Kra Fratzra
(Eine Stop-Motion-Knetfiguren-Geschichte)
Sonnenuntergang im Land hinter den Träumen, eine orangerot flackernde Feuerblume tauscht ihren Platz am Himmel mit einem pockennarbigen Mond, der sein fahles Licht nur zögerlich über die krummen Hausdächer von Monsterstadt scheinen lässt. In seinem Schlepptau bummeln gelblich leuchtende Sterne, die in gemütlichem Tempo ihre Plätze zwischen den Wolken einnehmen und dabei ohne großes Interesse auf die erwachende Monsterwelt hinabfunkeln, niemand scheint in besonderer Eile zu sein, die Nacht ist schließlich noch jung.
Im außergewöhnlich unordentlichen Badezimmer der Familie Kra steht Fratzra schmollend vor einem alten Hängespiegel, der von unzähligen Rissen durchzogen und an manchen Stellen bereits blind geworden ist. Kritisch betrachtet sie ihr verschwommenes Spiegelbild, mustert streng das buntgeschuppte Monstergesicht mit dem breiten, gelben Vogelschnabel, aus dem spitze Krokodilszähne ragen und egal wie lange sie hinschaut, sie findet nichts Gutes an dem was sie sieht. Erfolglos versucht Fratzra die struppigen Rabenfedern zu glätten, die an den unmöglichsten Stellen aus ihrem Kopf und Körper sprießen, auf dem schmuddeligen Fliesenboden erzählen diverse leergedrückte Tuben ‚Federglatt‘ von einem aussichtslosen Kampf. „Ausgerechnet heute muss ich wieder aussehen wie eine alte Vogelscheuche“, murmelt sie bitter und rupft frustriert mit dem Schnabel an einigen besonders störrischen Federn, die aus ihrem schlanken Unterarm wachsen, da lässt plötzlich ungestümes Türklopfen das Badezimmer so heftig erzittern, daß Putz von der Decke rieselt. „Bist du endlich fertig?“, nörgelt eine helle Kinderstimme von der anderen Seite der Türe. „Lasst mich in Frieden!“ Fratzra faucht gereizt, ihre violetten Augen werden ärgerlich schmal, die farbenfrohen Schuppen in ihrem Gesicht verfärben sich für einen kurzen Moment stechend hellgrün. „Wie lange brauchst du denn noch?“, quengelt eine andere Kinderstimme ungehalten. „Ihr sollt mich in Ruhe lassen!“ Fratzra wirft zornig die letzte Tube ‚Federglatt‘ gegen die Türe und stampft mit dem Fuß auf. „ Papa-Papa-Papa! Fratzi blockiert schon wieder das Bad!“, kreischt ein schriller Kinderchor auf dem Flur. „Ihr sollt mich! Nicht! So nennen!“, brüllt Fratzra entrüstet. „Nun beeil dich, Liebes! Das Gelege will schließlich auch ins Bad!“, ruft Vater Kra mahnend aus der Küche, entnervt streckt Fratzra ihrem Spiegelbild die Zunge heraus, dann gibt sie den Widerstand auf und verlässt murrend das Badezimmer. Im schummrig beleuchteten Flur stolpert sie beinah über ihre neunhundertneunundneunzig Geschwister, die in einem unübersichtlichen Knäuel über den Teppichboden toben, die kaum daumengroßen Monsterkinder, die mehr an bunte Staubflusen als an echte Monster erinnern, wuseln furchtlos um die krallenbewehrten Füße ihrer großen Schwester und kümmern sich nicht um deren Gezeter. „Könnt ihr euch nicht ein einziges Mal benehmen?“, herrscht sie die wimmelnde Kinderschar an, als diese mit lautem Getöse an ihr vorbei ins Badezimmer strömt. „Unmöglich, diese Brut“, setzt Fratzra kopfschüttelnd hinterher, sie trottet mit schlurfenden Schritten in die Küche, wo Vater Kra gerade ein üppiges Frühstück zubereitet, während Mutter Kra kopfüber von der Zimmerdecke hängt und entspannt in der Abendzeitung schmökert. „Guten Abend, mein Herz, hast du gut geschlafen?“, fragt Mutter Kra, ohne von der Zeitung aufzuschauen, ihre Tochter zuckt nur mit den Achseln und setzt sich wortlos an den reich gedeckten Tisch. Fratzra fühlt einen schweren Klumpen im Magen liegen, die knusprig gebratenen Maden und der frischgepresste Larvensaft können sie heute nicht locken. „Ach Liebes, wird schon schiefgehen“, brummt Mutter Kra freundlich, sie hebt nun doch den Blick von der Zeitung und auf ihrem tiefschwarzen Rabengesicht erblüht ein aufmunterndes Lächeln. Fratzra lächelt schwach zurück, „davon bin ich überzeugt“, heuchelt sie leidenschaftslos. Vater Kra stellt eine Schüssel voll dampfender Speckkäfer auf den Tisch, „Ich bin ja so unheimlich stolz auf dich!“, flötet er honigsüß, die changierenden Farben seines schuppigen Reptiliengesichts formen winzige, kitschige Herzchen, die wie Tränen aus seinen dunklen Echsenaugen fließen. „Du machst das Kind ja noch ganz verlegen“, mahnt Mutter Kra von der Zimmerdecke. „Es ist ihr erster Mensch, das ist etwas Besonderes!“, hält Vater Kra beharrlich dagegen, er wischt seine großen Echsenhände an seiner grässlich geblümten Kochschürze sauber und wendet sich erneut dem glutheißen Ofen zu, um weitere Pfannen und Töpfe aufzusetzen. Fratzra beobachtet seine vertrauten Bewegungen und empfindet für einen kurzen Moment Geborgenheit, doch als ihre neunhundertneunundneunzig Geschwistermonster wenige Sekunden später lärmend und krakeelend die Küche stürmen, erlischt das angenehme Gefühl abrupt. Mürrisch beobachtet Fratzra das Treiben der kleinen Monsterchen, die wie verhungernde Piranhas über das Frühstück herfallen und dabei ein heilloses Durcheinander anrichten. Eine halbe Stunde später trägt Fratzra denselben mürrischen Gesichtsausdruck zur Wohnungstür hinaus, stumm erduldet sie die guten Ratschläge, die im elterlichen Vehikel unablässig auf sie einprasseln, Vater Kra hat vehement darauf bestanden, seine Tochter persönlich zur Vergabestelle für Minderjährige zu fahren und Fratzra denkt verstimmt, daß der Weg dorthin zum Glück nicht besonders weit ist. Nervös starrt sie aus dem Seitenfenster auf die hell erleuchteten Straßen von Monsterstadt, die wohlgemeinten Worte des Vaters strömen bald nur noch ungehört an ihr vorbei, erst als der Wagen mit quietschenden Reifen vor dem hochaufragenden Gebäudekomplex der Vergabestelle hält, dringen seine Worte langsam wieder zu ihr durch. „…aber solange du diese Regeln befolgst, kann eigentlich nichts schiefgehen“, resümiert Vater Kra gerade hochzufrieden, Fratzra nickt ungeduldig, drückt einen flüchtigen Schnabelkuss auf seine schuppige Wange und klettert so schnell sie kann aus dem Fahrzeug. „Endlich alleine“, entfährt es ihr erleichtert, schnellfüßig hopst sie die unebenen Steinstufen bis zum Haupteingang empor, doch als dessen spiegelblank polierte Schiebetüren automatisch vor ihr aufgleiten und das düstere Innere des Gebäudes offenbaren, verlässt sie auch schon wieder der Elan. „Oh Scheiße“, flüstert Fratzra, ihre Fingerspitzen beginnen unangenehm zu schwitzen, ihre Zunge scheint nicht mehr richtig in ihren Schnabel zu passen, alles fühlt sich grässlich verkehrt an, ganz so, als wäre ihr Körper plötzlich auf links gezogen worden. Eingeschüchtert betritt sie die gewaltige Eingangshalle der Vergabestelle für Minderjährige und meldet sich kleinlaut am lieblos dekorierten Informationsschalter, wo zuallererst ihre Personalien mit dem Computersystem abgeglichen werden. Angespannt folgt Fratzra den Anweisungen einer adipösen Beamten-Qualle, die ihr mit großem Ernst einen Fragebogen zum Ausfüllen überreicht und in verschlungenen Gesten den Weg durch das Gebäude erklärt, kurz darauf drängt sich das Monstermädchen mit fünfzehn weiteren jugendlichen Monstern in einem kleinen, überheizten und fensterlosen Warteraum. Sie ist zu nervös, um neue Bekanntschaften zu schließen und bleibt lieber für sich, unruhig tritt sie von einem Bein auf das andere, ihre Blase meldet ein dringendes Bedürfnis, doch Fratzra ist tödlich entschlossen unter keinen Umständen die Toilette aufzusuchen, immerhin könnte ausgerechnet dann ihr Name aufgerufen werden und diese Peinlichkeit würde sie keinesfalls überstehen. „Ygs Gramlord, Zimmer Drei“, quäkt eine blechern klingende Stimme aus einem uralten Lautsprecher an der Wand, ein magerer Werwolfsjunge mit schrecklicher Akne im struppigen Gesicht schnellt erschrocken aus seinen Gedanken. „Gwarl Schopfwürg, Zimmer Sieben. Lyn Wilbranda, Zimmer Vier“, scheppert die körperlose Stimme, hastig stürzen die aufgerufenen Monster aus dem Warteraum, an der Türe entsteht heftiges Gerangel, als alle drei gleichzeitig hindurchpreschen wollen. Fratzra beobachtet das unfreiwillig komische Schauspiel mit großen Augen, die Andeutung eines Lächelns schleicht sich in ihre Schnabelwinkel und sie fühlt sich ein klein wenig besser. „Kra Fratzra, Zimmer Elf. Thixt Engerling, Zimmer Neun. Hrgh Beißfest, Zimmer Vierzehn“, scheppert es unerbittlich aus dem Lautsprecher, Fratzra schluckt laut, sie versucht die herangaloppierende Panik zu unterdrücken, ihre Kopffedern stehen wie elektrisiert zu Berge, doch das bemerkt sie zum Glück nicht. „Ach Kacke“, haucht sie unhörbar leise, wie in Zeitlupe folgt sie den anderen Monsterteenies aus dem Warteraum, die wenigen Schritte bis zu Zimmer Elf fallen unsagbar schwer. Fratzra leidet unter schrecklicher Prüfungsangst und wenn man es genau nehmen will ist die erste Zuteilung eines Menschenkindes nichts anderes, als die gewaltigste Prüfung von allen, an deren Ende die Aufnahme in die Erwachsenenwelt steht. Fratzra weiß recht genau was jetzt auf sie zukommt, seit ihrem siebten Lebensjahr wurde sie im Sonntagsunterricht auf jenen großen Moment vorbereitet, an dem sie zum ersten Mal das Monster unter dem Bett sein wird, ihre theoretische Ausbildung ist abgeschlossen, nun ist es Zeit für die Praxis, doch Fratzra ist nicht sicher ob sie tatsächlich für den großen Moment bereit ist, die Angst vor dem Versagen lastet schwer auf ihrem Gemüt. Zögerlich öffnet sie die Tür zu Zimmer Elf einen Spaltbreit und linst vorsichtig hindurch, doch in dem gelbgekachelten Zimmer warten nur eine unbequem erscheinende Ruheraumliege, auf der eine dünne Bettdecke mit rot-weiß-kartiertem Bezug liegt und sterile, kalte Sauberkeit. Fratzra atmet dreimal tief ein und aus, betritt mit einem großen Schritt das Zimmer und schließt sorgfältig die Tür hinter sich, ihre Hand schlingt sich fest um den Türgriff und ein Teil von ihr möchte am liebsten nie wieder loslassen, quälende Unsicherheit lähmt ihre Glieder, jegliche Farbe ist aus ihren Schuppen gewichen, wie angewurzelt steht sie da, den Blick starr auf die Bettdecke gerichtet. „Haben Sie Fragen?“, ertönt eine ungeduldige Stimme, Fratzra quiekt schrill, erschrocken schnellt ihr Blick nach allen Seiten. „Hier oben“, schnarrt die Stimme unwirsch, Fratzra schaut auf und entdeckt eine winzige Kamera, die wenige Zentimeter über dem Türstock montiert ist, die Kamera wackelt kurz von Links nach Rechts und Fratzra denkt frustriert, daß der Prüfungsbeamte sie wahrscheinlich jetzt schon für Schwachsinnig hält. Sie schüttelt entschlossen den Kopf, „Keine Fragen, danke“, mit gesträubtem Gefieder und schlotternden Knien nähert sie sich der Liege, es gibt kein Zurück. Fratzra holt tief Luft, schickt ein Stoßgebet an alle Götter, die bereit sind zuzuhören, legt sich mit angehaltenem Atem nieder und zieht die Bettdecke bis über den Kopf. Auf ein grauenerregendes Gefühl des Fallens folgt ein unangenehmer Moment der Übelkeit, Fratzra denkt überdreht, daß sich so wohl ein Pfannkuchen fühlen muss, der mit Schwung in der Pfanne gewendet wird, dann ist der Wechsel in die Menschenwelt vollzogen. Fratzra atmet vorsichtig aus und wieder ein, die unvertrauten Gerüche des fremden Kinderzimmers wirken nahezu überwältigend, angespannt zieht sie die Bettdecke zurück, um einen ersten, scheuen Blick zu riskieren, doch ihre ausgeprägte Nachtsichtigkeit hilft nur wenig in der völligen Finsternis, die unter dem niedrigen Holzbett herrscht. Fratzra spürt den unangenehm kalten Lattenrost des Bettes, der hart in ihren Rücken drückt, doch vor allem spürt sie den kleinen Jungen, der nur wenige Zentimeter über ihr auf der Matratze liegt und schläft, behutsam fühlt sie tiefer in sein träumendes Bewusstsein, doch seine Gedanken sind chaotisch und verworren, Fratzra empfängt ein wildes Sammelsurium aus Bildern und Gefühlen und bricht überfordert die Verbindung ab. Das Kind grunzt hörbar und regt unruhig die Beine, gespannt klebt Fratzra unter dem stockdunklen Kinderbett, mit wachsender Faszination lauscht sie den Atemzügen des Jungen, der nichtsahnend unschuldige Menschenträume träumt und doch unterbewusst zu spüren scheint, daß jemand in seinem Kopf gewesen ist, der dort nicht hingehört. Ihre lähmende Prüfungsangst weicht immer mehr aufgeregter Neugierde, Fratzra schiebt sich lautlos unter dem Bett hervor und beginnt sorgfältig das Kinderzimmer zu erkunden, doch muß sie schnell erkennen, daß es nicht viel zu untersuchen gibt, es ist ein winziges Räumchen, eigentlich nicht mehr als eine Besenkammer, die ein schmales Kinderbett und einen überhohen Kleiderschrank enthält. Die glatt verputzten Wände sind schmucklos und kahl, von der Zimmerdecke baumelt eine nackte Glühbirne, Fratzra denkt enttäuscht, daß sie schon etwas mehr von ihrem ersten Kinderzimmer erwartet hätte, spannendes Menschenspielzeug zum Beispiel, oder wenigstens eine jener sagenumwobenen Spielekonsolen, von denen sie so viel gehört hat, doch bis auf einen schäbigen Teddybären und einige aufgescheuchte Zitterspinnen gibt es nichts zu entdecken. Der Kleiderschrank ist vollgestopft mit Hawaiihemden, Baumwollhosen und mehreren Herrenjacken, die bestimmt keinem Kind gehören und damit ist die Erkundungstour auch schon zu Ende. „Hm“, macht Fratzra, etwas unbefriedigt hockt sie zwischen den Hawaiihemden im Schrank, beobachtet den schlafenden Jungen durch die halbgeöffnete Schranktür und überlegt ihre nächsten Schritte. Soll sie dem Menschenkind mit unheimlichen Geräuschen das Fürchten lehren, oder lieber mit stechendem Gestank? Oder wäre es vielleicht besser, mit der elektrischen Glühbirne und dem hässlichen Teddybär zu experimentieren? Warum nicht alles auf einmal, oder wäre das zu dick aufgetragen? Doch bevor das Monstermädchen eine Entscheidung treffen kann, öffnet sich knarrend die Zimmertür, der Junge schreckt benommen aus dem Schlaf und blinzelt verwirrt der großen, nach Alkohol und Schweiß stinkenden Gestalt entgegen, die mit schwankenden Schritten auf das Bett zusteuert. Fratzra kriecht tiefer in den Schrank hinein und versucht dabei möglichst kein Geräusch zu verursachen, mit wild klopfendem Herzen beobachtet das Monster was sich in den nächsten Minuten zwischen dem Mann und dem Jungen auf dem Bett ereignet. Fratzra kann nicht ganz begreifen was sie sieht, doch die Gefühle, die sie von dem verängstigten Kind empfängt, sprechen eine eindeutige Sprache. Hilfloser Zorn flutet in heißkalten Wellen über Fratzra hinweg, als sie den Ekel und die Scham des Jungen fühlt, sein leises Wimmern schrillt in ihren Ohren wie eine kreischende Säge. Fratzra muss gegen starken Brechreiz ankämpfen, sie zittert am ganzen Körper und presst den Schnabel fest zusammen, dicke Tränen fließen in Strömen über ihre tiefschwarz verfärbten Wangen und benetzen die Federn an ihrer Brust, bis sie völlig durchweicht sind. Der Erwachsene stöhnt erregt und Fratzra spürt entsetzt einen schneidenden Schmerz, der den Körper des Kindes durchzuckt, hysterisch brüllend stürzt sie aus dem Kleiderschrank und greift an. Der nackte Mann fährt wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett, Fratzra verbeißt sich mit aller Kraft in seinen fleischigen Oberschenkel und reißt ein großes Stück heraus, in rasender Wut spuckt sie den blutigen Klumpen auf den Boden und beißt erneut zu. Kreischend fällt der Mann auf die Knie, Fratzra springt hektisch flatternd in die Höhe, zielt mit ihren krallenbewehrten Füßen nach seinem Gesicht und zerfetzt seine Nase mit einem brutalen Tritt. Blut spritzt bis zur Zimmerdecke, der Erwachsene schlägt in blindem Entsetzen um sich und trifft das Monstermädchen hart an der Brust, blutüberströmt humpelt er aus dem Kinderzimmer, mit einem lauten Knall fällt die Tür hinter ihm zu. Fratzra kauert zusammengekrümmt auf dem Boden, ihr Brustkorb schmerzt heftig, das Atmen tut stechend weh, mühsam versucht sie unter das Bett zu kriechen, doch der Weg erscheint plötzlich unfassbar weit. „Danke“, flüstert der Junge auf dem Bett, Fratzra erstarrt und schielt betroffen zu ihm empor, ihre violetten Augen treffen auf einen haselnussbraunen Blick voller Dankbarkeit und plötzlich ist aller Schmerz vergessen. „Es tut mir leid was dir gerade passiert ist“, krächzt das Monster mitfühlend, der Junge senkt beschämt den Kopf, verlegen schlingt er die Bettdecke um seinen mageren Köper. „Du hast alles gesehen?“, murmelt er heiser, Fratzra kann spüren wie schwer ihm die Frage fällt, seine Schuldgefühle lassen sie bekümmert aufheulen, „Du kannst doch gar nichts dafür!“, entfährt es ihr fassungslos. „Tut mir leid“, schluchzt der Junge und fängt an zu weinen, Fratzra quält sich ächzend auf das Bett und nimmt ihn vorsichtig in die Arme, ihre zerzausten Federn schmiegen sich wärmend an seine schutzlos nackte Haut, sie murmelt beruhigende Worte und lässt auch ihren Tränen freien Lauf. Minutenlang sitzen die beiden eng umschlungen, Fratzra kann spüren wie all der Schmerz und die Traurigkeit stoßweise aus dem zitternden Kind herausfließen, sie sendet beschwichtigende und liebevolle Empfindungen in seinen aufgewühlten Geist und wartet geduldig, bis seine Gedanken ruhig werden, erst dann löst sie vorsichtig die Umarmung. „Ich hab’ dich lieb“, murmelt der Junge kaum hörbar, während er langsam auf die Matratze sinkt, schmatzend dreht er sich auf die Seite und gleitet in heilsamen Tiefschlaf. „Ich dich auch“, flüstert Fratzra und meint es ehrlich, sie deckt das Kind behutsam mit der Bettdecke zu und lässt sich vorsichtig von der Matratze gleiten. Greller Schmerz tobt heiß durch ihren Brustkorb, mit zusammengebissenen Zähnen kriecht sie unter das Bett, kalter Schweiß steht auf ihrer Stirn, Fratzra schafft es kaum sich an den Lattenrost zu heften, kraftlos zieht sie die Bettdecke über den Kopf und wünscht sich nach Hause. Im selben Moment hat sie das Gefühl zu fallen, die Welt kippt und Fratzra muß sich übergeben, stöhnend findet sie sich im gelbgekachelten Zimmer Elf der Vergabestelle für Minderjährige wieder, drei Monsterbeamte drängeln besorgt um die Ruheraumliege und schnattern aufgeregt. „Sie ist verletzt!“, kreischt ein Beamter entsetzt, „Ihre Eltern werden uns verklagen!“, schreit ein anderer und stürzt panisch aus dem Zimmer, der dritte Beamte versucht tollpatschig nach dem Puls des Mädchens zu fühlen, doch Fratzra schüttelt ihn unwillig ab und schnappt erbost nach seiner Hand. „Ich muß doch sehr bitten“, schnaubt der Beamte entrüstet. „Das will ich meinen“, knurrt Fratzra gereizt und schnappt zur Sicherheit noch einmal schwach in seine Richtung, dann verliert sie das Bewusstsein.
© sybille lengauer