Heinrich
Wenn du den Leuten erzählst, dass du von Beruf Barkeeper bist, denken die meisten sofort du würdest nur nächtelang hinter irgendeinem schummrig beleuchteten Tresen lehnen, gelegentlich ein wenig Alkohol ausschenken und endlos Gläser polieren. Sie stellen sich vor, deine Hauptaufgabe bestünde darin besoffenen Vollversagern zuzuhören, die ihr Herz ausschütten und ihr Bewusstsein zuschütten wollen und ihnen das Geld mit überteuerten Cocktails aus der Tasche zu ziehen. Irgendwie kommt ihnen nie in den Sinn, dass der Beruf des Barkeepers ein echter Knochenjob ist: die langen, langen Nachtschichten im Stehen (hast du schon mal einen Barkeeper gesehen, der sich während der Arbeit hingesetzt hat?), die Dauerbelastung durch denn gottverdammten Lärm und der anhaltende Stress (hast du schon mal einen Landfrauen-Kegelverein zu Gast gehabt, während gleichzeitig zwei Junggesellenabschiede und eine Geburtstagsfeier stattfinden?), früher kam noch der Rauch von hunderten Zigaretten hinzu, dafür bläst dir heutzutage ständig irgendeine blöde Klimaanlage den Nacken steif – all das erträgst du mit einem Lächeln im Gesicht und einem flotten Spruch auf den Lippen, denn ein schlecht gelaunter Barkeeper macht kein Geschäft und ist bald ein arbeitsloser Barkeeper. Von der seelischen Belastung dieser gute-Laune-Diktatur, von den Bandscheibenvorfällen und entzündeten Gelenken, den Krampfadern und chronischen Hämorrhoiden will ich gar nicht erst anfangen, doch all das sehen die Leute nicht, wenn du ihnen erzählst, dass du Barkeeper bist, sie sehen nur ein Klischee, das sich in ihren Köpfen festgesetzt hat und das genügt ihnen schon. Aber vielleicht muss das ja so sein, vielleicht sehen wir ständig nur die Klischees der Begriffe, ohne sie jemals wirklich wahrzunehmen, sehen immer nur die fadenscheinige Kulisse, ohne dahinter schauen zu wollen. Darum halten wir anzugtragende Bankiers für schlau und kopftuchtragende Putzfrauen für dumm und Barkeeper eben für so etwas wie das Inventar einer Bar, ein mobiler Getränkespender mit Puls, gesichtslos und zur erleichterten Handhabung mit einem Namensschild versehen, auf dem nur der Vorname steht: ‚Es bedient Sie Roberto‘ und alles wird gut. Und vielleicht ist es richtig, sich nicht allzu sehr für sein Gegenüber zu interessieren, da wir ja allesamt, ganz nach Klischee, unser Päckchen zu tragen haben und wo kämen wir da hin, wenn sich jeder ständig für die Lebenszustände des anderen interessieren und sogar noch verantwortlich fühlen müsste? Wir würden aufgerieben werden und schließlich den Verstand verlieren, so wie diese armen Irren, die sich die Schädel kahlrasieren und auf der Straße Umarmungen für Krishna verteilen oder was weiß ich – oder wir würden Tag und Nacht Tränen vergießen ob der schieren Ungerechtigkeit der Welt und unseres Lebens nicht mehr froh.
Heinrich war so ein erzsentimentaler Typ, auch wenn man das aufgrund seiner grobschlächtigen Erscheinung nicht vermutet hätte. Er sah aus wie ein brutaler Fleischhauer oder ein minderbemittelter Straßenboxer, du weißt schon, mit einer zerquetschten Blumenkohlnase im hässlichen Gesicht, mit winzigen Äuglein, wulstigen Lippen, einem gedrungenen, tonnenförmigen Körper, der zu gleichen Teilen aus festem Muskelfleisch und hartem Fett zu bestehen schien und abnorm riesigen Händen, die wie deformierte Klodeckel aussahen. Die fadenscheinige Kulisse seines abstoßenden Äußeren wies ihn als brutalen Wüstling aus, doch dahinter steckten ein wacher Verstand und ein butterweiches Herz, das an der Welt zu zerbrechen drohte. Nie im Leben wäre man auf den Gedanken gekommen, dass Heinrich ein erfolgreicher Privatdetektiv war und genau darin bestand wohl sein großer Vorteil, man unterschätzte ihn mit grausamer Beiläufigkeit, sofern er überhaupt wahrgenommen wurde, denn Heinrich konnte, wenn er wollte, so unauffällig sein wie eine tote Ratte im Rinnstein, man bemerkte ihn erst, wenn man fast auf ihn trat. Ich möchte wetten er hätte sein brutales Aussehen liebend gerne gegen eine attraktivere Erscheinung eingetauscht, aber das Leben ist eben kein Wunschkonzert und so machte er das Beste aus seinen verborgenen Talenten, er wurde nicht Fleischhauer, er wurde nicht Straßenboxer, er wurde ein gut bezahlter Schnüffler, der untreuen Ehepartnern nachspionierte, hinterfotzigen Betrügern das Handwerk legte oder vermisste Personen ausfindig machte, nachdem die Polizei schon lange aufgehört hatte nach ihnen zu suchen. Heinrich betonte mehrfach, dass er über lange Jahre große Befriedigung aus seinem Beruf gezogen hatte, der eigentlich vielmehr einer Berufung als einer normalen 0815-Beschäftigung gleichkam. Er steckte sein Herzblut in jeden einzelnen Fall und war erst dann zufrieden, wenn auch seine Klienten zufriedengestellt waren (was ihm erstaunlich häufig gelang, er war wirklich verdammt gut in seinem Metier und das sage ich nicht nur, weil er ein feiner Kerl war. Ich kenne eine Menge Leute. Ich habe mich umgehört.). Im Grunde hatte er sich recht behaglich in seinem Leben eingerichtet, auch wenn er manchmal, in einem melancholischen Moment, den Sinn seiner Existenz hinterfragte und besoffen vor Weltschmerz den Mond anheulte – wer tut das nicht, von Zeit zu Zeit? Seine grundsätzliche Lebenseinstellung war jedenfalls positiv, bis er über den einen Auftrag stolperte, der ihm das Genick brechen sollte, jenen Fall, der ihn zu einem gebrochenen, tieftraurigen Menschen machte, den die undurchsichtige Strömung des Zufalls schließlich an meinen alkoholgetränkten Arbeitsplatz spülte: Das Verschwinden der vierzehnjährigen Cindy Nabicht.
Heinrich tauchte eines Abends an meinem Tresen auf; wie so viele Gäste davor und danach grüßte er mit einem knappen Kopfnicken und verlangte, ganz altbacken, nach Bier und einem Doppelten. Ich erwiderte den Gruß, servierte das Gedeck und nahm unauffällig Maß, sah er doch wie ein fieser Schläger aus dem Bilderbuch aus, der Ärger und zerbrochenes Mobiliar versprach – doch irgendetwas an seiner Ausstrahlung ließ mich zügig erkennen, dass von diesem ungeschlachten Kerl keinerlei Gefahr zu erwarten war, es wirkte vielmehr, als habe sich die personifizierte Traurigkeit an meinen Tresen gesellt, ein Sorgentropf mit Mördervisage, der nur in Ruhe seinen Kummer ertränken wollte. Ich beachtete ihn also nicht weiter als nötig, versorgte nur seinen Durst regelmäßig mit Nachschub und ließ ihm seinen Frieden, denn traurige Trinker soll man nicht unterbrechen. Außerdem hatte ich ordentlich zu tun, der Laden war, wie so häufig, bis auf den letzten Zentimeter vollgestopft mit Gästen. Erst als sich die Nacht dem Ende neigte und nur noch wenige Ausdauertrinker die Bar bevölkerten, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf jenen vierschrötigen Klotz, der still auf einem Barhocker saß, sich mit schier mechanischer Präzision betrank und dabei wirkte wie ein einziges elendes Seufzen. Ich überlegte, ob und wie ich ihn ansprechen sollte, doch noch bevor ich einen passenden Spruch aus meinem reichhaltigen Konversations-Potpourri hervorkramen konnte, richtete er seine kleinen Äuglein auf mich und schüttelte andeutungsweise den Kopf. Ich verstand und hielt die Klappe, stellte nur ein weiteres Gedeck vor ihm ab und trollte mich wieder, ich zwinge niemandem ein Gespräch auf, so einer bin ich nicht. Meine Reaktion schien ihm zu gefallen, er gab später ein großzügiges Trinkgeld, bevor er mit mächtig Schlagseite aus der Bar hinaus wankte. Am nächsten Abend, kurz nach der Happy Hour, war er wieder da, bestelle Bier und einen Doppelten und das Spiel begann von vorn. Drei Wochen lang ging das so, Heinrich tauchte am Tresen auf und nickte zur Begrüßung, trank die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen und verschwand, ohne einen Satz gesprochen zu haben, selbst seine immergleiche Bestellung brauchte er nicht mehr zu artikulieren und darüber zeigte er sich hochzufrieden, das Trinkgeld war regelmäßig reichlich und Heinrich avancierte bald zu meinem liebsten Stammgast, er verursachte keinen Ärger, stand niemandem im Weg und trank in beachtlichen Mengen, hätte ich mehr Gäste wie ihn, ich wäre tiefenentspannt wie der adipöse Kater meiner noch adipöseren Vermieterin, der den ganzen Tag nur faul in der Sonne herumliegt und die Fliegen an der Fensterscheibe beobachtet.
Eines frühen Morgens, als ich bereits die helle Deckenbeleuchtung eingeschaltet hatte, die selbst die hartnäckigsten Irrlichter hinaus auf die Straße treibt, brach es plötzlich aus Heinrich heraus und er begann zu reden. Hart und schnell, es hatte den Anschein, als wollten die Worte, die sich über die Wochen hinter seinen unschönen Lippen aufgestaut hatten alle auf einmal ausgespuckt werden, sie drängten hervor und reihten sich im Stakkato aneinander, ganz ohne Punkt und Komma. „Ich hätte ihn fast getötet“, begann er und ich hielt erstaunt in meiner Abrechnung inne und fragte mich, ob ich richtig gehört hatte, doch Heinrich achtete nicht auf meine Reaktion, sondern redete einfach weiter. „Ich hätte ihm fast das Licht ausknipst, dabei ist er doch auch nur ein armer, alter Trottel, der es nicht besser weiß, oder nicht? Er hat sie abgöttisch geliebt und wollte nur das Beste für sie und jetzt muss er mit der Schuld leben, auch wenn er das heute noch nicht einsehen kann, nicht einsehen will. Er hat sie dazu getrieben, seine Ignoranz hat sie in den Tod getrieben, aber wir alle tragen Mitschuld an diesem elenden Zustand, weil wir alle verantwortlich sind für den Zustand unserer Gesellschaft und das müssen wir akzeptieren, oder nicht?“ Er schaute mir ganz unvermittelt in die Augen und ich zuckte vielleicht ein bisschen zurück, als ich den überwältigenden Schmerz in ihnen lodern sah, ich wusste nicht mehr zu antworten, als mit einem nichtssagenden Schulterzucken zwei Bier zu zapfen, eines stellte ich vor ihm ab, das andere war für mich, ich prostete ihm zu, er seufzte und trank in langen Schlucken, dann kramte er sein Portemonnaie hervor, legte einen großzügigen Betrag auf den Tresen und ging, ohne noch etwas zu sagen.
Tagelang keine Spur von Heinrich. Ich ärgerte mich nicht wenig, weil ich fürchtete, ihn mit meiner spärlichen Reaktion vergrault zu haben und fragte mich insgeheim, ob er sich vielleicht das Leben genommen hatte, sein Blick war so unbeschreiblich schmerzerfüllt gewesen, es hätte mich nicht groß gewundert, wenn er sich den Strick genommen hätte, vor meinem geistigen Auge sah ich ihn schon baumeln. Wäre nicht der erste Gast, den ich an die große Traurigkeit verlor, Selbstmord kommt in den besten Familien vor, oder wie heißt das noch schnell? Doch eine Woche später, kurz nach der Happy Hour, war Heinrich wieder da, stellte sich an den Tresen und grüßte mit einem knappen Kopfnicken, so als wäre nichts gewesen. Das sehr wohl etwas gewesen war, erkannte ich an seinem verwahrlosten Äußeren, sein Hemd war dreckig und zerknittert und hing vorne aus der Hose, die Hose selbst war mit dunklen Flecken übersäht, Heinrich sah aus, als hätte er im Rinnstein gelegen und vielleicht hatte er das auch, wer konnte das schon wissen. Sein Gesicht wirkte verquollen, die Haut wächsern und bleich, seine kleinen Augen waren unter dicken Augenringen zu winzigen Punkten geschrumpft und all das wurde umrandet von einem stoppeligen Drei-Tage-Bart, der ihn noch ungepflegter und bedrohlicher erscheinen ließ. Ich servierte sein übliches Gedeck und bemühte mich, ihn nicht allzu intensiv anzustarren, doch er schien meinen Blick trotzdem zu bemerken, denn er runzelte zerknirscht die Stirn und stopfte sich das Hemd in die Hose. Ich stellte ihm daraufhin einen weiteren Doppelten hin, sagte in ruhigem Ton „geht auf’s Haus“ und zog mich wieder zurück, immerhin wollte ich ihn nicht wieder verschrecken, sondern nur meine Sympathie ausdrücken, ohne überheblich zu wirken. Heinrich verstand die Geste, schien sich sogar darüber zu freuen, ein kurzes Lächeln huschte über sein abstoßendes Gesicht, doch dann wurde es schnell wieder finster, die Schwermut drückte seine Mundwinkel herunter und es war, als hätte es nie ein Lächeln gegeben.
Heinrich fand schnell wieder in seinen alten Rhythmus, er trank mit stiller Entschlossenheit und ignorierte den ausgelassenen Trubel, der an allen Ecken gegen die Bar brandete, bis die Gäste schließlich immer weniger wurden und so etwas wie Ruhe einkehrte, nur unterbrochen von den gelallten Unterhaltungen der wenigen Hartgesottenen, die bis zuletzt nicht nach Hause gehen wollten. Ich hielt mich unauffällig in Heinrichs Nähe auf und wartete gespannt, ob er so kurz vor der Sperrstunde wieder Redebedarf zeigen würde, ich war neugierig, das muss ich offen zugeben und ich bin nur selten neugierig, denn die meisten Geschichten hast du schon einmal zu of gehört, wenn du längere Zeit in meinem Job bist, das ist wie bei Taxifahrern und Friseuren, wir haben alle schon alles gehört, mindestens vierzig Stunden die Woche, für viel zu wenig Lohn. Aber Heinrich hatte so etwas an sich, ich kann es nicht näher beschreiben, es war nicht zu greifen, nicht zu erklären, aber es machte ihn interessanter als die meisten Menschen, mit denen ich in meinem Leben zu tun hatte. Ich hoffte also, dass er wieder ein Gespräch beginnen würde, forderte es sogar heraus, indem ich ab und an versuchte Blickkontakt herzustellen und tatsächlich hatte ich Glück, Heinrich erwiderte meinen Blick und etwas sagte mir, dass er nun soweit war, er wollte endlich loswerden, was ihn so sehr belastete. Ich sorgte also dafür, dass wir ungestört waren, zapfte zwei Bier, kramte den letzten verbliebenen Aschenbecher aus der großen Schublade, der aus nostalgischen Gründen das große Rauchverbot überstanden hatte, umrundete den Tresen, zog einen Hocker heran und setzte mich neben Heinrich. Ich bot ihm eine Zigarette an, wir rauchten und beobachteten den Zigarettenrauch, der die verlassene Bar in verschlungene Nebel tauchte und ich fühlte so etwas wie Verbundenheit mit diesem unansehnlichen Kerl, der sich nun endlich namentlich vorstellte und mir ganz altmodisch die Hand schüttelte, so als wären wir einander offiziell bekannt gemacht worden.
Das Gespräch kam erst nur stockend in Gang, Heinrich erzählte in sprunghaften Anekdoten von seinen Erfahrungen als Privatdetektiv, ich plauderte daraufhin auch ein wenig aus dem Nähkästchen und gab ein saftiges Geschichtchen zum Besten, um die trübe Stimmung aufzulockern, doch es war als würde man versuchen einen Ziegelstein zu unterhalten, Heinrich hörte zwar zu, doch er zeigte keinerlei Emotion, nicht einmal ein Schmunzeln war ihm zu entlocken. Ich hörte also auf ihn unterhalten zu wollen und hörte lieber zu, was er zu sagen hatte, auch wenn es schwierig war einen roten Faden zu entdecken, ich dachte, dass er irgendwann schon zum Punkt kommen würde und ließ ihm die Zeit, die er brauchte. Wir rauchten und tranken, Heinrich erzählte und ich hörte zu, Zeit verging ungemessen und es fühlte sich bald an, als säßen wir seit unendlichen Stunden an der Bar, zeitlos ins Gespräch vertieft, zwei undurchschaubare Gestalten, die sich langsam annäherten. „Ich liebe meinen Beruf“, sagte Heinrich schließlich und ich nickte zur Bestätigung und hob das Glas an die Lippen. „Ich liebe meinen Beruf“, wiederholte er mit Nachdruck, „aber ich kann nicht mehr. Es geht einfach nicht mehr.“ Er ließ den Kopf hängen und seufzte schwer, ich trank schweigend und wartete ab, wie es weitergehen würde. „Es ist alles so sinnlos geworden“, murmelte Heinrich und ich wusste, wir waren nun kurz davor den Kern seines Kummers zu ergründen. „Was ist denn passiert?“, fragte ich möglichst neutral, um nicht aufdringlich zu erscheinen und endlich begann Heinrich zu erzählen.
„Es fing an wie ein ganz normaler Auftrag. Eine vermisste Person, weiblich, minderjährig, soziale Unterschicht, der Vater alleinerziehend. Wahrscheinlich eine Ausreißerin, also nichts, was die Polizei auch nur einen Furz lang interessieren würde und genau so verhielten die sich auch, eine ordentliche Suchaktion gab es nicht, nur ein bisschen Papierkram wurde aufgehäuft und damit war die Sache aus offizieller Sicht erledigt. Für Cindys Vater war allerdings gar nichts erledigt, er war überzeugt, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war und die Untätigkeit der Polizei versetzte ihn in hilflose Wut. Also engagierte er mich, nachdem er sich in den entsprechenden Kreisen umgehört hatte und obwohl er wusste, dass mein Honorar nicht billig war, war er fest entschlossen den Besten zu engagieren. Auch wenn ich eigentlich nicht zum Protzen neige, ich bin eben wirklich gut in meinem Beruf. Also kam Thomas Nabicht an einem verregneten Vormittag in mein Büro, legte ein großes Bündel Geldscheine auf den Tisch und verlangte, dass ich seine vermisste Tochter aufspüren sollte, tot oder lebendig, nur finden sollte ich sie und ich verstand, dass er damit nicht auf die alten Suchplakate im Western anspielte, sondern nur sehr ungeschickt die Befürchtung ausdrückte, dass Cindy nicht mehr am Leben war. Ich akzeptierte den Fall, vielleicht weil der Vater mir leid tat, vielleicht weil ich gerade nichts spannenderes zu tun hatte, ich kann es nicht mehr mit Sicherheit sagen. Hätte ich nur die Finger davon gelassen, aber hinterher ist man ja immer klüger, nicht wahr? Also begann ich die üblichen Fäden zu ziehen, ich erkundigte mich an den gängigen Orten, an denen sich die Jugendlichen aus ihrer sozialen Schicht regelmäßig trafen, befragte ihre Freundinnen und Schulkolleginnen, kontaktierte einige Bekannte, die in der Ausreißer-Szene unterwegs waren, Streetworker, Zuhälter und alles dazwischen. Ich bohrte und grub und bald schon kristallisierte sich die Erkenntnis heraus, das Cindy ein lebenslustiges und humorvolles Mädchen war, das gut in der Schule zurechtkam, einen stabilen Freundeskreis hatte und generell wenig Gründe, plötzlich Hals über Kopf davonzulaufen. Stattdessen schälte sich aus den vielen Gesprächen ein Name hervor, den die Polizei bei ihrer nachlässigen Suche sicherlich nicht zu hören bekommen hatte, genau wie die Tätigkeit, die mit dem Namensträger in Verbindung stand. Es handelte sich um einen berüchtigten Engelmacher, ich glaube, so nennt man diese Leute mittlerweile wieder, in seinem früheren Leben war er Krankenpfleger in einem Seniorenheim, jetzt nahm er illegale Schwangerschaftsabbrüche vor, die manchmal auf fatale Weise endeten. Mich beschlich ein mulmiges Gefühl, ich dachte tatsächlich daran den Fall zu beenden oder an einen Kollegen abzutreten, denn die Richtung, in die sich das alles entwickelte, gefiel mir immer weniger, doch mein Berufsethos zwang mich weiterzumachen, auch wenn mir von Tag zu Tag mehr das Lachen verging, ich fühlte mich auf eine verquere Art verantwortlich und das auf mehreren Ebenen und nicht nur, weil ich das Geld des Vaters angenommen hatte. Ich war damals gegen das verdammte Gesetz der Konservativen, das Abtreibung wieder zu einer Straftat erklärt hat, ich wusste genau, was das für viele Frauen und Mädchen bedeuten würde, aber weder bin ich wutentbrannt auf die Straße gegangen, noch habe ich mich sonst irgendwie engagiert, ich habe das Gesetz nur, wie so viele, still missbilligt und das bedaure ich bis heute zutiefst. Es ist eine Schande, wie viel Leid dieses kurzsichtige Verbot in den letzten Jahren angerichtet hat, es ist in meinen Augen ein absolutes Verbrechen an den Frauen, das wir tatenlos mitansehen. Wir alle tragen Schuld, wir haben als Gesellschaft versagt, jeder einzelne von uns hat versagt und damit sind wir auch allesamt schuld am Tod von Cindy Nabicht.
Cindy war bei einem One-Night-Stand ungewollt schwanger geworden, vielleicht gab es einen Unfall und das Kondom war gerissen, vielleicht hatte sie in ihrem jugendlichen Übermut auch ganz auf Verhütung verzichtet, es ist egal, auf welche Art das Unglück bei der Tür hereinkommen konnte, wichtig war nur das Ergebnis und das sollte ihr restliches Leben beeinflussen. Cindy war vierzehn Jahre alt, ohne ordentlichen Schulabschluss und mit einem Baby als Ballast wäre sie jeglicher Perspektive beraubt, die ohnehin geringe Aussicht auf ein besseres Leben wäre für immer dahin und so blieb aus ihrer Sicht nur ein möglicher Ausweg und der hieß illegale Abtreibung. Cindy bezahlte diese Entscheidung mit ihrem Leben und ich kann mir nicht vorstellen – ich will mir nicht vorstellen – wie groß ihr Leid in den letzten Minuten gewesen sein muss, wie groß die Angst. Sie verblutete in einem dreckigen Hinterzimmer, während ein unfähiger Ex-Krankenpfleger mit seinen widerlichen Gerätschaften in ihr herumstocherte und ich kann nur hoffen, dass sie unter Betäubung stand, genau wissen kann ich es nicht, denn eine konkrete Aussage habe ich diesbezüglich natürlich nicht aus dem Schweinehund herausholen können. Als er endlich bemerkte, dass die Kleine tot war, hat er sie bis zur Nacht in eben diesem Hinterzimmer unter einem Haufen alter Decken und Kartons verborgen und einfach sein Tagwerk weitergemacht, als wäre nichts gewesen, später hat er die Leiche aus der Stadt geschafft und in einem Weiher versenkt, ich habe die Stelle schließlich gefunden, aber von Cindy war nicht mehr viel übrig nach all den Monaten. Und was macht der Vater, dieser irre Idiot? Leugnet erst, dass seine Tochter jemals Schwanger gewesen sein könnte und entzieht mir den Auftrag unter großem Geschrei, nur um zwei Tage später dem Engelmacher aufzulauern und ihm ein Messer zwischen die Rippen zu stecken. Ich hätte ihn erschlagen können und beinah hätte ich es auch getan, denn ich fand ihn noch vor der Polizei und stellte ihn zur Rede, aber es war nicht mehr viel mit ihm anzufangen, er hatte völlig den Verstand verloren und faselte nur noch von seiner Ehre und der Ehre seiner Tochter, die es wiederherzustellen gelte. Dabei hat dieser hohle Wertekatalog von Ehre und Reinheit und all dem Mist sie doch gerade erst in den Tod getrieben, aber das verstehen die Thomas Nabichts dieser Welt nicht, oder vielleicht immer erst dann, wenn es zu spät ist.“
Heinrich atmete schwer, in seinen kleinen Augen glänzten Tränen und seine riesige Klodeckelhand zitterte, als er das Bierglas anhob, um zu trinken. Er sah mitgenommen aus und auch mich hatte die Geschichte nicht unberührt gelassen, auch wenn es im Grunde ein übliches Familiendrama war, wie man es immer wieder in den Nachrichten hört, die Tochter tot, der Vater ein Mörder, nichts ist mehr, wie es vorher war und doch ist es nur eine Geschichte von vielen, an die sich bald kein Mensch mehr erinnert. Doch für Heinrich war es der berühmte Tropfen, der das Faß zum überlaufen brachte und sein geordnetes Weltbild wanken ließ, bis es schließlich über seinem Kopf zusammenkrachte und ihn unter sich begrub. Er war ausgebrannt, hatte sich emotional aufgerieben an einer Tragödie, deren Verlauf er nie hätte ändern können und nun saß er hier und betrank sich, um den Schmerz zu vergessen, der ihn aufzufressen drohte. Ich drückte meine Anteilnahme aus, aber mir war klar, dass es Heinrich nie um mein Mitgefühl gegangen war, ihm lag nur daran, sich endlich von der Seele zu reden, was ihn so sehr belastete und ich war eben der geeignete Empfänger. Ich verstand instinktiv, dass ich meine Aufgabe erfüllt hatte und nun nichts weiter blieb, als diesem gebrochenen Menschen die Hand zu drücken und ihm alles Gute zu wünschen, auch wenn das vielleicht dämlich klingen mag, in diesem Moment, an diesem Ort war es richtig. Heinrich drückte meine Hand in freundschaftlicher Wärme, dann rutschte er bedächtig vom Barhocker, kramte einige zerknitterte Geldscheine aus seinen Hosentaschen und stapelte diese auf dem Tresen zu einem schiefen Häufchen. „Das ist der Rest vom Nabicht-Honorar. Ich will es nicht mehr. Stimmt so“, sagte er mit düsterem Gesichtsausdruck und wandte sich zum Gehen, doch nach wenigen Schritten blieb er stehen und drehte sich noch einmal nach mir um. „Danke für alles“, sagte er leise, aber gut hörbar, dann ging er und kam nicht wieder.
Ein paar Monate später hat er tatsächlich zum Strick gegriffen, ich erfuhr es aus einem schlichten Nachruf in der Zeitung, der zwar nicht von Selbstmord sprach, aber doch recht eindeutig formuliert war, ‚Plötzlich und überraschend aus dem Leben geschieden‘, stand da und wer das nicht versteht, der schläft noch auf Bäumen. Um ehrlich zu sein, ich fühlte mich mehr bestätigt als schockiert, denn ich hatte schon vermutet, dass Heinrich mit seinem Leben abgeschlossen hatte und was bleibt einem auch übrig, wenn man angesichts der Schlechtigkeit der Welt die Hoffnung verliert, man verkümmert im Geist wie im Herzen, bis der Tod wie eine Erleichterung erscheint. Ist nur schade, dass es immer die Guten erwischt, aber so ist das eben, die Schlechten kümmert es ja auch nicht.
© sybille lengauer