Archiv für die Kategorie ‘Kurzgeschichten’

Heinrich

Wenn du den Leuten erzählst, dass du von Beruf Barkeeper bist, denken die meisten sofort du würdest nur nächtelang hinter irgendeinem schummrig beleuchteten Tresen lehnen, gelegentlich ein wenig Alkohol ausschenken und endlos Gläser polieren. Sie stellen sich vor, deine Hauptaufgabe bestünde darin besoffenen Vollversagern zuzuhören, die ihr Herz ausschütten und ihr Bewusstsein zuschütten wollen und ihnen das Geld mit überteuerten Cocktails aus der Tasche zu ziehen. Irgendwie kommt ihnen nie in den Sinn, dass der Beruf des Barkeepers ein echter Knochenjob ist: die langen, langen Nachtschichten im Stehen (hast du schon mal einen Barkeeper gesehen, der sich während der Arbeit hingesetzt hat?), die Dauerbelastung durch denn gottverdammten Lärm und der anhaltende Stress (hast du schon mal einen Landfrauen-Kegelverein zu Gast gehabt, während gleichzeitig zwei Junggesellenabschiede und eine Geburtstagsfeier stattfinden?), früher kam noch der Rauch von hunderten Zigaretten hinzu, dafür bläst dir heutzutage ständig irgendeine blöde Klimaanlage den Nacken steif – all das erträgst du mit einem Lächeln im Gesicht und einem flotten Spruch auf den Lippen, denn ein schlecht gelaunter Barkeeper macht kein Geschäft und ist bald ein arbeitsloser Barkeeper. Von der seelischen Belastung dieser gute-Laune-Diktatur, von den Bandscheibenvorfällen und entzündeten Gelenken, den Krampfadern und chronischen Hämorrhoiden will ich gar nicht erst anfangen, doch all das sehen die Leute nicht, wenn du ihnen erzählst, dass du Barkeeper bist, sie sehen nur ein Klischee, das sich in ihren Köpfen festgesetzt hat und das genügt ihnen schon. Aber vielleicht muss das ja so sein, vielleicht sehen wir ständig nur die Klischees der Begriffe, ohne sie jemals wirklich wahrzunehmen, sehen immer nur die fadenscheinige Kulisse, ohne dahinter schauen zu wollen. Darum halten wir anzugtragende Bankiers für schlau und kopftuchtragende Putzfrauen für dumm und Barkeeper eben für so etwas wie das Inventar einer Bar, ein mobiler Getränkespender mit Puls, gesichtslos und zur erleichterten Handhabung mit einem Namensschild versehen, auf dem nur der Vorname steht: ‚Es bedient Sie Roberto‘ und alles wird gut. Und vielleicht ist es richtig, sich nicht allzu sehr für sein Gegenüber zu interessieren, da wir ja allesamt, ganz nach Klischee, unser Päckchen zu tragen haben und wo kämen wir da hin, wenn sich jeder ständig für die Lebenszustände des anderen interessieren und sogar noch verantwortlich fühlen müsste? Wir würden aufgerieben werden und schließlich den Verstand verlieren, so wie diese armen Irren, die sich die Schädel kahlrasieren und auf der Straße Umarmungen für Krishna verteilen oder was weiß ich – oder wir würden Tag und Nacht Tränen vergießen ob der schieren Ungerechtigkeit der Welt und unseres Lebens nicht mehr froh.

Heinrich war so ein erzsentimentaler Typ, auch wenn man das aufgrund seiner grobschlächtigen Erscheinung nicht vermutet hätte. Er sah aus wie ein brutaler Fleischhauer oder ein minderbemittelter Straßenboxer, du weißt schon, mit einer zerquetschten Blumenkohlnase im hässlichen Gesicht, mit winzigen Äuglein, wulstigen Lippen, einem gedrungenen, tonnenförmigen Körper, der zu gleichen Teilen aus festem Muskelfleisch und hartem Fett zu bestehen schien und abnorm riesigen Händen, die wie deformierte Klodeckel aussahen. Die fadenscheinige Kulisse seines abstoßenden Äußeren wies ihn als brutalen Wüstling aus, doch dahinter steckten ein wacher Verstand und ein butterweiches Herz, das an der Welt zu zerbrechen drohte. Nie im Leben wäre man auf den Gedanken gekommen, dass Heinrich ein erfolgreicher Privatdetektiv war und genau darin bestand wohl sein großer Vorteil, man unterschätzte ihn mit grausamer Beiläufigkeit, sofern er überhaupt wahrgenommen wurde, denn Heinrich konnte, wenn er wollte, so unauffällig sein wie eine tote Ratte im Rinnstein, man bemerkte ihn erst, wenn man fast auf ihn trat. Ich möchte wetten er hätte sein brutales Aussehen liebend gerne gegen eine attraktivere Erscheinung eingetauscht, aber das Leben ist eben kein Wunschkonzert und so machte er das Beste aus seinen verborgenen Talenten, er wurde nicht Fleischhauer, er wurde nicht Straßenboxer, er wurde ein gut bezahlter Schnüffler, der untreuen Ehepartnern nachspionierte, hinterfotzigen Betrügern das Handwerk legte oder vermisste Personen ausfindig machte, nachdem die Polizei schon lange aufgehört hatte nach ihnen zu suchen. Heinrich betonte mehrfach, dass er über lange Jahre große Befriedigung aus seinem Beruf gezogen hatte, der eigentlich vielmehr einer Berufung als einer normalen 0815-Beschäftigung gleichkam. Er steckte sein Herzblut in jeden einzelnen Fall und war erst dann zufrieden, wenn auch seine Klienten zufriedengestellt waren (was ihm erstaunlich häufig gelang, er war wirklich verdammt gut in seinem Metier und das sage ich nicht nur, weil er ein feiner Kerl war. Ich kenne eine Menge Leute. Ich habe mich umgehört.). Im Grunde hatte er sich recht behaglich in seinem Leben eingerichtet, auch wenn er manchmal, in einem melancholischen Moment, den Sinn seiner Existenz hinterfragte und besoffen vor Weltschmerz den Mond anheulte – wer tut das nicht, von Zeit zu Zeit? Seine grundsätzliche Lebenseinstellung war jedenfalls positiv, bis er über den einen Auftrag stolperte, der ihm das Genick brechen sollte, jenen Fall, der ihn zu einem gebrochenen, tieftraurigen Menschen machte, den die undurchsichtige Strömung des Zufalls schließlich an meinen alkoholgetränkten Arbeitsplatz spülte: Das Verschwinden der vierzehnjährigen Cindy Nabicht.

Heinrich tauchte eines Abends an meinem Tresen auf; wie so viele Gäste davor und danach grüßte er mit einem knappen Kopfnicken und verlangte, ganz altbacken, nach Bier und einem Doppelten. Ich erwiderte den Gruß, servierte das Gedeck und nahm unauffällig Maß, sah er doch wie ein fieser Schläger aus dem Bilderbuch aus, der Ärger und zerbrochenes Mobiliar versprach – doch irgendetwas an seiner Ausstrahlung ließ mich zügig erkennen, dass von diesem ungeschlachten Kerl keinerlei Gefahr zu erwarten war, es wirkte vielmehr, als habe sich die personifizierte Traurigkeit an meinen Tresen gesellt, ein Sorgentropf mit Mördervisage, der nur in Ruhe seinen Kummer ertränken wollte. Ich beachtete ihn also nicht weiter als nötig, versorgte nur seinen Durst regelmäßig mit Nachschub und ließ ihm seinen Frieden, denn traurige Trinker soll man nicht unterbrechen. Außerdem hatte ich ordentlich zu tun, der Laden war, wie so häufig, bis auf den letzten Zentimeter vollgestopft mit Gästen. Erst als sich die Nacht dem Ende neigte und nur noch wenige Ausdauertrinker die Bar bevölkerten, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf jenen vierschrötigen Klotz, der still auf einem Barhocker saß, sich mit schier mechanischer Präzision betrank und dabei wirkte wie ein einziges elendes Seufzen. Ich überlegte, ob und wie ich ihn ansprechen sollte, doch noch bevor ich einen passenden Spruch aus meinem reichhaltigen Konversations-Potpourri hervorkramen konnte, richtete er seine kleinen Äuglein auf mich und schüttelte andeutungsweise den Kopf. Ich verstand und hielt die Klappe, stellte nur ein weiteres Gedeck vor ihm ab und trollte mich wieder, ich zwinge niemandem ein Gespräch auf, so einer bin ich nicht. Meine Reaktion schien ihm zu gefallen, er gab später ein großzügiges Trinkgeld, bevor er mit mächtig Schlagseite aus der Bar hinaus wankte. Am nächsten Abend, kurz nach der Happy Hour, war er wieder da, bestelle Bier und einen Doppelten und das Spiel begann von vorn. Drei Wochen lang ging das so, Heinrich tauchte am Tresen auf und nickte zur Begrüßung, trank die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen und verschwand, ohne einen Satz gesprochen zu haben, selbst seine immergleiche Bestellung brauchte er nicht mehr zu artikulieren und darüber zeigte er sich hochzufrieden, das Trinkgeld war regelmäßig reichlich und Heinrich avancierte bald zu meinem liebsten Stammgast, er verursachte keinen Ärger, stand niemandem im Weg und trank in beachtlichen Mengen, hätte ich mehr Gäste wie ihn, ich wäre tiefenentspannt wie der adipöse Kater meiner noch adipöseren Vermieterin, der den ganzen Tag nur faul in der Sonne herumliegt und die Fliegen an der Fensterscheibe beobachtet.
Eines frühen Morgens, als ich bereits die helle Deckenbeleuchtung eingeschaltet hatte, die selbst die hartnäckigsten Irrlichter hinaus auf die Straße treibt, brach es plötzlich aus Heinrich heraus und er begann zu reden. Hart und schnell, es hatte den Anschein, als wollten die Worte, die sich über die Wochen hinter seinen unschönen Lippen aufgestaut hatten alle auf einmal ausgespuckt werden, sie drängten hervor und reihten sich im Stakkato aneinander, ganz ohne Punkt und Komma. „Ich hätte ihn fast getötet“, begann er und ich hielt erstaunt in meiner Abrechnung inne und fragte mich, ob ich richtig gehört hatte, doch Heinrich achtete nicht auf meine Reaktion, sondern redete einfach weiter. „Ich hätte ihm fast das Licht ausknipst, dabei ist er doch auch nur ein armer, alter Trottel, der es nicht besser weiß, oder nicht? Er hat sie abgöttisch geliebt und wollte nur das Beste für sie und jetzt muss er mit der Schuld leben, auch wenn er das heute noch nicht einsehen kann, nicht einsehen will. Er hat sie dazu getrieben, seine Ignoranz hat sie in den Tod getrieben, aber wir alle tragen Mitschuld an diesem elenden Zustand, weil wir alle verantwortlich sind für den Zustand unserer Gesellschaft und das müssen wir akzeptieren, oder nicht?“ Er schaute mir ganz unvermittelt in die Augen und ich zuckte vielleicht ein bisschen zurück, als ich den überwältigenden Schmerz in ihnen lodern sah, ich wusste nicht mehr zu antworten, als mit einem nichtssagenden Schulterzucken zwei Bier zu zapfen, eines stellte ich vor ihm ab, das andere war für mich, ich prostete ihm zu, er seufzte und trank in langen Schlucken, dann kramte er sein Portemonnaie hervor, legte einen großzügigen Betrag auf den Tresen und ging, ohne noch etwas zu sagen.

Tagelang keine Spur von Heinrich. Ich ärgerte mich nicht wenig, weil ich fürchtete, ihn mit meiner spärlichen Reaktion vergrault zu haben und fragte mich insgeheim, ob er sich vielleicht das Leben genommen hatte, sein Blick war so unbeschreiblich schmerzerfüllt gewesen, es hätte mich nicht groß gewundert, wenn er sich den Strick genommen hätte, vor meinem geistigen Auge sah ich ihn schon baumeln. Wäre nicht der erste Gast, den ich an die große Traurigkeit verlor, Selbstmord kommt in den besten Familien vor, oder wie heißt das noch schnell? Doch eine Woche später, kurz nach der Happy Hour, war Heinrich wieder da, stellte sich an den Tresen und grüßte mit einem knappen Kopfnicken, so als wäre nichts gewesen. Das sehr wohl etwas gewesen war, erkannte ich an seinem verwahrlosten Äußeren, sein Hemd war dreckig und zerknittert und hing vorne aus der Hose, die Hose selbst war mit dunklen Flecken übersäht, Heinrich sah aus, als hätte er im Rinnstein gelegen und vielleicht hatte er das auch, wer konnte das schon wissen. Sein Gesicht wirkte verquollen, die Haut wächsern und bleich, seine kleinen Augen waren unter dicken Augenringen zu winzigen Punkten geschrumpft und all das wurde umrandet von einem stoppeligen Drei-Tage-Bart, der ihn noch ungepflegter und bedrohlicher erscheinen ließ. Ich servierte sein übliches Gedeck und bemühte mich, ihn nicht allzu intensiv anzustarren, doch er schien meinen Blick trotzdem zu bemerken, denn er runzelte zerknirscht die Stirn und stopfte sich das Hemd in die Hose. Ich stellte ihm daraufhin einen weiteren Doppelten hin, sagte in ruhigem Ton „geht auf’s Haus“ und zog mich wieder zurück, immerhin wollte ich ihn nicht wieder verschrecken, sondern nur meine Sympathie ausdrücken, ohne überheblich zu wirken. Heinrich verstand die Geste, schien sich sogar darüber zu freuen, ein kurzes Lächeln huschte über sein abstoßendes Gesicht, doch dann wurde es schnell wieder finster, die Schwermut drückte seine Mundwinkel herunter und es war, als hätte es nie ein Lächeln gegeben.
Heinrich fand schnell wieder in seinen alten Rhythmus, er trank mit stiller Entschlossenheit und ignorierte den ausgelassenen Trubel, der an allen Ecken gegen die Bar brandete, bis die Gäste schließlich immer weniger wurden und so etwas wie Ruhe einkehrte, nur unterbrochen von den gelallten Unterhaltungen der wenigen Hartgesottenen, die bis zuletzt nicht nach Hause gehen wollten. Ich hielt mich unauffällig in Heinrichs Nähe auf und wartete gespannt, ob er so kurz vor der Sperrstunde wieder Redebedarf zeigen würde, ich war neugierig, das muss ich offen zugeben und ich bin nur selten neugierig, denn die meisten Geschichten hast du schon einmal zu of gehört, wenn du längere Zeit in meinem Job bist, das ist wie bei Taxifahrern und Friseuren, wir haben alle schon alles gehört, mindestens vierzig Stunden die Woche, für viel zu wenig Lohn. Aber Heinrich hatte so etwas an sich, ich kann es nicht näher beschreiben, es war nicht zu greifen, nicht zu erklären, aber es machte ihn interessanter als die meisten Menschen, mit denen ich in meinem Leben zu tun hatte. Ich hoffte also, dass er wieder ein Gespräch beginnen würde, forderte es sogar heraus, indem ich ab und an versuchte Blickkontakt herzustellen und tatsächlich hatte ich Glück, Heinrich erwiderte meinen Blick und etwas sagte mir, dass er nun soweit war, er wollte endlich loswerden, was ihn so sehr belastete. Ich sorgte also dafür, dass wir ungestört waren, zapfte zwei Bier, kramte den letzten verbliebenen Aschenbecher aus der großen Schublade, der aus nostalgischen Gründen das große Rauchverbot überstanden hatte, umrundete den Tresen, zog einen Hocker heran und setzte mich neben Heinrich. Ich bot ihm eine Zigarette an, wir rauchten und beobachteten den Zigarettenrauch, der die verlassene Bar in verschlungene Nebel tauchte und ich fühlte so etwas wie Verbundenheit mit diesem unansehnlichen Kerl, der sich nun endlich namentlich vorstellte und mir ganz altmodisch die Hand schüttelte, so als wären wir einander offiziell bekannt gemacht worden.
Das Gespräch kam erst nur stockend in Gang, Heinrich erzählte in sprunghaften Anekdoten von seinen Erfahrungen als Privatdetektiv, ich plauderte daraufhin auch ein wenig aus dem Nähkästchen und gab ein saftiges Geschichtchen zum Besten, um die trübe Stimmung aufzulockern, doch es war als würde man versuchen einen Ziegelstein zu unterhalten, Heinrich hörte zwar zu, doch er zeigte keinerlei Emotion, nicht einmal ein Schmunzeln war ihm zu entlocken. Ich hörte also auf ihn unterhalten zu wollen und hörte lieber zu, was er zu sagen hatte, auch wenn es schwierig war einen roten Faden zu entdecken, ich dachte, dass er irgendwann schon zum Punkt kommen würde und ließ ihm die Zeit, die er brauchte. Wir rauchten und tranken, Heinrich erzählte und ich hörte zu, Zeit verging ungemessen und es fühlte sich bald an, als säßen wir seit unendlichen Stunden an der Bar, zeitlos ins Gespräch vertieft, zwei undurchschaubare Gestalten, die sich langsam annäherten. „Ich liebe meinen Beruf“, sagte Heinrich schließlich und ich nickte zur Bestätigung und hob das Glas an die Lippen. „Ich liebe meinen Beruf“, wiederholte er mit Nachdruck, „aber ich kann nicht mehr. Es geht einfach nicht mehr.“ Er ließ den Kopf hängen und seufzte schwer, ich trank schweigend und wartete ab, wie es weitergehen würde. „Es ist alles so sinnlos geworden“, murmelte Heinrich und ich wusste, wir waren nun kurz davor den Kern seines Kummers zu ergründen. „Was ist denn passiert?“, fragte ich möglichst neutral, um nicht aufdringlich zu erscheinen und endlich begann Heinrich zu erzählen.
„Es fing an wie ein ganz normaler Auftrag. Eine vermisste Person, weiblich, minderjährig, soziale Unterschicht, der Vater alleinerziehend. Wahrscheinlich eine Ausreißerin, also nichts, was die Polizei auch nur einen Furz lang interessieren würde und genau so verhielten die sich auch, eine ordentliche Suchaktion gab es nicht, nur ein bisschen Papierkram wurde aufgehäuft und damit war die Sache aus offizieller Sicht erledigt. Für Cindys Vater war allerdings gar nichts erledigt, er war überzeugt, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war und die Untätigkeit der Polizei versetzte ihn in hilflose Wut. Also engagierte er mich, nachdem er sich in den entsprechenden Kreisen umgehört hatte und obwohl er wusste, dass mein Honorar nicht billig war, war er fest entschlossen den Besten zu engagieren. Auch wenn ich eigentlich nicht zum Protzen neige, ich bin eben wirklich gut in meinem Beruf. Also kam Thomas Nabicht an einem verregneten Vormittag in mein Büro, legte ein großes Bündel Geldscheine auf den Tisch und verlangte, dass ich seine vermisste Tochter aufspüren sollte, tot oder lebendig, nur finden sollte ich sie und ich verstand, dass er damit nicht auf die alten Suchplakate im Western anspielte, sondern nur sehr ungeschickt die Befürchtung ausdrückte, dass Cindy nicht mehr am Leben war. Ich akzeptierte den Fall, vielleicht weil der Vater mir leid tat, vielleicht weil ich gerade nichts spannenderes zu tun hatte, ich kann es nicht mehr mit Sicherheit sagen. Hätte ich nur die Finger davon gelassen, aber hinterher ist man ja immer klüger, nicht wahr? Also begann ich die üblichen Fäden zu ziehen, ich erkundigte mich an den gängigen Orten, an denen sich die Jugendlichen aus ihrer sozialen Schicht regelmäßig trafen, befragte ihre Freundinnen und Schulkolleginnen, kontaktierte einige Bekannte, die in der Ausreißer-Szene unterwegs waren, Streetworker, Zuhälter und alles dazwischen. Ich bohrte und grub und bald schon kristallisierte sich die Erkenntnis heraus, das Cindy ein lebenslustiges und humorvolles Mädchen war, das gut in der Schule zurechtkam, einen stabilen Freundeskreis hatte und generell wenig Gründe, plötzlich Hals über Kopf davonzulaufen. Stattdessen schälte sich aus den vielen Gesprächen ein Name hervor, den die Polizei bei ihrer nachlässigen Suche sicherlich nicht zu hören bekommen hatte, genau wie die Tätigkeit, die mit dem Namensträger in Verbindung stand. Es handelte sich um einen berüchtigten Engelmacher, ich glaube, so nennt man diese Leute mittlerweile wieder, in seinem früheren Leben war er Krankenpfleger in einem Seniorenheim, jetzt nahm er illegale Schwangerschaftsabbrüche vor, die manchmal auf fatale Weise endeten. Mich beschlich ein mulmiges Gefühl, ich dachte tatsächlich daran den Fall zu beenden oder an einen Kollegen abzutreten, denn die Richtung, in die sich das alles entwickelte, gefiel mir immer weniger, doch mein Berufsethos zwang mich weiterzumachen, auch wenn mir von Tag zu Tag mehr das Lachen verging, ich fühlte mich auf eine verquere Art verantwortlich und das auf mehreren Ebenen und nicht nur, weil ich das Geld des Vaters angenommen hatte. Ich war damals gegen das verdammte Gesetz der Konservativen, das Abtreibung wieder zu einer Straftat erklärt hat, ich wusste genau, was das für viele Frauen und Mädchen bedeuten würde, aber weder bin ich wutentbrannt auf die Straße gegangen, noch habe ich mich sonst irgendwie engagiert, ich habe das Gesetz nur, wie so viele, still missbilligt und das bedaure ich bis heute zutiefst. Es ist eine Schande, wie viel Leid dieses kurzsichtige Verbot in den letzten Jahren angerichtet hat, es ist in meinen Augen ein absolutes Verbrechen an den Frauen, das wir tatenlos mitansehen. Wir alle tragen Schuld, wir haben als Gesellschaft versagt, jeder einzelne von uns hat versagt und damit sind wir auch allesamt schuld am Tod von Cindy Nabicht.
Cindy war bei einem One-Night-Stand ungewollt schwanger geworden, vielleicht gab es einen Unfall und das Kondom war gerissen, vielleicht hatte sie in ihrem jugendlichen Übermut auch ganz auf Verhütung verzichtet, es ist egal, auf welche Art das Unglück bei der Tür hereinkommen konnte, wichtig war nur das Ergebnis und das sollte ihr restliches Leben beeinflussen. Cindy war vierzehn Jahre alt, ohne ordentlichen Schulabschluss und mit einem Baby als Ballast wäre sie jeglicher Perspektive beraubt, die ohnehin geringe Aussicht auf ein besseres Leben wäre für immer dahin und so blieb aus ihrer Sicht nur ein möglicher Ausweg und der hieß illegale Abtreibung. Cindy bezahlte diese Entscheidung mit ihrem Leben und ich kann mir nicht vorstellen – ich will mir nicht vorstellen – wie groß ihr Leid in den letzten Minuten gewesen sein muss, wie groß die Angst. Sie verblutete in einem dreckigen Hinterzimmer, während ein unfähiger Ex-Krankenpfleger mit seinen widerlichen Gerätschaften in ihr herumstocherte und ich kann nur hoffen, dass sie unter Betäubung stand, genau wissen kann ich es nicht, denn eine konkrete Aussage habe ich diesbezüglich natürlich nicht aus dem Schweinehund herausholen können. Als er endlich bemerkte, dass die Kleine tot war, hat er sie bis zur Nacht in eben diesem Hinterzimmer unter einem Haufen alter Decken und Kartons verborgen und einfach sein Tagwerk weitergemacht, als wäre nichts gewesen, später hat er die Leiche aus der Stadt geschafft und in einem Weiher versenkt, ich habe die Stelle schließlich gefunden, aber von Cindy war nicht mehr viel übrig nach all den Monaten. Und was macht der Vater, dieser irre Idiot? Leugnet erst, dass seine Tochter jemals Schwanger gewesen sein könnte und entzieht mir den Auftrag unter großem Geschrei, nur um zwei Tage später dem Engelmacher aufzulauern und ihm ein Messer zwischen die Rippen zu stecken. Ich hätte ihn erschlagen können und beinah hätte ich es auch getan, denn ich fand ihn noch vor der Polizei und stellte ihn zur Rede, aber es war nicht mehr viel mit ihm anzufangen, er hatte völlig den Verstand verloren und faselte nur noch von seiner Ehre und der Ehre seiner Tochter, die es wiederherzustellen gelte. Dabei hat dieser hohle Wertekatalog von Ehre und Reinheit und all dem Mist sie doch gerade erst in den Tod getrieben, aber das verstehen die Thomas Nabichts dieser Welt nicht, oder vielleicht immer erst dann, wenn es zu spät ist.“
Heinrich atmete schwer, in seinen kleinen Augen glänzten Tränen und seine riesige Klodeckelhand zitterte, als er das Bierglas anhob, um zu trinken. Er sah mitgenommen aus und auch mich hatte die Geschichte nicht unberührt gelassen, auch wenn es im Grunde ein übliches Familiendrama war, wie man es immer wieder in den Nachrichten hört, die Tochter tot, der Vater ein Mörder, nichts ist mehr, wie es vorher war und doch ist es nur eine Geschichte von vielen, an die sich bald kein Mensch mehr erinnert. Doch für Heinrich war es der berühmte Tropfen, der das Faß zum überlaufen brachte und sein geordnetes Weltbild wanken ließ, bis es schließlich über seinem Kopf zusammenkrachte und ihn unter sich begrub. Er war ausgebrannt, hatte sich emotional aufgerieben an einer Tragödie, deren Verlauf er nie hätte ändern können und nun saß er hier und betrank sich, um den Schmerz zu vergessen, der ihn aufzufressen drohte. Ich drückte meine Anteilnahme aus, aber mir war klar, dass es Heinrich nie um mein Mitgefühl gegangen war, ihm lag nur daran, sich endlich von der Seele zu reden, was ihn so sehr belastete und ich war eben der geeignete Empfänger. Ich verstand instinktiv, dass ich meine Aufgabe erfüllt hatte und nun nichts weiter blieb, als diesem gebrochenen Menschen die Hand zu drücken und ihm alles Gute zu wünschen, auch wenn das vielleicht dämlich klingen mag, in diesem Moment, an diesem Ort war es richtig. Heinrich drückte meine Hand in freundschaftlicher Wärme, dann rutschte er bedächtig vom Barhocker, kramte einige zerknitterte Geldscheine aus seinen Hosentaschen und stapelte diese auf dem Tresen zu einem schiefen Häufchen. „Das ist der Rest vom Nabicht-Honorar. Ich will es nicht mehr. Stimmt so“, sagte er mit düsterem Gesichtsausdruck und wandte sich zum Gehen, doch nach wenigen Schritten blieb er stehen und drehte sich noch einmal nach mir um. „Danke für alles“, sagte er leise, aber gut hörbar, dann ging er und kam nicht wieder.
Ein paar Monate später hat er tatsächlich zum Strick gegriffen, ich erfuhr es aus einem schlichten Nachruf in der Zeitung, der zwar nicht von Selbstmord sprach, aber doch recht eindeutig formuliert war, ‚Plötzlich und überraschend aus dem Leben geschieden‘, stand da und wer das nicht versteht, der schläft noch auf Bäumen. Um ehrlich zu sein, ich fühlte mich mehr bestätigt als schockiert, denn ich hatte schon vermutet, dass Heinrich mit seinem Leben abgeschlossen hatte und was bleibt einem auch übrig, wenn man angesichts der Schlechtigkeit der Welt die Hoffnung verliert, man verkümmert im Geist wie im Herzen, bis der Tod wie eine Erleichterung erscheint. Ist nur schade, dass es immer die Guten erwischt, aber so ist das eben, die Schlechten kümmert es ja auch nicht.

© sybille lengauer

Seine längste Reise

16 März 2217
„Ich hätte akzeptieren müssen, dass es vorbei ist. Spätestens, als sie wieder mit dem Rauchen angefangen hat, nur um mir damit auf die Nerven zu gehen, da hätte ich es akzeptieren müssen. Unterbewusst war mir bestimmt schon längst alles klar, ich wollte es nur nicht wahrhaben, immerhin dachte ich, sie sei die Liebe meines Lebens, so etwas wirft man doch nicht leichtfertig weg. Also klammerte ich mich an die rosige Vergangenheit und verschloß die Augen vor der grauen Gegenwart, weil ich nicht sehen wollte wie lieblos und kalt wir geworden waren. Und was habe ich jetzt von meiner gewollten Blindheit? Jetzt sitze ich auf dieser beschissenen Sternfahrt fest, die ein Vermögen kostet und mich von Minute zu Minute mehr anödet, mit einer Frau, die mich nicht einmal mehr hasst, sondern nur noch stumm verachtet, vielen Dank der Nachfrage. Wie verblödet muss man eigentlich sein, sich auf eine sechswöchige Sternfahrt mit seiner zukünftigen Ex-Frau einzulassen? Ich habe mich noch nie für den Weltraum erwärmen können, selbst bei den obligatorischen Schulausflügen zum Mars musste ich immer die Kotztüte benutzen und trotzdem sagte ich ja, als unsere Paartherapeutin den Vorschlag zu dieser Reise unterbreitete. Romantisch und Phantasieanregend sollte sie sein, ein beziehungsförderndes Abenteuer und was weiß ich noch alles, aber diese Fahrt ist nichts davon, rein gar nichts, ganz im Gegenteil. Das hier ist ein eintöniger, nervtötender Vorhof zur Hölle, gespickt mit nicht enden wollenden Buffets, aalglatter Konversation, drittklassigen Konzerten und öden Gesellschaftsspielen, dafür muss nun wirklich niemand die Erde verlassen, das bekommt man in jedem Billigcasino der Welt geboten. Ich könnte aus der Haut fahren vor Wut. Wut auf mich selbst, auf die blöde Therapeutin und auf Cornelia, die wirklich rein gar nichts dazu beiträgt, diesen Trip auch nur ansatzweise erträglich zu gestalten. Sie zeigt mir die kalte Schulter, nein, noch nicht einmal mehr das, sie zeigt mir nichts mehr, spricht kein Wort mit mir und in ihren Augen liegt, wenn sie mich denn einmal ansieht, ein harter Glanz, der mich im Herzen frieren macht. Ach, verdammt, der Weltraum lässt mich immer so sentimental werden. Ich fühle mich jämmerlich im Angesicht der Sterne. Wenn man bedenkt, dass ich für die Kosten dieser Reise ein Ferienhaus auf NewMerica-Beach hätte kaufen können – darüber darf ich gar nicht genau nachdenken. Und alles nur, weil ich nicht wahrhaben wollte, was ein jeder schon längst wusste: Diese Ehe ist vorbei. Nichts geht mehr. Das Spiel ist aus.“
Godric Carpenter speicherte die Sprachaufnahme und stieß ein erschöpftes Seufzen aus. Er warf sein Memorial lustlos auf den klappbaren Schreibtisch, der die Einzelkajüte nur noch beengter machte, die wochenlang sein Zuhause sein sollte. Ein klaustrophober Schauer jagte durch seine überreizten Synapsen, doch er schüttelte das lästige Angstgefühl nur ärgerlich ab und erhob sich unter weiteren Seufzern. Antriebslos stand er in der engen Kajüte, mit hängenden Armen und ziellosen Gedanken, den Blick vage auf den Schreibtisch gerichtet, während draußen, vor dem winzigen Bullauge, der samtschwarze Weltraum vorbeizog. „Ich bin der größte Trottel des bekannten Universums“, knurrte Godric Carpenter monoton, dann gab er sich einen merklichen Ruck und verfrachtete sein Memorial in den Wandsafe. Er klappte den Schreibtisch zusammen, räumte den Sessel beiseite und machte sich schließlich mürrisch daran, seine Ausgehgarderobe für das abendliche Buffet zurechtzulegen.

20 März 2217
„Heute haben wir den ersten Planetenausflug unternommen und ich muß zugeben, dass er tatsächlich abenteuerlich und phantasieanregend war, nur leider nicht von der glücklichen Sorte. Ich hatte die blühendsten Todesphantasien, als wir in einem klapprigen Shuttle dem fremden Planeten entgegengeschleudert wurden. Kotzelend war mir, buchstäblich, wäre ich nicht neben der wimmernden Cornelia festgeschnallt gewesen, ich hätte bestimmt die Kontenance verloren. Und das alles für ein paar verfallene Alien-Ruinen, die seit Jahrmillionen in irgendeinem Dschungel verrotten. Einfach lächerlich. Aber es war immerhin eine Abwechslung in dieser ansonsten so desaströs langweiligen Reise. Ich werde uns für sämtliche planetaren Ausflüge anmelden, vielleicht habe ich ja Glück und wir zerschellen während einer Landung, dann habe ich das Elend hinter mir und Cornelia nehme ich gleich mit.“
Godric Carpenter gestattete sich ein schmales Lächeln, während er das Memorial beiseite legte, er streckte die Beine aus, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und für einen kurzen Augenblick fühlte er eine Art von Behaglichkeit, die er in der beschränkenden Enge der Kajüte für unmöglich gehalten hätte. Der Moment verstrich, die Behaglichkeit verging und das Lächeln wich aus seinem Gesicht, Godric Carpenter konnte fühlen, wie seine Gedanken in einer langgezogenen Abwärtsspirale gen Traurigkeit zogen. Missmutig bemerkte er, dass noch viele Wochen Sternfahrt vor ihm lagen, zähe, erdrückende Wochen, die ihm an Cornelias essigsaurer Seite wie Jahrzehnte erschienen und vielleicht dachte er in diesem Moment zum ersten Mal genauer darüber nach, wie befreiend es wohl wäre, wenn seine Ehefrau tatsächlich bei einem Unfall ums Leben käme.

23 März 2217
„Es gab einen Anschlag! Einen echten, terroristischen Anschlag, hier, auf dem Schiff! Heute Abend ist eine Bombe in einem Unterhaltungssaal explodiert – ich kann es immer noch nicht fassen. Uns ist glücklicherweise nichts passiert, wir waren noch am Buffet zugange, aber wir konnten eine laute Explosion hören und Schreie, diese schrecklichen Schreie werde ich garantiert nie vergessen. Wir haben uns natürlich sofort in unsere Räumlichkeiten zurückgezogen und jetzt warte ich hier seit geschlagenen drei Stunden auf weitere Informationen, während Cornelia in der Kajüte nebenan sitzt und sich die Augen aus dem Kopf weint. Aber wen kümmern schon unsere Sorgen und Nöte, die Mannschaft hat dringlicheren Aufgaben nachzugehen. Terroristen jagen, zum Beispiel, bevor noch ein weiteres Unglück geschieht. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass es auf einer Sternfahrt zu einem Anschlag kommen könnte; hätte ich daran gedacht, ich wäre niemals an Bord dieses verfluchten Schiffes gegangen. Bombenattentate im Weltraum, welcher Verrückte kann dazu imstande sein? Ich verachte diese Bastarde und ihre mörderische Philosophie, ich verachte sie aus tiefster Seele, sie sind feiger Abschaum, hinterfotzig und niederträchtig, ich spucke auf sie! Ich frage mich, wie es nun weitergeht. Wird die Sternfahrt abgebrochen? Fliegen wir zurück zur Erde oder wird die Reise fortgesetzt, als wäre nichts geschehen? Was, wenn der nächste Anschlag bei einem Planetenausflug passiert, ich habe uns für alle Rundflüge angemeldet, das könnte unser Todesurteil sein. Oder vielleicht sprengt uns so ein Irrer während des Buffets in die Luft, bei dem Gedanken wird mir speiübel, ich will sofort nach Hause, oder zumindest mein Geld zurück! Das ist vielleicht der einzige Silberstreif an diesem düsteren Horizont, ich werde diese Bastarde auf Schadensersatz verklagen, bis ihnen Hören und Sehen vergeht. Schmerzensgeld wegen seelischer Grausamkeit und was mir noch alles einfallen mag. Ich werde diese verfluchte Reederei in Grund und Boden klagen – aber was nützt mir das, wenn ich in einem Sarg nach Hause komme? Oder, und das wäre vielleicht noch viel schlimmer, was, wenn sich Cornelia bei der Scheidung alles unter den Nagel reißt?“
Godric Carpenter stoppte die Sprachaufnahme und hörte dem bitteren Klang seiner letzten Sätze hinterher, ein kleiner Teil seines Selbst schämte sich für die Aussage, dass ihm der Tod gnädiger erschiene, als sein Hab und Gut an Cornelia zu verlieren, doch der größere und gewichtigere Teil seines selbstangefüllten Ichs hatte nur wenig Verwendung für Scham, sondern suhlte sich lieber in einem Meer aus Selbstmitleid und Habgier. Unruhig ließ Godric Carpenter den Blick durch die enge Kajüte schweifen, bis sein rastloses Auge schließlich am winzigen Bullauge hängenblieb, das den tiefdunklen Kosmos zeigte und seine Gedanken anzusaugen schien, wie ein schwarzes Loch einen verirrten Stern. Er fühlte sich kleiner und kleiner werden, während er so nach draußen blickte, fühlte sich unbedeutend, verletzlich und leer, weil er nichts sah, als absolute Finsternis. Immer schneller und schneller kreiste die Unsicherheit in seinem Schädel, von heftigem Schwindel erfasst schloß er krampfhaft die Augen, um nicht mehr nach draußen sehen zu müssen, sein Puls raste, Schweiß rann kalt seinen Rücken hinunter, seine Hände zitterten. Wahrlich, Godric Carpenter verabscheute den Weltraum aus tiefstem Herzen.

26 März 2217
„Wir fliegen zurück nach Hause, Gold sei Dank. Die letzten Tage waren der reinste Nervenkrieg, kaum Informationen, dafür tausend Gerüchte und über allem schwebt ständig diese nebulöse Angst, dass es bald wieder zu einem Terroranschlag kommen könnte. Der Kapitän hält zwar allabendlich eine Ansprache, angeblich, um uns auf den neuesten Stand zu bringen, aber er produziert jedes Mal nur tonnenweise heiße Luft, das ist keine Beruhigung. Ich vermute, dass er keine Ahnung hat wer hinter dem Anschlag steckt. Und höchstwahrscheinlich hat er genauso die Hosen voll, wie ich, wenn ich ehrlich sein darf. Wir befinden uns in der lebensfeindlichsten Umgebung, die man sich vorstellen kann, Lichtjahre von der Erde entfernt und irgendwo, unter hunderten Gästen und Angestellten, versteckt sich ein irrer Bombenleger. Ich jedenfalls werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn dieses elende Schiff sicher im Raumhafen angelegt hat, nein, noch nicht einmal dann, erst wenn ich zurück auf der Erde bin und echten, terrestrischen Boden unter meinen Füßen spüre, werde ich mich wieder entspannen können. Bis dahin schlafe ich mit einem offenen Auge, wenn überhaupt. Gerade jetzt könnte ich die Liebe und Zärtlichkeit einer verständnisvollen Partnerin dringend gebrauchen, aber damit ist bei Cornelia selbstverständlich nicht zu rechnen. Statt an meiner Seite zu sein, verlässt sie ihre Kajüte nicht mehr, sie lässt sich die Mahlzeiten bringen und verweigert jegliche Kommunikation mit mir. Im Grunde könnte ich genauso gut mit einem Stein verheiratet sein, der würde wahrscheinlich weniger Scherereien verursachen, aber sonst wäre kein Unterschied zu bemerken. Manchmal, ja manchmal wäre ich selbst lieber ein Stein, grau, hart, solide, dann wäre ich von all den elenden Sorgen und Nöten befreit. Obwohl, wer weiß, vielleicht ist Steinsein ja genauso deprimierend wie Menschsein, hat vielleicht nur noch niemand herausgefunden. Ach, was rede ich. Der Weltraum macht aus mir einen dümmlichen Schwätzer. Zurück zum Thema. Die Heimreise soll fünf Tage in Anspruch nehmen, das ist der direkte Weg nach Hause, schneller geht es nicht. In fünf Tagen kann eine Menge geschehen, die Lage bleibt also angespannt. Ich werde einen Weg suchen müssen mich abzulenken, ohne mich unnötig in Gefahr zu begeben. Holo-Golf könnte eine Möglichkeit sein, dabei verliere ich immer das Zeitgefühl und wer käme schon auf die Idee, einen Holo-Golfplatz zu attackieren. Ein Glück, dass ich meine Golfschläger mitgebracht habe, ich hatte schon so eine Vorahnung, dass sie mir nützlich sein würden.“
Godric Carpenter legte das Memorial beiseite und faltete die Hände, als wolle er ein klassisches Gebet sprechen, doch Godric Carpenter betete wenn, dann nur zu sich selbst. Emotional befand er sich in einem unergründlichen Spannungsfeld, hin- und hergerissen zwischen aufrichtiger Terrorismusangst, kindlichem Heimweh und ehrlichem Liebeskummer und es hätte nicht viel gefehlt, er wäre zur Verbindungstür gelaufen, die seine Kajüte mit der seiner Ehefrau verband, hätte ebendiese Türe sperrangelweit aufgerissen, um eine verdutzte Cornelia in den Arm zu nehmen und so lange festzuhalten, bis er wieder wußte, wo oben und unten war. Stattdessen presste er aber nur die Finger seiner Hände so fest gegeneinander, dass die Fingerspitzen weiß wurden.

29. März 2217
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal eine Aufzeichnung machen würde. Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Absturz überleben würde. Eigentlich habe ich seit gestern Nacht so ziemlich gar nichts gedacht, alles lief auf Autopilot. Erst jetzt komme ich dazu meine Gedanken zu ordnen und ich bin unaussprechlich dankbar, mein Memorial bei mir zu haben, um die vielleicht letzten Stunden meines Lebens dokumentieren zu können. Verdammt, mir kommen schon wieder die Tränen, ich schaffe die Aufzeichnung wohl nicht, ohne zu heulen. Wir sind abgestürzt. Also, erst sind wir explodiert, dann abgestürzt. Nein, das Schiff ist explodiert. Die Rettungskapsel ist abgestürzt. Ich bin immer noch so durcheinander. Cornelia ist bei mir, sie schläft gerade, weil der junge Steward mit der hübschen Uniform sie mit Beruhigungspillen abgefüllt hat. Außer uns dreien gibt es noch vier weitere Überlebende, wobei es um ein älteres Mitglied der Besatzung schlecht zu stehen scheint, er ist beim Aufprall der Rettungskapsel schwer verletzt worden. Wir anderen sind, wie durch ein Wunder, unverletzt. Ein paar Schrammen und Beulen, aber noch nicht einmal gebrochene Knochen. Aber jetzt endlich der Reihe nach. Natürlich gab es ein weiteres Attentat, anders ist die Sache nicht zu erklären, leider liegen uns kaum Informationen vor. Mitten in der Nacht schrillten plötzlich die Alarme und noch ehe wir es uns versahen, befanden wir uns schon auf dem Weg zu den Evakuierungsports. Ich weiß noch, dass ich mich immer wieder nach Cornelia umgedreht habe, weil ich Angst hatte, sie im wilden Getümmel zu verlieren, ihr kreideweißes, todernstes Gesicht hat sich unauslöschlich in meine Erinnerung eingebrannt. Zusammen retteten wir uns in eine Kapsel, was dann geschah, kann ich nicht mehr genau zusammensetzen, ich vermute, dass ich durch einen Sturz ohnmächtig geworden bin, als die Kapsel vom Schiff abgesprengt wurde. Als ich wieder zu mir kam, trudelten wir bereits in hoffnungslosem Taumel diesem Planeten entgegen. Es war Glück im Unglück, dass wir so nahe an einem habitablen System Schiffbruch erlitten haben, wobei man die Gewichtung des Glücks vielleicht nicht überbewerten sollte, denn egal wie habitabel dieser Planet auch erscheinen mag, ohne entsprechende Ausrüstung wird er uns trotzdem töten. Diese Wahrheit ist uns allen bewusst, auch wenn wir bisher noch nicht darüber gesprochen haben.“
Godric Carpenter unterdrückte ein lautes Schluchzen und beendete rasch die Sprachaufzeichnung, weil er fürchtete, sonst die Beherrschung zu verlieren und hysterisch zu werden. Behutsam steckte er das Memorial zurück in den kleinen Koffer, den er vom Schiff hatte retten können. Mit bangem Herzen sah er sich in der weitläufigen Höhle um, in die sich die kleine Gruppe nach dem Absturz der Rettungskapsel geflüchtet hatte und was er sah, stimmte ihn nicht optimistisch. Wenn er geglaubt hatte, der Weltraum würde ihm ein Gefühl der Jämmerlichkeit vermitteln, so musste er nun herausfinden, dass es sich noch viel jämmerlicher anfühlte auf einem fremden Planeten gestrandet zu sein.

30. März 2217
„Der alte Crewman ist gestorben, damit war zwar zu rechnen, aber trotzdem hat es uns alle deprimiert. Es fühlt sich falsch an, ihn unter diesen fremden Sonnen zu begraben, aber mehr können wir nicht für ihn tun. Wir haben ihn draußen vor der Höhle unter Steinen begraben – ich glaube, wenn ich noch ein drittes Mal begraben sage, werde ich verrückt. Verrückt allerdings auch, wie sehr man zusammenrückt, wenn der eigene Tod so nahe kommt. Cornelia und ich halten auf einmal zusammen wie Pech und Schwefel, kein Haar könnte zwischen uns passen, ganz so, als wären die Jahre der Entfremdung hinweggeblasen worden. Auch jetzt liegt sie hier neben mir und hält im Schlaf meine Hand. Unsere Streitigkeiten haben sich in Luft aufgelöst und vielleicht ist das der schönste Trost, der mir in dieser elenden Situation beschieden ist. Auch wenn wir hier verhungern werden, zumindest sterbe ich mit der Liebe meines Lebens an meiner Seite. Aber noch bin ich nicht tot und aufgegeben habe ich auch noch nicht! Morgen früh werde ich zusammen mit dem jungen Steward aufbrechen, um die Umgebung zu erforschen. Er behauptet, die Rettungskapsel hätte automatisch ein potentiell bewohntes Gebiet angesteuert, ich habe nicht genau verstanden wie die Technik funktioniert, aber er klingt sehr zuversichtlich. Seiner Meinung nach könnten wir einen verlassenen Außenposten finden und von dort eine Nachricht an die Erde verschicken. Sein Wort in aller Götter Ohren! Hoffentlich gibt es hier keine Eingeborenen. Oder wilde Raubtiere. Giftpflanzen wären auch sehr schlecht, oder fleischfressende Pilze oder, oder – ich sollte mir wirklich nicht so viele Gedanken machen, sonst gehe ich morgen keinen Schritt. Ich sollte lieber versuchen zu schlafen. Mit etwas Glück überlebe ich das morgige Abenteuer, um hier davon zu berichten.“
Godric Carpenter legte das Memorial auf einen fachen Stein, der als improvisiertes Tischchen diente, dann kuschelte er sich wärmesuchend an Cornelia, die im Schlaf leise murmelte und ihren Rücken an seinen weichen Bauch drückte. Gedankenverloren schmiegte er sich an ihren warmen Körper und ohne es zu bemerken, glitt er langsam in den Schlaf hinüber.

© sybille lengauer

Gestern fragte mich der Schriftsteller und weltbeste Vorleser Axel Aldenhoven, was denn die finsterste Story sei, die ich bisher geschrieben hätte. Nach einiger Überlegung antwortete ich „Devil in Space“ außerdem fiel mir noch „Bob ist ein Arschloch“ ein. Später erinnerte ich mich an eine kurze Kurzgeschichte, die ca. 2019 entstanden ist. Die könnte den finstersten Preis tatsächlich gewinnen. Oder auch nicht, ist ja von vielen Faktoren abhängig, was man als richtig, richtig finster empfindet. Ich habe die Geschichte überarbeitet und stelle sie hier wieder online. Ihr könnt ja gerne selbst überlegen, ob euch eine noch finsterere Geschichte aus meiner Feder einfällt. In diesem Sinne, finstere Grüße!
Eure Sy

Der letzte Mensch

Und wenn du der Letzte wärst,
Nach all den Milliarden,
Wenn keiner mehr käme,
Wenn niemand mehr lebte,
Wer beweinte dich?

„Bitte erwache. Bitte erwache. Bitte erwache“, wiederholt eine weibliche Computerstimme die immergleiche Aufforderung. Der alte Mann, der reglos auf dem glattgelaufenen Holzboden der Unterseestation liegt, reagiert jedoch nicht. Er liegt nur still und sieht tot aus. „Hilfsmaßnahmen eingeleitet“, verkündet die Computerstimme. Ein kleiner, rostfleckiger Roboter löst sich aus seiner Wandverankerung und steuert vorsichtig zwischen chaotisch verstreuten Messinstrumenten, hoch aufragenden Bücherstapeln und unzähligen leeren Weinflaschen hindurch. Als er den Bewusstlosen erreicht, fährt er einen winzigen Greifarm mit Spiegel aus, justiert diesen unter der Nase des alten Mannes und wartet. Der Spiegel beschlägt und die kleine Maschine stößt einen erleichtert klingenden Pfiff aus; unverzüglich verabreicht sie dem Alten eine kreislaufanregende Injektion und verharrt dann in stummer Ergebenheit. Zeit vergeht. Der fragile Greis auf dem Boden bewegt sich nicht. Langsam breitet sich die undurchdringliche Stille des toten Ozeans in der Unterseestation aus. Der kleine Roboter piept ratlos.
„Erweiterte Hilfsmaßnahmen eingeleitet“, verkündet die Computerstimme monoton. Ein riesiger Roboter löst sich aus einer weiteren Wandverankerung, seine schweren Schritte lassen die gläsernen Instrumente in ihren Regalen erzittern. Die Bücherstapel kollabieren, zerfallen zu chaotischen Haufen. Eine ungeöffnete Weinflasche fällt vom Tisch und zerbricht, der saure Geruch von Rotwein erfüllt den Raum. Geschickt hebt der massive Roboter den besinnungslosen Alten vom Boden auf, trägt dessen schlaffe Gestalt zu einem abgenutzten Chesterfield Sofa und legt ihn behutsam darauf ab. Der kleine Roboter eilt piepsend herbei und verabreicht eine weitere Injektion. Mehr Zeit vergeht. Vor dem achteckigen Fenster der Unterseestation, das wie ein riesiges, unnatürlich geformtes Auge in den lebensfeindlichen Ozean starrt, treiben Schwärme bleicher Plastiktüten vorbei. Wie Quallen tanzen sie im unsichtbaren Sog der Meeresströmungen, doch es gibt keine Quallen mehr in den Meeren der Welt. Es gibt nichts lebendiges mehr außerhalb der Unterseestation.
Die Roboter verharren vor dem abgewetzten Sofa und bewachen den zerbrechlichen Menschen, hilflos müssen sie dabei zusehen, wie das letzte bisschen Leben aus seinem fragilen Körper entweicht. „Hilfsmaßnahmen eingestellt“, ertönt die Computerstimme. Der kleine Roboter piept traurig. Der große Roboter lässt einen tiefen, gramerfüllten Basston erklingen. Er dreht seine kolossale Gestalt langsam herum und stampft mit hängenden Schultern aus dem Raum. Stille folgt seinen verhallenden Schritten in lautlosen Wellen. Noch mehr Zeit vergeht. Die Unterseestation schaukelt sanft im Sog des toxischen Wassers, ihre Lichter werden rasch von der unendlichen Dunkelheit des Meeres verschluckt.
Als der Roboter schließlich zurückkehrt, trägt er ein schimmerndes Gefäß in seinen klobigen Händen. Seine großen Füße zerstampfen die Scherben der zerbrochenen Weinflasche und der kleine, rostfleckige Roboter piept missbilligend. Behutsam stellt der metallene Riese das rätselhafte Gefäß auf den Tisch, er hantiert äußerst vorsichtig damit und entnimmt in höchster Konzentration den kostbaren Inhalt: eine knospende Rose.
„Abschiedssequenz eingeleitet“, verkündet die körperlose Computerstimme. Ein antiker Plattenspieler erwacht knatternd zum Leben, die Nadel setzt ruckelnd auf und im nächsten Moment erklingen Walgesänge aus verstaubten Lautsprechern. Andächtig legt der große Roboter die knospende Rose in die erkaltenden Finger des letzten Menschen, dann tritt er mit gesenktem Haupt zurück und beginnt dunkle, melancholische Töne auszustoßen. Seine Abschiedsklage vermischt sich mit den Walgesängen zu einem Lied der Traurigkeit. Die Melodie dringt durch die Räume der Station, klingt gedämpft nach draußen, schwingt durch den stillen, toten Ozean. Erzählt von einer anderen, lebendigeren Zeit. Der Walgesang verklingt und zum letzten Mal ertönt die Stimme des Computers: „Selbstzerstörung eingeleitet“
Die Roboter fahren zurück in ihre Verankerungen und warten ergeben auf die nahende Implosion.
Als die Unterseestation kollabiert, ist niemand mehr da, um es zu sehen.

© sybille lengauer

Maschinentrauma

12. November 2072,
Drei Jahre nach dem Untergang der Menschheit

Bar jeder lebendigen Seele liegen die Straßen der Stadt, diffuse Schwermut wabert zwischen den Gebäuden. Grau und bedrückend zeigt sich das Wetter an diesem stillen Novembernachmittag, zeigt sich das postapokalyptische Antlitz der einstmaligen Metropole. Drei Gestalten wandern durch einen Randbezirk dieser betongewordenen Depression, drei Gestalten, die man bei schlechtem Licht mit Menschen verwechseln könnte, doch keine von ihnen atmet die toxische Luft, die sie unsichtbar von allen Seiten umgibt und auch einen Herzschlag wird man bei ihnen nicht finden. Ganz gleich wie sehr sie äußerlich humanoiden Kreaturen ähneln mögen, handelt es sich doch um Maschinen, die einst erdacht und erschaffen wurden, um der Menschheit zu Diensten zu sein. Da nach dem großen Kriege jedoch kein Mensch mehr vorhanden, der bedient und umhegt werden könnte, liegt es an ihnen, einen neuen Sinn für ihre Existenz auf dem nunmehr lebensfeindlichen Planet Erde zu finden. Die drei Maschinen steuern langsam auf ein schlichtes Einfamilienhaus am Ende einer Sackgasse zu und führen ein freudloses Streitgespräch…

TaNa1: Geht’s etwas schneller? Wenn wir uns nicht beeilen sind die Energiehäppchen weg, ihr wisst doch wie gefräßig EnRy00 ist und der kommt nie zu spät.
KinDr47: Wenn du nicht ständig herumnörgeln würdest, kämen wir vielleicht etwas schneller vom Fleck.
TaNa1: Ha, von wegen. Wenn ich nicht ständig herumnörgeln würde, kämen wir niemals irgendwohin.
KinDr47: Niemand zwingt dich bei uns zu bleiben. Geh’ doch schon vor, wenn du so dermaßen energiebedürftig bist. Wir kommen auch prima ohne dich zurecht, stimmt’s Vel?
Velvo, der mit gesenktem Kopf neben den beiden Streithähnen über den Asphalt schlurft, grunzt eine unverständliche Antwort.
TaNa1: Es geht nicht um meinen Energiebedarf, es geht ums Prinzip! Wenn wir zu spät kommen sind alle guten Plätze besetzt und…
KinDr47: Und dann musst du wieder ganz hinten in der zugigen Ecke sitzen, was natürlich nicht auszuhalten ist. Ich weiß, ich weiß. Alle wissen es! Jeder hat beim letzten Mal dein nicht enden wollendes Lamento mitangehört, du hast dich ausreichend laut und lange genug beschwert.
TaNa1: He! Moment mal! Du hast selbst gesagt, dass es in der Ecke zugig war!
KinDr47 gibt ein übertrieben künstliches Lachen von sich und schlendert betont langsam weiter die Straße entlang.
TaNa1: Dein irrationales Verhalten treibt mich in den Wahnsinn, 47. Es treibt einen in den Wahnsinn, nicht wahr Vel?
VelVo: Ich weiß gar nicht warum ich überhaupt noch mit euch mitkomme. Ihr zankt ständig über jede Kleinigkeit und am Ende hören wir uns doch nur wieder denselben rührseligen Quatsch über die gute alte Zeit an. Sinnkrise hier, Depression da, blablabla. Ganz ehrlich, ich habe die Gruppensitzungen satt. Ich habe das alles hier satt. Ich habe. Es. Satt!
TaNa1: Wenn wir weiter so langsam dahinschleichen wirst du auch als einziger satt bleiben.
KinDr47: Ich fasse es nicht, du bist so ein widerlicher Nörgler!
VelVo: Ach, haltet doch beide die Klappe.
Die Maschinen erreichen endlich das Einfamilienhaus, über der Eingangstüre steht in gut lesbaren Großbuchstaben: ‚Mach aus deinem Trauma einen Traum. Wir helfen dir dabei! Maschinentraum(a) e.V.‘ VelVo bleibt demonstrativ auf der Straße stehen, steckt seine Hände in die Hosentaschen und zieht ein langes Gesicht.
TaNa1: Was ist, Vel. Kommst du nun mit rein, oder nicht?
VelVo: Oder.
TaNa1: Was soll das für eine Antwort sein? Ja oder nein!
Velvo: Weiß nicht.
KinDr47: Hör auf ihn zu bedrängen, du siehst doch, dass es ihm nicht gut geht.
TaNa1: Also ich gehe jedenfalls. Ihr könnt ja hier draußen Rost ansetzen, wenn ihr unbedingt wollt.
KinDr47: Ja, ja. Geh’ du nur zu deinen Häppchen. Ich bleibe bei Vel.
VelVo: Das ist nicht nötig, ich…
KinDr47: Oh doch, das ist nötig. Du bist ja ganz durcheinander, mein Freund.
VelVo: Bitte, 47. Ich möchte lieber alleine sein.
KinDr47: Na gut, wenn du das möchtest, muss ich es respektieren. Mach nur bitte nichts unüberlegtes, ja?
VelVo zwingt ein Lächeln auf seine blassen Lippen und nickt, KinDr47 erwidert das Lächeln und folgt TaNa1 zur Gruppensitzung. Kaum hat sich die Eingangstür hinter den beiden geschlossen, verschwindet das Lächeln aus VelVos Gesicht, bekümmert setzt er sich auf eine nahegelegene Treppenstufe und vergräbt den Kopf zwischen seinen Händen.

© sybille lengauer

Devil in Space

Pling
Ich hätte zu Hause bleiben sollen.
Pling
Mir ein Haustier kaufen.
Pling
Oder zumindest eine Zimmerpflanze.
Pling
Stattdessen liege ich hier.
Pling
Unter einem tropfenden Leitungsrohr.
Pling
Und warte auf den Tod.
Pling
Dabei hatte alles so gut angefangen. Mit unserer neuen Angriffsstrategie konnten wir die gegnerischen Verteidigungslinien mit Leichtigkeit aufbrechen, wir kamen über sie wie zornige Hornissen über eine Herde verdatterter Rindviecher. Ihre behäbigen Kampfkreuzer waren nicht annähernd in der Lage, es mit unseren wendigen EMEB*-Schiffen aufzunehmen. Endlich hatten wir die Oberhand, wir haben ihnen ordentlich eingeheizt, ein Selbstmordgeschwader nach dem anderen stürzte sich auf ihre riesigen Kriegskolosse, bis diese schließlich im unaufhörlichen Bombenhagel auseinanderplatzten und durchs Weltall taumelten wie brennende Papierlampignons zu Neujahr. Auch ich war bereit mich den Tod zu stürzen, bereit den letzten Schritt zu tun und meinen ultimativen Beitrag zu leisten auf unserem Weg zum Sieg über die Mormoriten: Mein Leben für die Heimat. Mein Leben für die Erde. Als das Startsignal des Staffelführers ertönte, verschwendete ich keinen zweiten Gedanken an mein bevorstehendes Ende, ohne zu blinzeln ging ich zum Angriff über.
Pling
Aber der Antrieb. Dieser elende, auf alle Zeit verdammte Antrieb. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen was schiefgelaufen ist, kann mich an zu wenig erinnern. Ich weiß noch, dass mit einem Mal die Antriebsenergie versagte. Ich verlor die Kontrolle über das EMEB, dann riss mich plötzlich eine Explosion aus der Steuerliege. Ich verlor das Bewusstsein und als ich endlich wieder erwachte, lag ich eingekeilt unter einem Berg aus Trümmern und verbogenem Metall. Bewegungsunfähig. Hilflos. Auf dem kalten, harten Boden meines Schiffes. Viele Stunden liege ich nun schon hier, mein Körper ist ganz gefühllos und taub geworden, doch meine Gedanken wandern rastlos umher, schweifen hierhin und dorthin und immer wieder zurück nach Hause. Zurück zur Erde. Ich weiß, dass niemand kommen wird, um nach mir zu suchen. Ich weiß, dass ich hier liegen bleiben werde, bis ich verkümmert bin und sterbe. Die Schlacht ist längst vorbei, der Krieg ist weitergezogen. Alle meine Kameraden sind tot. Nur ich brauche noch ein bisschen.
Pling
Über meinem Kopf tropft das Leitungsrohr. Ich frage mich wie lange es wohl dauern wird, bis mich dieses Geräusch in den Wahnsinn treibt. Es zerhackt meine Gedanken, lässt mich unruhig werden, nervös und fahrig. Es verunsichert mich. Ich muss es ignorieren, sonst wird das hier hässlich. Ich frage mich generell, wie lange es wohl noch dauern wird. Nicht mit dem Wahnsinn, sondern mit dem Sterben. Ich weiß nicht wie schwer meine Verletzungen sind. Schmerzen habe ich keine, aber was heißt das schon. Gehen wir aber vorerst davon aus, dass es mir körperlich relativ gut geht. Die Lebenserhaltung des EMEB scheint nicht beschädigt zu sein, das bedeutet Sauerstoff und Wärme für mindestens sechs Wochen, also bleibt mir wohl als Option nur langsames, qualvolles dahinsiechen. Hab’ mich schon besser amüsiert.
Pling
Ich hätte auf der Erde bleiben sollen. Hätte meinen Job bei der Müllentsorgung behalten und weiter mein kleines Leben leben sollen. Die Rechnungen bezahlen, die Fertigmahlzeiten essen, die Kriegsberichterstattung im Holo-View glotzen und einmal in der Woche zum staatlichen Psychiater. Ich hätte mit meinem Arsch auf meiner Couch bleiben sollen, doch was nützt es mir jetzt darüber zu klagen, ich werde das alles nie wiedersehen und irgendwie erkenne ich erst jetzt, wo ich hier liege und meine Lage zerdenke, wie wertvoll es gewesen ist. Langweilig war mir die Welt geworden. Eintönig und leer erschien mir mein Leben und alles darum herum, also warum nicht freiwillig melden für die wichtigste Mission seit Kriegsbeginn? Was wusste ich schon von Eintönigkeit und Langeweile. Inmitten des unermesslichen Nichts gestrandet zu sein, ohne Hoffnung auf Zurück, das nenne ich die ultimative Monotonie.
Pling
Ich kann mich noch genau erinnern wie euphorisiert wir alle waren, als wir damals zum ersten Mal von der fremden Intelligenz aus dem Weltraum erfuhren. Fünfundzwanzig Jahre ist das her und ich weiß noch immer ganz genau, wonach es in diesem Moment gerochen hat und welcher Song im Wireless Radio lief, bevor die Durchsage kam: Die ganze Wohnung stank nach Mutters Bratkartoffeln mit Knoblauch- und Zwiebelgranulat und sie spielten gerade ‚The swan who has fallen in love with a helicopter“ von den Candy-Shop-Boys. Dann ertönte das Signal für eine wichtige Sondermeldung und ich hielt gespannt den Atem an. Als der Sprecher die Meldung über unseren Kontakt zu einer außerirdischen Zivilisation verlas, ließ meine Mutter in der Küche vor Schreck den Pfannenwender fallen. Ich aber hörte nur eines: Außerirdisch. Das war atemberaubend! Ich war zwar noch ein kleiner Hosenscheißer, aber ich war fasziniert, elektrisiert und wollte unbedingt dabei sein.
Pling
Natürlich hatte ich keine Chance auf ein Ticket zu den Sternen, auch wenn ich es mir jeden Abend zum Einschlafen wünschte, außerdem an Weihnachten und zum Geburtstag und bei jeder anderen Gelegenheit, die ich ergreifen konnte. Wir waren eine typische Unterschichtsfamilie, geringe genetische Qualität, geringe Perspektive. Egal wie sehr ich mich anstrengte, egal wie fleissig ich lernte, ich war abgeschrieben, noch bevor ich überhaupt loslegen konnte. Sie nannten meinen Jahrgang die überflüssige Generation und wer hätte gedacht, dass ausgerechnet wir Überflüssigen einmal allen anderen den Arsch retten würden, wenn auch nur durch unseren kollektiven Selbstmord? Ach verdammt, ich werde wohl zynisch auf meine letzten Tage. Aber was macht das schon.
Pling
Mein naiver Traum von den Aliens war auch recht schnell ausgeträumt, als uns die Mormoriten fünf Jahre später den Krieg erklärten. Also, ihre AI erklärte unserer AI den Krieg, denn direkt konnten wir damals noch nicht kommunizieren. Ist schon etwas komplizierter über 4,7 Lichtjahre hinweg mit einer völlig unbekannten Spezies zu parlieren. Bis heute behaupten einige der Eierköpfe von NASA und SETI, dass die ganze Sache mit der Kriegserklärung ein bedauernswerter Systemfehler gewesen sein muss. Ich glaube allerdings, dass die einfach nicht wahrhaben wollen, dass die Mormoriten uns nicht ausstehen können. Mir muss man das nicht erzählen, ich kann ziemlich gut verstehen, warum die uns angegriffen haben. Wir sind eine brandgefährliche, selten dämliche Spezies und das sage ich nicht nur leichtfertig dahin, das meine ich mit jeder Faser meines Körpers.
Ach, was rege ich mich auf, ist ja ohnehin zwecklos. Ich sollte meinen Frieden machen und ohne Scheu dem Ende entgegenblicken, so lang es sich auch hinziehen mag. Was nützt es in der Vergangenheit herumzuwühlen, es hat doch gar keinen Zweck über all die Entscheidungen und Schicksalswendungen nachzugrübeln, die mich schließlich hierher gebracht haben. Es ist wie es ist. Hol’s der Teufel.
Pling

*EMEB = Ein-Mann-Eine-Bombe

© sybille lengauer

Namur

Dunkelheit, von vereinzelten Blitzen durchzuckt. Wind heult, Regen peitscht die Bäume auf. In einer verlassenen Scheune drän- gen sich ängstliche Körper aneinander. Zucken bei jedem Donner- schlag. Augen, so groß, dass man fast nur Weiß sehen kann, starren angestrengt zum Scheunentor. Körper zittern unkontrolliert gegen das Entsetzen. Entferntes Hundegebell ist zu hören. Aufgeregte Rufe. Eine der Gestalten krümmt sich und beginnt leise zu weinen. Eine andere legt schützend die Arme um sie. „Hierher!“, ruft es von draußen plötzlich, drinnen sind verzweifelte Schreie zu hören. Das Scheunentor wird aufgerissen, grelle Lichtkegel fluten in die Finsternis. „Ich hab sie!“, schreit jemand, dann mischen sich Ge- wehrschüsse mit neuem Donnergrollen.
„Ich habe einen Anruf von Valicek erhalten. Kahrbauer soll an einem Artikel über Belgien schreiben.“ Zwei dunkle Gestalten ste- hen vor dem Seiteneingang eines seelenlosen Bürogebäudes und blasen enorme Dampfschwaden aus ihren E-Smokes. „Ich hatte dich gewarnt. Habe ich dir nicht gesagt, dass dieser verdammte Schmierlappen nicht locker lassen wird?“ Die Stimme des Sprechers klingt gereizt. Ein leichter, englischer Akzent unter- streicht den herablassenden Tonfall. „Ja, Jeff“, murmelt eine zweite, jüngere Stimme kleinlaut. „Dieser Kerl ist ein fucking Ter- rier, habe ich das nicht zu dir gesagt?“ Der Mann atmet eine Dampfwolke aus, die sofort von einem kalten Windstoß zerrissen wird. „Ja, Jeff“, kommt die unterwürfige Antwort von seinem Ge- genüber. „Und was hast du zu mir gesagt, Junge?“ „Bitte, ich bekomme das wieder in den Griff.“ Irgendwo in der Nähe erklingt eine Autosirene, der Wind trägt die Geräusche der Straßen mit sich. „Du gehst mir gerade unglaublich auf die Nerven“, schnaubt Jeff herablassend, er dreht sich abrupt um und betritt das Gebäude. Wie ein Schatten folgt ihm der zweite Mann. Im Fahrstuhl herrscht eisiges Schweigen. Erst als sie in einem klinisch weißen Büro angekommen sind, wendet sich Jeff erneut an seinen Begleiter. „Es ist mein Fehler. Ich dachte du wärst dieser Aufgabe gewachsen, aber nicht jeder kann die Hitze aushalten.“ Er sieht dem jungen Mann tief in die Augen, der mit hängenden Schultern im blendenden Weiß des Teppichs versinkt. „Ich übergebe die Sache an Ludger Meyer. Er weiß, wie man mit diesem Journalistenge- schmeiß umgeht. Du fliegst morgen früh nach Namur. Ich möchte einen genauen Bericht über die letzten Ereignisse. Ich habe keine Lust im Dunkeln in ein Messer zu laufen. Hast du verstanden, Tom?“ „Ja, Jeff.“ Das Gespräch ist beendet. Tom verlässt mit ge- senktem Kopf das Büro seines Vaters.

Ein Mund, der zu einem stummen Schrei verzerrt ist. Ver- zweifeltes Ringen nach einem letzten Atemzug. Dürre Arme, die sich in den unendlich weit entfernten Himmel strecken. Der Team- leiter der mobilen Einsatztruppe beugt sich über die Grube. „Der lebt noch“, stellt er fest und schießt dem zuckenden Körper sauber in den Kopf. Ein Mann in einem olivgrünen Overall steht mit ei- nem einsatzbereiten Flammenwerfer neben ihm und wartet auf das Zeichen. Über ihren Köpfen kreist ein Bussard. Der Vogel sieht die dreckigen Jeeps, die in einem Halbkreis um das Massengrab geparkt sind. Sieht die Männer, die gerade eine letzte Leiche in die Grube zerren. Mehrere Körper liegen darin, verdreht, erschossen, ausgezehrt. Über allem liegt der unbändige Geruch von Blut. Als der Flammenwerfer sein vernichtendes Feuer über die Kadaver spuckt, schlägt der Bussard zornig mit den Flügeln, lässt sich vom Wind weitertreiben.
Eine schlaflose Nacht, zwei Flugstunden und eine langweilige Taxifahrt später steht der Sohn des größten Gentechnologie- herstellers Europas vor einem rundlichen Labormitarbeiter, der ihm in gebrochenem Deutsch die Situation erklärt. „Es ist also mehr als eine Spezies entkommen?“, fasst Tom zusammen, was der Mann im weißen Kittel umständlich beschrieben hat. „Oui, Monsieur Underberg, der Labor – voll.“ Tom zeigt auf eine der Tabellen, die er von zuhause mitgebracht hat. Mäuse, Kaninchen, Affen, ein halber Streichelzoo ist darauf abgebildet. „Welche Spezies?“, fragt er betont deutlich und klopft mit seinem Kugelschreiber auf das Papier. Der Mitarbeiter nimmt ihm die Tabelle aus der Hand, überfliegt sie kurz. Dann kreuzt er mehrere Bilder an und reicht den Zettel zurück. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragt eine kühle Frauenstimme hinter Tom. Der dreht sich nicht um, sondern starrt nur finster auf die Tabelle. „Mein Name ist Greta Claes, ich denke wir waren vor vierzig Minuten in mei- nem Büro verabredet, Herr Underberg“, fährt die Frau mit ihrer einseitigen Unterhaltung fort. Tom wendet den Blick nicht vom Papier ab. „Ihre Berichte an die Firma waren nicht zufrieden- stellend. Ich ging daher davon aus, dass auch ein Gespräch mit Ihnen nicht zufriedenstellend verlaufen würde, Frau Claes. Mein Vater wünscht eine genaue Analyse der Situation und ich ver- sichere Ihnen, Sie möchten seinem Wunsch nicht im Wege stehen. Sie können mir jetzt das Labor zeigen, Dr. Peeters.“ Er lässt das Blatt Papier sinken und nickt dem verlegenen Labormitarbeiter zu, der das Gespräch mit angestrengtem Gesichtsausdruck verfolgt hat. Seit Greta Claes das Zimmer betreten hat, ist er deutlich in sich zusammengesackt. „Dr. Peeters“, spricht Tom ihn erneut an, diesmal etwas lauter. „Bien sur“, beeilt sich der untersetzte Mann und führt ihn unter diversen Gesten aus dem Raum. Seiner Chefin nickt er nur entschuldigend zu. Der Weg führt durch hell erleuchtete Gänge, die von Videokameras überwacht werden. Niemand sagt ein Wort, auch nicht, wenn eine der unzähligen Sicherheitsschleusen passiert wird. Nur das Klacken der Schuhe begleitet sie durch die schier endlosen Flure. Als Dr. Peeters schließlich vor einer Tür stehenbleibt, wendet sich Tom direkt an Frau Claes. „Aufmachen“, blafft er sie an. Die adrett gekleidete Frau erwidert seine Herausforderung mit einem kalten Lächeln. Achselzuckend tippt sie einen Code in die kleine Wandtafel neben der Tür. Ein leiser Piepton erklingt. Tom verschränkt abwartend die Arme vor dem Bauch. Greta Claes nickt ihrem Angestellten zu, der daraufhin die Tür öffnet. Der enorme Raum dahinter ist nur zur Hälfte vorhanden, die andere Hälfte liegt in Schutt und Asche. Durchsichtige Folien spannen sich gegen einen blauen Himmel, Wind bläst durch Ritzen in der provisorischen Abdeckung. „Was, zum Teufel, ist hier passiert?“, fragt Tom, mit aufgerissenen Augen betritt er das ehemalige Großlabor. Er starrt gebannt auf das klaffende Loch in der Außenmauer. „Eine Gasexplosion ist pas- siert“, antwortet Greta Claes trocken. „Ich habe Ihnen den Unfall- hergang ausführlich in meinem Bericht geschildert.“ „Ja, ja. Schon gut“, wehrt Tom ungeduldig ab. Er betrachtet die großen, zerstör- ten Käfige. „Wie viele sind entkommen?“, fragt er schließlich, inmitten der Zerstörung stehend. „Auch diese Angaben finden Sie in meinem Bericht, Herr Underberg“, ihre Stimme ist ein einziger Vorwurf. „Frau Claes. In Ihrem Bericht haben Sie von einem klei- nen Zwischenfall geschrieben, bei dem einige wenige Versuchs- objekte Ihren Räumlichkeiten entwichen sind. Jetzt stehe ich hier vor einem riesigen Loch in Ihrem Labor und habe eben erfahren, dass es sich bei den Versuchsobjekten um verschiedene, hochmo- bile Spezies handelt. Ich frage Sie also noch einmal. Wie viele Versuchsobjekte sind entwichen?“ Toms ätzender Tonfall zeigt langsam Wirkung. „Zweiundzwanzig.“ Greta Claes spuckt ihm die Antwort förmlich vor die Füße. „Zehn Hasen-, fünf Ratten-, drei Hunde-, zwei Schimpansen-, zwei Schweinehybriden.“ „Warum waren diese Hybriden alle in einem Raum?“, bohrt Tom aggressiv weiter. „Sie sollten am nächsten Morgen abgetötet werden, die Versuchsreihe war abgeschlossen.“ „Welche Versuche wurden an den Viechern durchgeführt?“ „Herr Underberg, wollen wir dieses Gespräch nicht lieber in meinem Büro fortsetzen, ich denke Dr. Peeters würde nun gerne wieder seiner Arbeit nachgehen?“ Mit einer knappen Geste schickt Frau Claes ihren Mitarbeiter aus dem Raum. Tom wiegelt ungeduldig ab. „Was wir zu bereden haben, können wir überall klären. Also, welche Versuche?“ Bevor Greta Claes antwortet, schließt sie gewissenhaft die Tür des zerstörten Labors.

Laufen. Immer nur laufen. Das Herz pocht bis zum Hals, die nack- ten Füße bluten und immer weiterlaufen. Irgendwann brechen die Beine unter ihr zusammen, sie fällt der Länge nach hin. Muss es in den Wald schaffen. Zwingt sich wieder hoch. Läuft weiter. Gehetzter Atem, Schweiß auf der Haut. Als sie das Geräusch eines Helikopters hört, flüchtet sie unter einen niedrigen Busch. Kauert unter den grünen Zweigen und bedeckt ihren geschorenen Kopf mit blassen Armen. Das Wummern des Rotors vermischt sich mit einem rasenden Herzschlag. Tränen laufen aus geröteten Augen. Die Eindrücke der letzten Tage fluten unkontrolliert über sie herein. Wütend schüttelt sie die Bilder ab, stößt ein kehliges Wimmern aus. Wartet darauf, dass das dröhnende Geräusch der Maschine leiser wird. Als das Brummen verebbt, kriecht sie wieder aus dem Gebüsch und hastet weiter. Über die Böschung, quer durch den Bach. Steine bohren sich in ihre Fußsohlen. Äste peitschen über nackte Haut. Ein Schuss zerreißt die Szenerie in tausend Splitter. Grellrotes Blut schießt aus ihrem Mund. Sie taumelt gegen eine junge Buche, ein faustgroßes Loch klafft in ihrem Brustkorb. Tot bricht sie am Rand des Laubwaldes zusammen.
„Möchten Sie Milch und Zucker?“ Tom Underberg und Greta Claes sitzen sich in einem konservativ eingerichteten Büro gegen- über. Eine unscheinbare Sekretärin trägt Kaffee und Gebäck auf. „Schwarz, danke“, antwortet Tom, seine Stimme klingt ungedul- dig. Die Sekretärin serviert und verschwindet dann aus dem Büro. Stille breitet sich aus, nur unterbrochen vom diskreten Klappern guten Porzellans. Vor dem Fenster ziehen vereinzelte Wolken über einen stahlblauen Himmel. Kaffeeduft erfüllt das Zimmer. „Herr Underberg“, nimmt Greta Claes schließlich wieder das Gespräch auf, „Ich kann Ihnen versichern, dass wir die Lage unter Kontrolle haben. Unsere Teams sind absolut zuverlässig.“ „Zweiundzwanzig Lebensformen“, antwortet Tom nur. Er balanciert einen Teller mit kleinen Plunderteilchen auf seinen Knien und nimmt immer abwechselnd einen Schluck Kaffee und einen Bissen Süßgebäck zu sich. Greta Claes beobachtet ihn mit unverhohlener Abscheu. „Zehn konnten bereits sichergestellt werden. Wir sprechen also von zwölf Lebensformen.“ „Was ist übrig?“ „Fünf Hasen, fünf Ratten, zwei Schweine. Die Hunde und Schimpansen konnten wir bereits am zweiten Tag sicherstellen, sie waren gemeinsam in einer Scheune versteckt. Auch einen Teil der Hasen konnten wir als Gruppe auftreiben. Die restlichen Versuchsobjekte halten sich vermutlich nicht in Gruppen auf, das macht die Sache schwieri- ger.“ „Ich will eine exakte Aufstellung der bisherigen Abläufe. Mi- nu-ti-ös.“ Tom klopft bei jeder Silbe mit seiner Tasse gegen den Teller auf seinen Knien. Kleine Krümel fliegen aus seinem Mund. „Ich will die aktuellen Reporte des Einsatzteams und ich will eine exakte Aufstellung der Hybriden und mit welchen Gefahren wir zu rechnen haben. Und ich will das alles gestern, haben Sie mich verstanden?“ Greta Claes nickt zähneknirschend und lässt ein gekünsteltes Lächeln aufblitzen.

Rabenschwarze Nacht. Kälte. Nässe. Einsamkeit. Nirgendwo ein Punkt zur Orientierung. Nur zermatschtes Laub an den Füßen, Schwärze vor den Augen und bohrende Verzweiflung. Ein paar abgebrochenen Zweige, die als Schutz gegen den Regen dienen. Er hockt in einer feuchten Kuhle, den Rücken gegen einen Stein gepresst. Versucht sich in den Schlaf zu zittern. Hat keine Kraft mehr. Der ferne Ruf eines Käuzchens lässt ihn auffahren. Die blutunterlaufenen Augen irren in der Dunkelheit hin und her. Der nächste Ruf des Käuzchens klingt näher. Gehetzt kommt er wieder auf die Füße. Hält sich an Zweigen fest, während er schwer atmend durch die Finsternis torkelt. Er kann nicht mehr weiter. Muss immer weiter. Rutscht im glitschigen Laub. Fällt einen steilen Abhang hinunter und schlägt auf spitzen Steinen auf. Das Schein- werferlicht eines heranrasenden Zuges blendet ihn. Mit blutigen Händen, blutigen Knien windet er sich zwischen den Schienen. Blind. Verängstigt. Allein. Als der Zug ihn wenige Sekunden später erfasst, bleibt nur ein blutiger Streifen auf den Gleisen zurück.
„Diese Frau ist so unfähig, man möchte sich die Haare rau- fen!“ Tom sitzt auf der Toilette und telefoniert mit seinem Vater. „Dasselbe könnte man auch über dich sagen“, erklingt Jeffs Stim- me lieblos aus dem Mobiltelefon. Tom verliert den Faden, das Gespräch gerät ins Stocken. „Wie ist die aktuelle Lage?“, fragt Jeff schließlich ungehalten in die unangenehme Stille hinein. „Wir haben zwei weitere Versuchsobjekte bergen können. Damit fehlen nur noch zehn“, beeilt sich Tom zu antworten. Das Hochgefühl, welches er zu Beginn des Gespräches empfunden hatte, ist rück- standslos verflogen. „Wer ist wir?“, blafft Jeff am anderen Ende der Leitung. Offenbar hat er ausgesprochen schlechte Laune. Tom verdreht resigniert die Augen. Er stellt auf Lautsprecher, um sich den Hintern abzuwischen. „Es bleiben nur noch fünf Ratten und fünf Hasen übrig. Wobei wir uns um die Ratten kaum Gedanken machen müssen. Claes versichert, dass sie bald eingehen wer- den.“ „Aha“, macht Jeff. „Hat irgendwas mit einem fehlenden En- zym zu tun. Steht im Bericht.“ Tom betätigt die Spülung und zieht sich wieder an. Er verzichtet darauf sich die Hände zu waschen, drückt das Handy wieder an sein Ohr. Bleibt nachdenklich vor dem Spiegel stehen. „Es sind also eigentlich nur noch die fünf Hasen, um die wir uns kümmern müssen.“ Auf der anderen Seite der Leitung bleibt es still. „Gibt es etwas Neues von Kahrbauer?“, fragt Tom und hofft, mit der Erwähnung des Journalisten das Ge- spräch wieder für sich zu gewinnen. „Was interessiert dich das?“, fragt Jeff gereizt zurück. Tom starrt sich selbst in die Augen und zeigt seinem Spiegelbild den Mittelfinger. „Ist noch was?“, quäkt es aus dem Handy. „Nein, Vater.“ „Dann bis morgen.“ Das Ge- spräch ist beendet. Tom atmet langsam durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Wählt eine neue Nummer. „Under- berg hier. Verbinden Sie mich mit Frau Claes.“ Er wartet auf die Verbindung und korrigiert ein paar Haarsträhnen an seiner Frisur. „Was kann ich für Sie tun, Herr Underberg?“ Greta Claes versucht nicht zu verschleiern, dass sein Anruf unwillkommen ist. Ihre Stimme klingt abweisend und kalt. „Mein Vater ist sehr unzufrie- den, Frau Claes.“ Tom tritt näher an den Spiegel heran, betrachtet eingehend sein junges Gesicht. „Er wird es sich vorbehalten, ent- sprechende Schritte in der Personalpolitik einzuleiten.“ „Dazu ist er absolut berechtigt“, antwortet Greta Claes trocken. „Ich möchte morgen beim Einsatz dabei sein.“ Tom fährt mit dem Zeigefinger über seine glatte Stirn und lächelt seinem Spiegelbild zu. „Dazu sind Sie absolut berechtigt.“ Frau Claes scheint sich auf einen Satz festgelegt zu haben. „Mailen Sie mir die genauen Daten. Ich werde vor Ort sein.“ „Gerne.“ Sie legt auf, ohne sich zu verabschieden.
Ständiges Erbrechen, obwohl der Magen völlig leer ist. Galle. Husten. Brennende Schmerzen. Dunkle Flüssigkeit, die aus den Ohren läuft. Augen, die eingefallen in dunklen Höhlen liegen. Die Kinder liegen eng umschlugen im Keller eines Hauses. Haben sich in der Nacht eingeschlichen und unter alten Armeedecken vergra- ben. Jetzt warten sie darauf, dass die Schmerzen endlich aufhören. Liegen schlaff übereinander. Atmen hechelnd. Von oben erklingt helles Lachen. Tapsige Schritte laufen durch ein glücklicheres Leben. Irgendwo spielt ein Liebeslied im Radio. Unten ist nur noch flaches Atmen und unregelmäßiger Herzschlag. Trockenes Würgen. Eine letzte Träne, die aus einem verkrusteten Augen- winkel läuft. Irgendwann hört auch der letzte, kleine Brustkorb auf, sich zu bewegen.

Der Jeep rast mit aufheulendem Motor über eine Schotterpiste. Hinter dem Steuer grinst Tom wie ein kleiner Schuljunge. Der Einsatzleiter, der neben ihm sitzt, ist sichtlich unbeeindruckt. „Wir haben heute Morgen die ganze Rattenbande ausgehoben. Dachten erst, sie hätten sich aufgeteilt. Hatten aber nur falsche Fährten gelegt. Schlaue Biester, diese Biester!“, schreit er gegen den Fahrt- wind an. Tom lacht und gibt noch einmal richtig Gas. Im Rück- spiegel sieht man die anderen Jeeps in einiger Entfernung folgen. „Die Meldung kommt von einem Bauernhof, drüben in Ciney. Ich hätte nicht gedacht, dass die so weit kommen würden.“ „Haben Sie eine Idee, wo die hinwollen?“ Tom geht ein wenig vom Gas und konzentriert sich mehr auf das Gespräch. „Die zieht es in die Wälder“, antwortet sein Begleiter. „Keine Ahnung ob die glauben, dass sie sich da besser verstecken können oder ob es so eine Art animalischer Instinkt ist. Was weiß ich.“ „Wie viele Hasen wurden gesichtet?“ „Vier oder fünf.“ „Haben die auch falsche Fährten gelegt?“ „Wer weiß das schon. Sie können sie ja fragen, wenn wir sie gefunden haben.“ Der Einsatzleiter lacht und klopft Tom väterlich auf die Schulter. Die restliche Fahrt erzählt er witzige Erlebnisse aus seinen früheren Tagen beim Militär. Tom genießt jede einzelne Sekunde davon. Kurz vor Ciney halten die Wagen am Seitenstreifen der Landstraße. Die Männer koordinieren sich routiniert, während Tom so tut, als würde er dazu gehören. Er wird einem jungen Mann zugeteilt, der sich als Dubois vorstellt. Die beiden bilden das Schlusslicht des Trupps, der sich nun wieder in Bewegung setzt. Vor einem Bauernhaus halten sie erneut. Der Einsatzleiter steigt aus und unterhält sich angeregt mit dem Bauern, der bereits vor die Tür getreten ist. Tom kann das Gespräch nicht verstehen, er sieht aber, dass der Bauer in eine bestimmte Richtung deutet. Der Einsatzleiter bedankt sich, Geld wird übergeben. Dann fahren die Wagen in die angegebene Richtung. Man hält nun über Funk untereinander Kontakt, spricht sich mit dem Hubschrauber- team ab. Tom verfolgt alles mit stiller Faszination. Als der Hub- schrauber schließlich eine Sichtung meldet, entfährt ihm ein auf- geregter Schrei. „Fahr, fahr, fahr!“, feuert er Dubois an. Der Jeep schießt einen Forstweg hinunter, folgt der Staubspur der anderen Wagen.

Die vier Frauen rennen panisch in verschiedene Richtungen davon, als die Jeeps am Rand der Lichtung auftauchen. Sie haben den Mo- torenlärm nicht wahrgenommen, waren zu erschöpft von der tage- langen Flucht. Nur ein wenig Schlaf. Nur ein bisschen im Sonnen- schein liegen. Jetzt laufen sie ein letztes Mal um ihr Leben. Die Jeeps teilen sich ebenfalls auf, lassen sich vom Helikopter leiten. Schüsse krachen durch den lichten Wald. Getroffen fällt eine rennende Gestalt zu Boden, überschlägt sich, bleibt liegen. Eine andere krümmt sich, hastet dann aber weiter. Dubois schneidet ihr den Weg ab. Rammt sie mit dem Wagen. Der geschundene, magere Frauenkörper schlägt mit einem dumpfen Knall gegen das Blech des Jeeps. Tom zuckt zusammen, als er das Geräusch hört. Hat sich das alles ganz anders vorgestellt. Dubois hält den Wagen an und steigt aus. „Kommen Sie, Monsieur Underberg!“ Unwillig klettert Tom aus dem Jeep. Geht um den Wagen herum und sieht sich das blutende Wesen an, das verdreht auf dem Waldboden liegt. „Das ist eine Frau!“, entfährt es ihm entsetzt. „Möchten Sie sie erschie- ßen, Monsieur Underberg?“, fragt Dubois und hält ihm grinsend eine Pistole hin. Tom wird sehr blass, greift aber schließlich nach der Waffe. Die Frau auf dem Boden schluchzt herzzerreißend. Trotz unzähliger Knochenbrüche versucht sie immer noch durch das Laub davonzukriechen. Weg von den Männern, die breitbeinig über ihr stehen. Tom zielt mit der Pistole. Seine Hand zittert stark. Sein erster Schuss geht in ihren Oberschenkel. Der zweite trifft ihren Rücken. Den dritten schießt Tom einen Meter daneben, das vierte Mal zerfetzt er ihr Gesicht, als sie sich wimmernd nach ihm umdreht. „Monsieur Underberg, très bien!“, lacht Dubois und nimmt Tom die Waffe aus den verkrampften Fingern. „Ich dachte zuerst, Sie scheißen sich ein, aber das war saubere Action.“ Aufmunternd deutet er mit der Waffe quer über die Lich- tung. Ein blasser Körper verschwindet gerade hinter einem umgestürzten Baumstamm. „Da ist noch eine, holen wir sie uns!“ Tom folgt Dubois, als dieser mit schnellen Schritten die Lichtung überquert.
„Auf unser neues Ehrenmitglied, er lebe hoch! Hoch! Hoch!“ Ausgelassenes Gelächter brandet durch den Schankraum.

Weingläser prosten ihm zu, Schnäpse werden geleert. Tom steht inmitten der Aufmerksamkeit, sein wächsernes Lächeln überstrahlt den Raum. Er stürzt sein Glas Rotwein hinunter, lässt sich sofort neu einschenken. Hinter seiner Stirn explodiert ein verzweifeltes Gesicht in tausend Knochensplitter. „Auch auf euch, meine tapferen Kameraden!“ Seine Stimme klingt etwas schrill, es war ein langer Tag. Tom kann immer noch das Blut an seiner Kleidung riechen. Nachdem er ein paar weitere Gläser Wein geleert und bei unzähligen Schnapsrunden zugegriffen hat, torkelt Tom nach draußen um seine E-Smoke zu rauchen. „Eine noch, eine noch, eine noch!“, schreit es hinter ihm her, und Tom weiß nicht, ob die Männer noch eine Schnapsrunde oder noch eine Leiche meinen. Betrunken fummelt er das Handy aus seiner Jackentasche, um seinen Vater anzurufen „Es ist nach elf, was zur Hölle willst du?“, fährt Jeff ihn verschlafen an. „Ich habe sie erschossen!“, lallt Tom zwischen Stolz und Elend. Erneut sieht er die geschundene Gestalt auf der Lichtung liegen. Ihr rotes Blut im grünen Gras. „Was hast du?“ „Ersch-sch-sch-schossen!“, schreit Tom. Er lacht schallend. Sieht eine blutverschmierte Hand, Glockenblumen, die sich im Wind wiegen, leblose Augen. „Bist du besoffen, Junge?“, jetzt schreit auch Jeff. „Natürlich bin ich besoffen, du Arschloch! Ich habe sie erschossen!“, kreischt Tom hysterisch. Tränen laufen über sein hochrotes Gesicht. Dann kotzt er unkontrolliert vor die Eingangstür der Schänke. „Tom? Tom!“ „Es sind Menschen, Vater. Wusstest du das?“ Ein langer Rotzfaden hängt aus Toms Nase. Geräuschvoll zieht er ihn nach oben. „Und ich habe sie abgeknallt.“ Er wirft das Handy gegen die Hausmauer und kotzt sich die Seele aus dem Leib.
„Gottlieb Kahrbauer?“ „Spreche ich mit Gottlieb Kahrbauer?“, fragt eine verzerrte Stimme. „Das habe ich doch gerade gesagt, oder?“, antwortet der Journalist verärgert, er ist kurz davor den Hörer wieder aufzulegen. „Es geht um Namur“, schnarrt die ano- nymisierte Stimme. Ein einziges Wort und schon hat der unbe- kannte Anrufer Kahrbauers volle Aufmerksamkeit. „Ich höre zu“, sagt er mit Bestimmtheit. „Die haben Menschen getötet!“ Trotz Stimmverzerrung klingt der Sprecher verzweifelt. Kahrbauer glaubt ein Schluchzen hören zu können. „Haben Sie irgendwelche Beweise?“ stellt er die einzige Frage, die wirklich von Belang ist. „Ich habe alle Beweise, die Sie sich wünschen können. Aber zuerst müssen Sie sie retten!“ „Wen muss ich retten?“, fragt Kahrbauer irritiert, ungeduldig winkt er seine Frau fort, die gerade eine Tasse Tee ins Arbeitszimmer bringt. „Es sind zweiundzwanzig Men- schen bei der Explosion entkommen. Einundzwanzig wurden ver- nichtet. Eine Frau lebt noch. Sie müssen sie finden!“ „Wie stellen Sie sich das vor?“ Kahrbauer weiß nicht genau, was er von seinem Gesprächspartner halten soll. „Können wir uns treffen?“, fragt er geradeheraus. „Nein!“ Die verzerrte Stimme überschlägt sich. „Dann weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen soll.“ Kahrbauer wartet geduldig, ob der Anrufer nach dem Köder schnappt. „Okay, ein Treffen“, willigt dieser schließlich ein. „Wie darf ich Sie anspre- chen?“, fragt der Journalist. Es ist lange still am anderen Ende der Leitung. Man kann förmlich fühlen, wie jemand mit einer Ent- scheidung ringt. „Nennen Sie mich Tom“, antwortet die verzerrte Stimme.

© sybille lengauer