Archiv für die Kategorie ‘Geschichten oder so ähnlich’

Im Bunker

Donnerstag, 14. Februar 2041, Uhrzeit 2:43, 

Wieder schlecht geschlafen. Das unregelmäßige Surren der Luftaustauschpumpe hat mich die ganze Nacht wach gehalten. Man könnte meinen, dass ich mich nach all den Jahren an dieses elende Scheißgeräusch gewöhnt hätte. Sieht leider nicht so aus. Sieht vielmehr so aus, als könnte ich es mittlerweile noch weniger ertragen. Bin wohl dünnhäutiger geworden. Sensibler. Reizbarer. Einsamkeit stellt so etwas mit einem an. Untergräbt jedes noch so stabile geistige Fundament, bis nichts weiter übrig bleibt als löchriger Schweizer Käse. Oder französischer Brie de Meaux, innen butterweich und außen deliziös angeschimmelt. Ich könnte noch hundert weitere Käse-Analogien aufzählen. Oder es bleiben lassen. Ich vermisse Käse – ich vermisse frische Milch und den Geschmack von heißem Kakao. Ich vermisse so vieles… Ich sollte nicht darüber nachdenken, das tut mir nicht gut. Werde heute weiter am Periskop arbeiten. Ich muss endlich einen Blick auf die Außenwelt haben, selbst wenn ich nur verbrannte Erde und atomverseuchte Felsen zu Gesicht bekomme – ich muss die Oberfläche wiedersehen.  Uhrzeit 22:53, Nachtrag: Die Konservendosen von SB sind verdorben. Habe stichprobenartig achtzehn Dosen geöffnet, keine ist noch genießbar. Werde eine weitere Wurmkiste anlegen müssen, um die Mengen an organischem Abfall zu bewältigen. Gibt zumindest mehr Dünger, man muss es positiv sehen.Morgen nicht vergessen: Wasserfilter reinigen!

Freitag, 15. Februar 2041 Uhrzeit 3:27

Verdammt lange Nacht. Die innere Unruhe entwickelt sich immer mehr zur schlechten Dauergewohnheit. Kaum lege ich mich ins Bett beginnt das Hirn zu rotieren. Spielt mir Szenen aus der Kindheit vor, oder wiederholt Gespräche, die ich vor Jahrzehnten geführt habe (oder vielleicht niemals geführt habe, sondern nur gerne geführt hätte, weil ich ein feiger Hund war und mich nicht getraut habe den Mund aufzumachen). Stundenlang wandern die Gedanken wie frei umherstreifendes Wild durch meinen Schädel und ich finde nicht in den Schlaf. Birgit nannte es immer: „Den Dreh nicht finden“ und ich glaube, das drückt es ganz gut aus. Ich finde den Dreh einfach nicht mehr, schlafe nur noch auf Raten, wenn die Erschöpfung überhand nimmt. Ich brauche endlich eine neue Perspektive, sonst… Werde heute die neue Wurmkiste anlegen und die Konserven überprüfen und, sofern noch Zeit bleibt, weiter am Periskop arbeiten. Sollten wirklich alle Dosen von SB verdorben sein, wäre das ein herber Rückschlag. Hätte mich voll auf Trockennahrung und Indoor Plants verlassen sollen. Hinterher ist man immer schlauer. Uhrzeit 22:56, Nachtrag: Nicht nur SB ist komplett verdorben, auch alle Stichproben der Konserven von RationX sind hinüber. Das macht ganze 286 Dosen. Hätte mir die neue Wurmkiste sparen können, bei den Mengen macht die kaum einen Unterschied. Morgen nicht vergessen: Rationsbuch aktualisieren!

Samstag, 16. Februar 2041, Uhrzeit 2:56,

Schon wieder nur drei Stunden geschlafen. Mein Körper fühlt sich an als wäre er durch eine gewaltige Nudelmaschine gewalzt worden, jedes Gelenk schmerzt, jeder Muskel brennt sauer. Werde heute Vormittag ein ausgedehntes Sportprogramm absolvieren, um meine Beweglichkeit wiederherzustellen. Außerdem werde ich das abendliche QiGong um einige Atem- und Dehnungsübungen erweitern, hatte heute Nacht genug Zeit ein paar Anleitungen aus den Büchern zu studieren. Ich muss mich eindeutig besser um meine körperliche Verfassung kümmern, alle meine Wirbel und Gelenke knacken und krachen und ich warte nur darauf, dass meine Arme und Beine einfach vom Rumpf abfallen, plop, plop, plop, plop, und schon kullern sie auf dem Boden hin und her. Mein Kopf darf gerne gleich mit abfallen und in die hinterste Ecke des Bunkers rollen, dann sehe ich nichts mehr als Dunkelheit und kann endlich zur Ruhe kommen. Habe keine Lust heute am Periskop zu schaffen, werde nachmittags puzzeln und leichte Musik hören. Selbstverständlich weiß ich, dass eigentlich der Sonntag für Puzzles und Entspannungsmusik reserviert ist, aber der Samstag Nachmittag liegt so nah am Sonntag, da kann man schon mal eine Ausnahme machen. Uhrzeit 11:48, Nachtrag: Sport ist Mord – morgen habe ich bestimmt fürchterlichen Muskelkater. Hat trotzdem gut getan, mir ist warm bis in die Knochen. Uhrzeit 22:15 Ich habe Puzzle 36 komplettiert! 10.000 Teile und nun ist jedes an seinem Platz. Das Pferdemotiv ist ein wenig kitschig, aber das wusste ich ja schon vorher. Trotzdem ein wunderbares Gefühl, wie jedes Mal. Zum Glück ist morgen Sonntag, da kann ich in Ruhe abbauen und mit den Vorbereitungen für Puzzle 37 beginnen. Ich liebe es gemütlich im Sessel zu sitzen und die vielen kleinen Teile zu sortieren, die glatten Randstücke herauszusuchen und dabei die Gedanken treiben zu lassen. Morgen wird ein guter Tag. Morgen nicht vergessen: Generator warten!

Sonntag, 17. Februar 2041, Uhrzeit 5:51

Das Sport- und Entspannungsprogramm hat sich erstaunlich positiv ausgewirkt, ich habe sechs zusammenhängende Stunden geschlafen und fühle mich wie neu geboren. Vermutlich habe ich diese Beobachtung bereits früher notiert, weil ich sie immer wieder mache – ich bin besser ausgeruht, wenn ich eine gerade Anzahl von Stunden geschlafen habe. Zum Beispiel 4, 6 oder 8 Stunden. Die ungeraden, also 5, 7 oder 9 Stunden, vertrage ich nicht so gut, dann komme ich einfach schlechter in die Gänge und werde oft den ganzen Tag nicht richtig wach. Liegt wahrscheinlich an den REM-Phasen oder so, aber was weiß ich schon. Werde heute Puzzle 37 vorbereiten und den Hausputz erledigen. Ist mächtig was liegen geblieben über die letzten Tage. Duschen sollte ich auch dringend, ich weiß gar nicht, warum mir die Körperpflege manchmal so schwer fällt, warum ich mich an manchen Tagen förmlich überwinden muss, mir die Zähne zu putzen oder das Haar zu kämmen. Sind das vielleicht schon Anzeichen einer Depression oder bin ich einfach nur träge und faul geworden? Steckt nicht in uns allen ein ungepflegter Höhlenmensch, der sich nach einem gemütlichen Schlammbad in der Sonne sehnt? Nach der Sonne sehne ich mich tatsächlich, aber lassen wir das… Uhrzeit 09:07, Nachtrag: Seltsame Geräusche an der Außentür des Bunkers. Ein dröhnendes Klopfen, laut und sehr kräftig, als wollte jemand oder ETWAS unbedingt herein. Aber da draußen kann doch niemand sein, oder? Habe ich Halluzinationen? Bilde ich mir die Geräusche nur ein, habe ich eine solche Sehnsucht nach Kontakt, dass ich sie herbeiträume? Ich muss endlich das verfluchte Periskop fertigstellen, das hat ab heute absolut oberste Priorität, ich darf nicht weiter blind hier unten hocken und auf das Beste hoffen. Uhrzeit 23:54 Nachtrag: Die seltsamen Geräusche haben sich noch weitere 2 Mal wiederholt, um 12:35 und um 18:05 Uhr. Wer auch immer dieses laute Klopfen verursacht, versucht offenbar in den Bunker zu gelangen. Ich würde lügen, wenn ich behaupte keine Angst zu haben. Ach, was soll das Gefasel – ich scheiße mir fast in die Hose! Wer oder was könnte den totalen Atomkrieg überlebt haben? Kriechen da draußen abscheulich verunstaltete Gestalten über die sterilisierte Welt, um in den Trümmern der Städte nach kläglichen Resten zu suchen, die sie zum überleben brauchen? Ziehen Horden verhungernder Mutanten über die gottverlassene Erde, blutgierig und halb wahnsinnig vor Schmerz? Halt, die Fantasie geht mit mir durch. Angst stellt die sonderbarsten Dinge mit meinem Gehirn an. Trotzdem, das Periskop muss zwingend fertig werden.Morgen nicht vergessen: Nicht verrückt werden!

Montag 18. Februar 2041, Uhrzeit 7:45

Ich habe kein Auge zugetan. Diesmal hat die Schlaflosigkeit allerdings einen konkreten Grund, das Klopfen hat mitten in der Nacht wieder begonnen und hört seitdem nicht mehr auf. Irgendjemand oder IRGENDETWAS will hier herein! Die Außentür ist zwar extrem stabil und auch die Innentür ist nicht ohne Weiteres aufzubekommen, aber ich werde trotzdem Vorbereitungen für eine direkte Konfrontation treffen müssen. So einfach bekommt ihr mich nicht, ihr verdammten Bastarde!  Uhrzeit 12:28, Nachtrag: Das Klopfen hat auch den ganzen Vormittag angehalten, erst vor wenigen Minuten ist es endlich ruhig geworden. Ich überlege die Außentür nach Schäden zu überprüfen, aber ich kann mich nicht dazu überwinden die Innentür zu öffnen. Drei Mal war ich schon kurz davor, aber sobald ich den Schlüsselbund in die Hand nehme und mich der Tür nähere, bekomme ich so ein seltsames Zittern am ganzen Körper, der Magen krampft, Schweiß bricht aus – ich kann es einfach nicht. Werde heute Nachmittag an der Verteidigung des Bunkers feilen, auch wenn ich lieber das Periskop weiter voranbringen würde, ich muss erst zwingend für meine Sicherheit sorgen. Uhrzeit 22:46, Nachtrag: Den ganzen Nachmittag wieder das Klopfen. Ohrenbetäubend laut und dröhnend. Kann mich gar nicht mehr konzentrieren, kein klarer Gedanke ist zu fassen, alles fließt chaotisch auseinander. Werde mich morgen zwingen (!) die Innentür zu öffnen, und sei es nur, um im Zwischengang Fallen aufzustellen. Morgen nicht vergessen: Unbedingt die Pflanzen gießen!

Dienstag 19. Februar 2041, Uhrzeit 7:48

Die Außentür ist aufgebrochen worden – die Eindringlinge sind in den Zwischengang vorgedrungen. Heute morgen um 7 Uhr erschütterte eine gewaltige Explosion den Bunker, es krachte und die Erde bebte, ich hatte panische Angst, dass mir der Bunker über dem Kopf zusammenbricht, obwohl ich es eigentlich besser wissen müsste. Jetzt schlagen sie heftig gegen die Innentür und ich könnte mich verfluchen, weil ich den Zwischengang nicht gestern schon vermint habe. Heute ist es zu spät und so wie es aussieht, wird es nur noch eine Frage von Stunden sein, bis sie hier drinnen sind. Aber ich werde es ihnen nicht leicht machen, oh nein! Meine Vorräte gibt es nicht kampflos abzustauben! Uhrzeit 13:15, Nachtrag: Dieses ständige Klopfen und Hämmern macht mich total mürbe – ich halte das nicht aus! Es dröhnt in meinen Ohren, vibriert in meinen Zähnen und mit jedem Schlag, der von außen gegen die Tür des Bunkers knallt, fühle ich mich verletzlicher, angreifbarer und ganz und gar hilflos. Ich hocke hier, völlig auf mich allein gestellt, bin bis an die Zähne bewaffnet und kann doch nur warten und hoffen…

Mittwoch 20. Februar 2041, Uhrzeit 15:30

Ich habe Frederick Zimmermann erschossen. Ich weiß gerade nicht wie ich es anders formulieren soll, also sage ich es lieber wie es ist: Ich hab’ den alten Freddy über den Haufen geschossen. Wie hätte ich aber auch wissen sollen, dass es ausgerechnet meine ehemaligen Nachbarn waren, die aus reiner Neugierde in den Bunker eingedrungen sind? Wie hätte ich bitte ahnen können, dass da oben alles noch beim Alten ist und sie alle dachten, ich wäre vor Jahren nach Amerika ausgewandert, ohne mich zu verabschieden? Aber ich erzähle besser der Reihe nach, denn es ist viel passiert. Gestern Abend, kurz vor 22:30 Uhr, gab die Innentür des Bunkers nach. Ich hatte mich in sicherer Entfernung verbarrikadiert und feuerte eine Ladung Schrot ab, sobald der erste Eindringling seinen hässlichen Schädel durch die aufgebrochene Türe schob. Sein Kopf platzte wie ein Ei in der Mikrowelle und ich hörte aus dem Zwischengang schreckliche Schreie, die mir seltsam vertraut erschienen. Stellt sich doch glatt heraus, der zerschossene Kopf gehörte meinem guten Bekannten Freddy Zimmermann. In seinem Schlepptau Adrian Müller, Thorsten Weber und Karsten Schröter, die alle hysterisch durcheinander schrieen wie aufgeschreckte Hühner und wer will es ihnen verdenken, immerhin hatte ich gerade ihren besten Freund mit meiner Schrotflinte enthauptet und der Anblick war nicht gerade angenehm. Fast hätte ich Adrian Müller auch noch erschossen, doch im letzten Moment hielt mich der Klang seiner Stimme zurück, er schrie und bettelte um sein Leben und da dachte ich nur bei mir: „Komisch, das Gejammer kennst du doch?“ – und so war es dann auch. Habe mich natürlich sofort entschuldigt und die Waffe aus der Hand gelegt, war ja ein schlimmes Missverständnis und da muss man die Größe besitzen seinen Fehler zuzugeben. Adrian Müller ist trotzdem ohnmächtig zusammengebrochen, aber der hat ja noch nie viel aushalten können. Und weil ich gerade dabei bin von Fehlern zu sprechen: es war wohl auch ein Fehler in den Bunker zu ziehen. Der Atomschlag ist nämlich nie passiert. Klar, es gab Krieg zwischen Indien und China und wenn ich meine alten Nachbarn richtig verstanden habe, war dieser auch kein Zuckerschlecken, aber die totale Vernichtung ist wohl ausgeblieben, die Erde dreht sich munter weiter. Ich war die letzten zwanzig Jahre praktisch umsonst in meinem Bunker. Karsten Schröter konnte sich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen und es hat nicht viel gefehlt, ich hätte ihn für seine Gehässigkeit erschlagen. Ich bin ziemlich frustriert, das muss ich zugeben. Die drei haben sich dann auch ziemlich zügig wieder verabschiedet. Den armen, alten Freddy haben sie natürlich mitgenommen, wobei Teile von ihm doch noch hier unten geblieben sind, an den Wänden und auf dem Boden verteilt. Ich hoffe, er nimmt es mir nicht allzu übel. Jetzt warte ich auf ihre Rückkehr, sie haben versprochen mich abzuholen und nach oben zu begleiten, sobald sie sich um den guten Fred gekümmert haben. Ich bin wirklich unsicher und weiß gar nicht zu sagen, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht…

© sybille lengauer

Brief an einen Sohn

Regen. Immer nur Regen. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich nichts als graue Wolkenberge und diesen gottverdammten Regen. Egal ob ich morgens, mittags oder abends nach draußen schaue, es regnet, regnet und regnet. ‚Wie soll man da keine Depressionen bekommen?‘, höre ich manchmal eine melancholische Stimme in meinem Hinterkopf fragen. ‚Indem man sich keine verfluchten Depressionen leisten kann!‘ , antworte ich dann meist und werde zornig. Ich weiß nicht ob es normal ist solche Streitgespräche mit sich selbst zu führen, aber was ist heutzutage schon normal? Es regnet seit siebzehn elenden Jahren, da fallen Selbstgespräche wohl nicht mehr ins Gewicht. Und wenn ich ehrlich bin interessieren Depressionen auch niemanden mehr, wahrscheinlich ist inzwischen die ganze Menschheit depressiv, würde mich zumindest nicht wundern. Trotzdem. Jeden Tag erneut, als ob ich es nicht besser wüsste, quäle ich mich aus dem Bett, statt platt auf der verschimmelten Matratze liegen zu bleiben und endlich aufzugeben, trete ans Fenster und starre hinaus in den Regen.
Und alles nur wegen ihr, dieser verlogenen Hure, die sich Hoffnung nennt. Ständig hoffe ich auf irgendetwas, als wäre das Hoffen eine Sucht. Ich hoffe, dass es endlich aufhört zu regnen, ich hoffe, dass mir dieses alte Haus nicht unter dem Arsch zusammenfällt, ich hoffe, dass ich endlich Nachricht von Dir erhalte, ich hoffe, dass ich hier nicht alleine sterben muss. Alles kreuzdumme und überflüssige Gedanken, weil ich auf nichts davon auch nur den geringsten Einfluss habe, und trotzdem bringen sie mich immer wieder dazu aufzustehen und weiter einen Schritt vor den anderen zu setzten. Hoffnung zwingt mich auf die Beine, treibt mich aus dem Haus und sorgt dafür, dass ich einen weiteren Tag ums Überleben kämpfe, wie eine Ratte in der Falle. Hoffnung lässt mich stundenlang in der Warteschlange vor der Wohlfahrtskantine ausharren, dicht gedrängt mit all den anderen Verdammten, die einfach nicht aufgeben können. Hoffnung bringt mich dazu jeden noch so widerlichen Fraß hinunterzuschlingen, den sie bei der Zuteilung für mich übrig haben. Hoffnung lässt mich zurückkehren in dieses morsche, vom Regen zerfressene Haus und erneut eine Nacht lang unruhig von vergangenen Zeiten träumen. Hoffnung lässt mich diesen Brief an Dich schreiben, obwohl ich nicht weiß, ob er Dich jemals erreichen wird. Bestimmt ist das fürchterlich naiv und dumm von mir, aber es ist ja auch naiv und dumm in dieser dunkelfeuchten Hölle am Leben zu hängen und trotzdem bin ich immer noch hier.
Geht es Dir gut, so hoch oben in den Bergen? Ist der Himmel dort so blau, wie Du es Dir erhofft hast? Kannst Du die Sonne sehen? Manchmal bekomme ich Panik bei dem Gedanken, dass ich sie nie mehr wiedersehen werde. Für immer Regen und Wolken wohin man schaut. Dann versuche ich mir vorzustellen, wie Du auf einem Gipfel stehst und die endlose Wolkendecke überblickst und meine Gedanken beruhigen sich wieder. Es ist gut, dass Du fortgegangen bist, Thomas. Hier unten gibt es keine Zukunft mehr. Du hast die richtige Entscheidung getroffen, auch wenn ich damals strikt dagegen war. Ich wollte Dich nicht verlieren! Als ich endlich begriffen habe wie egoistisch dieser Gedanke im Grunde war, konnte ich Dich auch in meinem Herzen ziehen lassen. Es tut mir leid, dass ich nicht früher dazu in der Lage war. Und wieder kann ich nur hoffen. Hoffen, dass du mir verzeihen kannst, dass ich versucht habe Dich aufzuhalten. So wie ich Dir verziehen habe, dass Du trotzdem davongelaufen bist. Es blieb Dir nichts anderes übrig, das verstehe ich jetzt.

© sybille lengauer

Das Foto vom Sunset upon Aurillac

Fremde, du kannst ein ganzes Leben ausfüllen in einer Stadt, von der ich noch nie gehört habe. Du kannst heranwachsen und eine Geschichte entspinnen, kannst deinen Charakter entfalten und groß werden in jener Stadt, deren Namen ich nicht kenne. Du kannst ein Elternhaus haben, kannst eine Schule besuchen, kannst einen Hamster besitzen und ihn Brokkoli nennen. Du kannst eine Ausbildung machen oder weiter studieren, kannst gute Freunde gewinnen, sie aus den Augen verlieren. Du kannst spätnachts krakeelend um die Häuser ziehen, oder zuhause bleiben und einen Birnentoast backen. Du kannst dir das Herz brechen lassen, kannst deinen Kummer ertränken, kannst das Leben hassen und doch lieben, kannst zum Mond heulen und im Herzen etwas härter werden in einer Stadt, die mir unbekannt ist. Du kannst deine Haarfarbe wechseln, kannst dir die Beine rasieren, du kannst überteuerte Ratgeber kaufen und schwören ein neuer Mensch zu werden. Du kannst dich beruflich neu ordnen, kannst steile Karriere machen oder durchhängen, bis nichts mehr weitergeht. Du kannst Tragödien durchleben, kannst Verluste verkraften, kannst das Schicksal täglich fordern oder die Tage treiben lassen in jener Stadt, von der ich nichts weiß. Du kannst Eindrücke sammeln, kannst Risiken bestehen, du kannst verrückt werden, weil du die Welt nicht erträgst. Du kannst Familie haben, kannst dich im Kinderlachen wiederfinden oder einsam langsam grau werden, ganz so wie die Würfel fallen. Du kannst deine Heimatstadt lieben, oder du kannst sie verachten, aber bitte, mach noch ein Foto, von diesem Ort, den ich nicht kenne.
Mach ein Foto vom Sunset upon Aurillac.

© sybille lengauer

Achtundsechzig

Veröffentlicht: Februar 13, 2020 in Geschichten oder so ähnlich
Schlagwörter:,

Achtundsechzig

Da lagen wir also und rissen schlechte Witze über den Krebs. Wahrscheinlich, um flüsternde Ängste zu besiegen. Vielleicht aber auch, weil wir es konnten. Sie, weißer Hautkrebs. Ich, Schilddrüsenkarzinom. Wir beide, kurz vor der Operation und definitiv High von der „Alles-Egal-Pille“, die man uns zur OP-Vorbereitung gegeben hatte. Zwei erwachsene Frauen von ganz unterschiedlicher Herkunft und Geschichte, die das Zufallsrad des Lebens zu Krebskumpaninnen im Krankenzimmer gemacht hatte und die sich nun mit schwarzem Humor die Zeit vertrieben.
Wir lästerten gerade episch über den verdammten Sechser im Krebslotto, der uns aus heiterem Himmel in den Schoß gefallen war und gackerten wie Teenager über Murphys Gesetzt, als sich die Tür öffnete und eine dritte Patientin ins Zimmer geführt wurde. Große Ernsthaftigkeit umgab ihre gebeugte Person, ihr Gesicht drückte Schmerz und Verbitterung aus und es folgte ihr eine Stille, die die Seele berührte. Sie setzte sich umständlich auf das freie Krankenbett, rückte ihren weiten Bademantel zurecht und begann damit, der Krankenschwester Anweisungen zu diktieren, wie der externe Waschraum vorzubereiten sei, damit sie „dejektieren“ könne. Ich wusste mit dem Wort nichts anzufangen, erfasste jedoch, dass es sich um keinen angenehmen Vorgang handelte. Ich sah die schmerzerfüllte Schwere ihrer Bewegungen und die unnatürliche Färbung ihrer Haut, ich hörte den ungeduldigen Ton in ihrer Stimme und fühlte diffusen Respekt vor einer Situation, die ich nicht verstand. Kurze Zeit später verließ die Krankenschwester das Zimmer und eine Ordensschwester in dunkelblauem Habit betrat den Raum, anscheinend hatte sie im Flur gewartet, nun ging sie zügig ans Bett der alten Dame und setzte sich in einen Besuchersessel. Ich war neugierig, erwartete Gebete oder salbungsvolle Worte, doch die Frauen sprachen in vertrautem Ton über die unzähligen Operationen, die bereits hinter der gequälten Patientin lagen. Siebenundsechzig Operationen hatte sie nun schon durchgemacht und es sah nicht danach aus, als würde die achtundsechzigste endlich die letzte sein. Die alte Dame sah während des Gespräches mit leerem Blick aus dem Fenster, ihren Worten entströmte tiefe Resignation, die den Raum bis zum Ersticken füllte. Ich lag bedrückt in meinem Krankenbett, fühlte mich betroffen und grün hinter den Ohren, wie ein dummes Schulmädchen. Es war ein Gefühl, als wäre ich im Meer zu weit nach Draußen geschwommen und plötzlich über einen gewaltigen Abgrund geraten, den ich zwar nicht sehen, aber umso besser fühlen konnte. Über mir noch der strahlend blaue Himmel. Doch tief, tief unter mir, Finsternis, Kälte und Tod. Ich tauschte unsichere Seitenblicke mit Weißer Hautkrebs, die still in ihrem Bett lag und sehr blass geworden war. Und ich spürte die Angst, die nun kein leises Flüstern mehr war, sondern eine laut tosende Bedrohung, die nach desinfizierter Hoffnungslosigkeit und langsamem Sterben roch.

© sybille lengauer

Wo soll uns das alles noch hinführen?

Am Ende einer unscheinbaren Sackgasse unseres Dorfes steht, vom blassen Schein einer alten Straßenlaterne beleuchtet, ein kleiner, gelber Schaufelbagger. Seine Schaufel stützt sich schwer auf den asphaltierten Boden, als hätte er sie, erschöpft von den Mühen des Tages, zum Schlafen dort abgelegt. Sein leeres Führerhäuschen weist aus dem Dorf hinaus, auf kahle Büsche und Bäume, die in diesem ewigen Herbst, der nicht Winter werden will, ihre Blätter dem gefräßigen Wind geopfert haben. In manchen Nächten leistet ihm ein verbeulter Metallcontainer schweigsame Gesellschaft, doch meist steht der kleine Bagger ganz allein im Licht der alten Laterne und manchmal spaziere ich spätabends vorbei, um ihm dabei zuzusehen. Über uns, im regnerischen Wolkenhimmel, reißt der Wind dann vielleicht eine Lücke auf. Zeigt sich, mit etwas Glück, der unermüdlich jagende Orion und ich denke dann bei mir, dass es ein verdammt langer Weg ist, von diesem winzigen Schaufelbagger, hin zu den gewaltigen Sternen. Doch schon im nächsten Augenblick weht der Wind neue Wolkenberge heran und es bleibt, tief unter ihnen begraben, nicht viel mehr übrig, als der einsame Schaufelbagger und meine diffuse Sehnsucht nach den Sternen. Und ich frage mich, ob er nicht doch genauso froh ist wie ich, wenn Morgen die Sonne wirklich wieder aufgehen will.

© sybille lengauer

Jessica

Veröffentlicht: Januar 7, 2020 in Geschichten oder so ähnlich
Schlagwörter:, ,

Jessica

Heute Morgen ist die kleine Jessica gestorben. Auch wenn uns allen bewusst war, dass dieser Moment unausweichlich kommen würde, herrscht seither betroffenes Schweigen. Wir wollen nicht sprechen, können nicht denken, müssen trotzdem weitermachen. Irgendwie, auch wenn die Richtung fehlt. Ganz dumpf bin ich geworden, innen wie außen. Als hätte sich jemand in meine Seele geschlichen und heimlich das Licht gelöscht. Nirgendwo ist ein Ausweg in Sicht. Nur alles erdrückende Traurigkeit. Ich würde gerne Jessicas Lebensgeschichte erzählen, aber ich kenne nur jene wenigen Tage, die sie mit uns hier im Luftschutzbunker verbracht hat. Manchmal stöhnend oder leise wimmernd. In fiebrigem Delirium gefangen. Ihre halbgeschlossenen Augen, deren verhangener Blick nicht mehr in der Lage war ein Ziel zu fokussieren. Ihre kleinen Hände, schweißnass und gelblich verfärbt, die in den Falten der zerlöcherten Decke nach Geborgenheit suchten. Jessica konnte nicht mehr von ihrem Leben vor dem Krieg erzählen, also stelle ich mir vor, dass sie in einem hübsch eingerichteten Häuschen im Vorort der Stadt wohnte. Mit glücklich verheirateten Eltern und liebevollen Geschwistern. Mit einem bunten Hund, der gerne die Katze des Nachbarn auf Bäume jagte und einem wuchernden Kräutergarten, in dem Schmetterlinge nektartrunken um blühenden Lavendel taumelten. Ich stelle mir vor, wie Jessica in diesem Häuschen lachte und lebte, um zu vergessen, dass sie nun tot in unserem Lagerraum liegt. Ich habe ihr Lachen nie gehört. Bestimmt war es glockenhell und unbelastet von den eiskalten Strömungen der realen Welt, die sie schließlich gnadenlos mit sich rissen und in die hilflosen Hände unserer Gruppe spülten. In meinen Gedanken lernt Jessica ein silbernes Fahrrad zu fahren, sie backt Muffins mit Blaubeeren oder spielt ausgelassen im Garten mit dem Hund. Der Himmel über ihrem Kopf ist immer strahlend blau, weil immer Sommer ist. In meinen Gedanken ist der Krieg kein Teil der Gleichung. Ist der Tod nicht mehr als ein leises Flüstern im kniehohen Gras.
Ich weiß nicht einmal, ob ihr Name wirklich Jessica war.

© sybille lengauer