angewurzelt steht sie da, den Blick starr auf die Bettdecke gerichtet. „Haben Sie Fragen?“, ertönt eine ungeduldige Stimme, Fratzra quiekt schrill, erschrocken schnellt ihr Blick nach allen Seiten. „Hier oben“, schnarrt die Stimme unwirsch, Fratzra schaut auf und entdeckt eine winzige Kamera, die wenige Zentimeter über dem Türstock montiert ist, die Kamera wackelt kurz von Links nach Rechts und Fratzra denkt frustriert, daß der Prüfungsbeamte sie wahrscheinlich jetzt schon für Schwachsinnig hält. Sie schüttelt entschlossen den Kopf, „Keine Fragen, danke“, mit gesträubtem Gefieder und schlotternden Knien nähert sie sich der Liege, es gibt kein Zurück. Fratzra holt tief Luft, schickt ein Stoßgebet an alle Götter, die bereit sind zuzuhören, legt sich mit angehaltenem Atem nieder und zieht die Bettdecke bis über den Kopf. Auf ein grauenerregendes Gefühl des Fallens folgt ein unangenehmer Moment der Übelkeit, Fratzra denkt überdreht, daß sich so wohl ein Pfannkuchen fühlen muss, der mit Schwung in der Pfanne gewendet wird, dann ist der Wechsel in die Menschenwelt vollzogen. Fratzra atmet vorsichtig aus und wieder ein, die unvertrauten Gerüche des fremden Kinderzimmers wirken nahezu überwältigend, angespannt zieht sie die Bettdecke zurück, um einen ersten, scheuen Blick zu riskieren, doch ihre ausgeprägte Nachtsichtigkeit hilft nur wenig in der völligen Finsternis, die unter dem niedrigen Holzbett herrscht. Fratzra spürt den unangenehm kalten Lattenrost des Bettes, der hart in ihren Rücken drückt, doch vor allem spürt sie den kleinen Jungen, der nur wenige Zentimeter über ihr auf der Matratze liegt und schläft, behutsam fühlt sie tiefer in sein träumendes Bewusstsein, doch seine Gedanken sind chaotisch und verworren, Fratzra empfängt ein wildes Sammelsurium aus Bildern und Gefühlen und bricht überfordert die Verbindung ab. Das Kind grunzt hörbar und regt unruhig die Beine, gespannt klebt Fratzra unter dem stockdunklen Kinderbett, mit wachsender Faszination lauscht sie den Atemzügen des Jungen, der nichtsahnend unschuldige Menschenträume träumt und doch unterbewusst zu spüren scheint, daß jemand in seinem Kopf gewesen ist, der dort nicht hingehört. Ihre lähmende Prüfungsangst weicht immer mehr aufgeregter Neugierde, Fratzra schiebt sich lautlos unter dem Bett hervor und beginnt sorgfältig das Kinderzimmer zu erkunden, doch muß sie schnell erkennen, daß es nicht viel zu untersuchen gibt, es ist ein winziges Räumchen, eigentlich nicht mehr als eine Besenkammer, die ein schmales Kinderbett und einen überhohen Kleiderschrank enthält. Die glatt verputzten Wände sind schmucklos und kahl, von der Zimmerdecke baumelt eine nackte Glühbirne, Fratzra denkt enttäuscht, daß sie schon etwas mehr von ihrem ersten Kinderzimmer erwartet hätte, spannendes Menschenspielzeug zum Beispiel, oder wenigstens eine jener sagenumwobenen Spielekonsolen, von denen sie so viel gehört hat, doch bis auf einen schäbigen Teddybären und einige aufgescheuchte Zitterspinnen gibt es nichts zu entdecken. Der Kleiderschrank ist vollgestopft mit Hawaiihemden, Baumwollhosen und mehreren Herrenjacken, die bestimmt keinem Kind gehören und damit ist die Erkundungstour auch schon zu Ende. „Hm“, macht Fratzra, etwas unbefriedigt hockt sie zwischen den Hawaiihemden im Schrank, beobachtet den schlafenden Jungen durch die halbgeöffnete Schranktür und überlegt ihre nächsten Schritte. Soll sie dem Menschenkind mit unheimlichen Geräuschen das Fürchten lehren, oder lieber mit stechendem Gestank? Oder wäre es vielleicht besser, mit der elektrischen Glühbirne und dem hässlichen Teddybär zu experimentieren? Warum nicht alles auf einmal, oder wäre das zu dick aufgetragen? Doch bevor das Monstermädchen eine Entscheidung treffen kann, öffnet sich knarrend die Zimmertür, der Junge schreckt benommen aus dem Schlaf und blinzelt verwirrt der großen, nach Alkohol und Schweiß stinkenden Gestalt entgegen, die mit schwankenden Schritten auf das Bett zusteuert. Fratzra kriecht tiefer in den Schrank hinein und versucht dabei möglichst kein Geräusch zu verursachen, mit wild klopfendem Herzen beobachtet das Monster was sich in den nächsten Minuten zwischen dem Mann und dem Jungen auf dem Bett ereignet. Fratzra kann nicht ganz begreifen was sie sieht, doch die Gefühle, die sie von dem verängstigten Kind empfängt, sprechen eine eindeutige Sprache. Hilfloser Zorn flutet in heißkalten Wellen über Fratzra hinweg, als sie den Ekel und die Scham des Jungen fühlt, sein leises Wimmern schrillt in ihren Ohren wie eine kreischende Säge. Fratzra muss gegen starken Brechreiz ankämpfen, sie zittert am ganzen Körper und presst den Schnabel fest zusammen, dicke Tränen fließen in Strömen über ihre tiefschwarz verfärbten Wangen und benetzen die Federn an ihrer Brust, bis sie völlig durchweicht sind. Der Erwachsene stöhnt erregt und Fratzra spürt entsetzt einen schneidenden Schmerz, der den Körper des Kindes durchzuckt, hysterisch brüllend stürzt sie aus dem Kleiderschrank und greift an. Der nackte Mann fährt wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett, Fratzra verbeißt sich mit aller Kraft in seinen fleischigen Oberschenkel und reißt ein großes Stück heraus, in rasender Wut spuckt sie den blutigen Klumpen auf den Boden und beißt erneut zu. Kreischend fällt der Mann auf die Knie, Fratzra springt hektisch flatternd in die Höhe, zielt mit ihren krallenbewehrten Füßen nach seinem Gesicht und zerfetzt seine Nase mit einem brutalen Tritt. Blut spritzt bis zur Zimmerdecke, der Erwachsene schlägt in blindem Entsetzen um sich und trifft das Monstermädchen hart an der Brust, blutüberströmt humpelt er aus dem Kinderzimmer, mit einem lauten Knall fällt die Tür hinter ihm zu. Fratzra kauert zusammengekrümmt auf dem Boden, ihr Brustkorb schmerzt heftig, das Atmen tut stechend weh, mühsam versucht sie unter das Bett zu kriechen, doch der Weg erscheint plötzlich unfassbar weit. „Danke“, flüstert der Junge auf dem Bett, Fratzra erstarrt und schielt betroffen zu ihm empor, ihre violetten Augen treffen auf einen haselnussbraunen Blick voller Dankbarkeit und plötzlich ist aller Schmerz vergessen. „Es tut mir leid was dir gerade passiert ist“, krächzt das Monster mitfühlend, der Junge senkt beschämt den Kopf, verlegen schlingt er die Bettdecke um seinen mageren Köper. „Du hast alles gesehen?“, murmelt er heiser, Fratzra kann spüren wie schwer ihm die Frage fällt, seine Schuldgefühle lassen sie bekümmert aufheulen, „Du kannst doch gar nichts dafür!“, entfährt es ihr fassungslos. „Tut mir leid“, schluchzt der Junge und fängt an zu weinen, Fratzra quält sich ächzend auf das Bett und nimmt ihn vorsichtig in die Arme, ihre zerzausten Federn schmiegen sich wärmend an seine schutzlos nackte Haut, sie murmelt beruhigende Worte und lässt auch ihren Tränen freien Lauf. Minutenlang sitzen die beiden eng umschlungen, Fratzra kann spüren wie all der Schmerz und die Traurigkeit stoßweise aus dem zitternden Kind herausfließen, sie sendet beschwichtigende und liebevolle Empfindungen in seinen aufgewühlten Geist und wartet geduldig, bis seine Gedanken ruhig werden, erst dann löst sie vorsichtig die Umarmung. „Ich hab’ dich lieb“, murmelt der Junge kaum hörbar, während er langsam auf die Matratze sinkt, schmatzend dreht er sich auf die Seite und gleitet in heilsamen Tiefschlaf. „Ich dich auch“, flüstert Fratzra und meint es ehrlich, sie deckt das Kind behutsam mit der Bettdecke zu und lässt sich vorsichtig von der Matratze gleiten. Greller Schmerz tobt heiß durch ihren Brustkorb, mit zusammengebissenen Zähnen kriecht sie unter das Bett, kalter Schweiß steht auf ihrer Stirn, Fratzra schafft es kaum sich an den Lattenrost zu heften, kraftlos zieht sie die Bettdecke über den Kopf und wünscht sich nach Hause. Im selben Moment hat sie das Gefühl zu fallen, die Welt kippt und Fratzra muß sich übergeben, stöhnend findet sie sich im gelbgekachelten Zimmer Elf der Vergabestelle für Minderjährige wieder, drei Monsterbeamte drängeln besorgt um die Ruheraumliege und schnattern aufgeregt. „Sie ist verletzt!“, kreischt ein Beamter entsetzt, „Ihre Eltern werden uns verklagen!“, schreit ein anderer und stürzt panisch aus dem Zimmer, der dritte Beamte versucht tollpatschig nach dem Puls des Mädchens zu fühlen, doch Fratzra schüttelt ihn unwillig ab und schnappt erbost nach seiner Hand. „Ich muß doch sehr bitten“, schnaubt der Beamte entrüstet. „Das will ich meinen“, knurrt Fratzra gereizt und schnappt zur Sicherheit noch einmal schwach in seine Richtung, dann verliert sie das Bewusstsein.

© sybille lengauer