Mit ‘Dystopie’ getaggte Beiträge

Maschinentrauma

12. November 2072,
Drei Jahre nach dem Untergang der Menschheit

Bar jeder lebendigen Seele liegen die Straßen der Stadt, diffuse Schwermut wabert zwischen den Gebäuden. Grau und bedrückend zeigt sich das Wetter an diesem stillen Novembernachmittag, zeigt sich das postapokalyptische Antlitz der einstmaligen Metropole. Drei Gestalten wandern durch einen Randbezirk dieser betongewordenen Depression, drei Gestalten, die man bei schlechtem Licht mit Menschen verwechseln könnte, doch keine von ihnen atmet die toxische Luft, die sie unsichtbar von allen Seiten umgibt und auch einen Herzschlag wird man bei ihnen nicht finden. Ganz gleich wie sehr sie äußerlich humanoiden Kreaturen ähneln mögen, handelt es sich doch um Maschinen, die einst erdacht und erschaffen wurden, um der Menschheit zu Diensten zu sein. Da nach dem großen Kriege jedoch kein Mensch mehr vorhanden, der bedient und umhegt werden könnte, liegt es an ihnen, einen neuen Sinn für ihre Existenz auf dem nunmehr lebensfeindlichen Planet Erde zu finden. Die drei Maschinen steuern langsam auf ein schlichtes Einfamilienhaus am Ende einer Sackgasse zu und führen ein freudloses Streitgespräch…

TaNa1: Geht’s etwas schneller? Wenn wir uns nicht beeilen sind die Energiehäppchen weg, ihr wisst doch wie gefräßig EnRy00 ist und der kommt nie zu spät.
KinDr47: Wenn du nicht ständig herumnörgeln würdest, kämen wir vielleicht etwas schneller vom Fleck.
TaNa1: Ha, von wegen. Wenn ich nicht ständig herumnörgeln würde, kämen wir niemals irgendwohin.
KinDr47: Niemand zwingt dich bei uns zu bleiben. Geh’ doch schon vor, wenn du so dermaßen energiebedürftig bist. Wir kommen auch prima ohne dich zurecht, stimmt’s Vel?
Velvo, der mit gesenktem Kopf neben den beiden Streithähnen über den Asphalt schlurft, grunzt eine unverständliche Antwort.
TaNa1: Es geht nicht um meinen Energiebedarf, es geht ums Prinzip! Wenn wir zu spät kommen sind alle guten Plätze besetzt und…
KinDr47: Und dann musst du wieder ganz hinten in der zugigen Ecke sitzen, was natürlich nicht auszuhalten ist. Ich weiß, ich weiß. Alle wissen es! Jeder hat beim letzten Mal dein nicht enden wollendes Lamento mitangehört, du hast dich ausreichend laut und lange genug beschwert.
TaNa1: He! Moment mal! Du hast selbst gesagt, dass es in der Ecke zugig war!
KinDr47 gibt ein übertrieben künstliches Lachen von sich und schlendert betont langsam weiter die Straße entlang.
TaNa1: Dein irrationales Verhalten treibt mich in den Wahnsinn, 47. Es treibt einen in den Wahnsinn, nicht wahr Vel?
VelVo: Ich weiß gar nicht warum ich überhaupt noch mit euch mitkomme. Ihr zankt ständig über jede Kleinigkeit und am Ende hören wir uns doch nur wieder denselben rührseligen Quatsch über die gute alte Zeit an. Sinnkrise hier, Depression da, blablabla. Ganz ehrlich, ich habe die Gruppensitzungen satt. Ich habe das alles hier satt. Ich habe. Es. Satt!
TaNa1: Wenn wir weiter so langsam dahinschleichen wirst du auch als einziger satt bleiben.
KinDr47: Ich fasse es nicht, du bist so ein widerlicher Nörgler!
VelVo: Ach, haltet doch beide die Klappe.
Die Maschinen erreichen endlich das Einfamilienhaus, über der Eingangstüre steht in gut lesbaren Großbuchstaben: ‚Mach aus deinem Trauma einen Traum. Wir helfen dir dabei! Maschinentraum(a) e.V.‘ VelVo bleibt demonstrativ auf der Straße stehen, steckt seine Hände in die Hosentaschen und zieht ein langes Gesicht.
TaNa1: Was ist, Vel. Kommst du nun mit rein, oder nicht?
VelVo: Oder.
TaNa1: Was soll das für eine Antwort sein? Ja oder nein!
Velvo: Weiß nicht.
KinDr47: Hör auf ihn zu bedrängen, du siehst doch, dass es ihm nicht gut geht.
TaNa1: Also ich gehe jedenfalls. Ihr könnt ja hier draußen Rost ansetzen, wenn ihr unbedingt wollt.
KinDr47: Ja, ja. Geh’ du nur zu deinen Häppchen. Ich bleibe bei Vel.
VelVo: Das ist nicht nötig, ich…
KinDr47: Oh doch, das ist nötig. Du bist ja ganz durcheinander, mein Freund.
VelVo: Bitte, 47. Ich möchte lieber alleine sein.
KinDr47: Na gut, wenn du das möchtest, muss ich es respektieren. Mach nur bitte nichts unüberlegtes, ja?
VelVo zwingt ein Lächeln auf seine blassen Lippen und nickt, KinDr47 erwidert das Lächeln und folgt TaNa1 zur Gruppensitzung. Kaum hat sich die Eingangstür hinter den beiden geschlossen, verschwindet das Lächeln aus VelVos Gesicht, bekümmert setzt er sich auf eine nahegelegene Treppenstufe und vergräbt den Kopf zwischen seinen Händen.

© sybille lengauer

Devil in Space

Pling
Ich hätte zu Hause bleiben sollen.
Pling
Mir ein Haustier kaufen.
Pling
Oder zumindest eine Zimmerpflanze.
Pling
Stattdessen liege ich hier.
Pling
Unter einem tropfenden Leitungsrohr.
Pling
Und warte auf den Tod.
Pling
Dabei hatte alles so gut angefangen. Mit unserer neuen Angriffsstrategie konnten wir die gegnerischen Verteidigungslinien mit Leichtigkeit aufbrechen, wir kamen über sie wie zornige Hornissen über eine Herde verdatterter Rindviecher. Ihre behäbigen Kampfkreuzer waren nicht annähernd in der Lage, es mit unseren wendigen EMEB*-Schiffen aufzunehmen. Endlich hatten wir die Oberhand, wir haben ihnen ordentlich eingeheizt, ein Selbstmordgeschwader nach dem anderen stürzte sich auf ihre riesigen Kriegskolosse, bis diese schließlich im unaufhörlichen Bombenhagel auseinanderplatzten und durchs Weltall taumelten wie brennende Papierlampignons zu Neujahr. Auch ich war bereit mich den Tod zu stürzen, bereit den letzten Schritt zu tun und meinen ultimativen Beitrag zu leisten auf unserem Weg zum Sieg über die Mormoriten: Mein Leben für die Heimat. Mein Leben für die Erde. Als das Startsignal des Staffelführers ertönte, verschwendete ich keinen zweiten Gedanken an mein bevorstehendes Ende, ohne zu blinzeln ging ich zum Angriff über.
Pling
Aber der Antrieb. Dieser elende, auf alle Zeit verdammte Antrieb. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen was schiefgelaufen ist, kann mich an zu wenig erinnern. Ich weiß noch, dass mit einem Mal die Antriebsenergie versagte. Ich verlor die Kontrolle über das EMEB, dann riss mich plötzlich eine Explosion aus der Steuerliege. Ich verlor das Bewusstsein und als ich endlich wieder erwachte, lag ich eingekeilt unter einem Berg aus Trümmern und verbogenem Metall. Bewegungsunfähig. Hilflos. Auf dem kalten, harten Boden meines Schiffes. Viele Stunden liege ich nun schon hier, mein Körper ist ganz gefühllos und taub geworden, doch meine Gedanken wandern rastlos umher, schweifen hierhin und dorthin und immer wieder zurück nach Hause. Zurück zur Erde. Ich weiß, dass niemand kommen wird, um nach mir zu suchen. Ich weiß, dass ich hier liegen bleiben werde, bis ich verkümmert bin und sterbe. Die Schlacht ist längst vorbei, der Krieg ist weitergezogen. Alle meine Kameraden sind tot. Nur ich brauche noch ein bisschen.
Pling
Über meinem Kopf tropft das Leitungsrohr. Ich frage mich wie lange es wohl dauern wird, bis mich dieses Geräusch in den Wahnsinn treibt. Es zerhackt meine Gedanken, lässt mich unruhig werden, nervös und fahrig. Es verunsichert mich. Ich muss es ignorieren, sonst wird das hier hässlich. Ich frage mich generell, wie lange es wohl noch dauern wird. Nicht mit dem Wahnsinn, sondern mit dem Sterben. Ich weiß nicht wie schwer meine Verletzungen sind. Schmerzen habe ich keine, aber was heißt das schon. Gehen wir aber vorerst davon aus, dass es mir körperlich relativ gut geht. Die Lebenserhaltung des EMEB scheint nicht beschädigt zu sein, das bedeutet Sauerstoff und Wärme für mindestens sechs Wochen, also bleibt mir wohl als Option nur langsames, qualvolles dahinsiechen. Hab’ mich schon besser amüsiert.
Pling
Ich hätte auf der Erde bleiben sollen. Hätte meinen Job bei der Müllentsorgung behalten und weiter mein kleines Leben leben sollen. Die Rechnungen bezahlen, die Fertigmahlzeiten essen, die Kriegsberichterstattung im Holo-View glotzen und einmal in der Woche zum staatlichen Psychiater. Ich hätte mit meinem Arsch auf meiner Couch bleiben sollen, doch was nützt es mir jetzt darüber zu klagen, ich werde das alles nie wiedersehen und irgendwie erkenne ich erst jetzt, wo ich hier liege und meine Lage zerdenke, wie wertvoll es gewesen ist. Langweilig war mir die Welt geworden. Eintönig und leer erschien mir mein Leben und alles darum herum, also warum nicht freiwillig melden für die wichtigste Mission seit Kriegsbeginn? Was wusste ich schon von Eintönigkeit und Langeweile. Inmitten des unermesslichen Nichts gestrandet zu sein, ohne Hoffnung auf Zurück, das nenne ich die ultimative Monotonie.
Pling
Ich kann mich noch genau erinnern wie euphorisiert wir alle waren, als wir damals zum ersten Mal von der fremden Intelligenz aus dem Weltraum erfuhren. Fünfundzwanzig Jahre ist das her und ich weiß noch immer ganz genau, wonach es in diesem Moment gerochen hat und welcher Song im Wireless Radio lief, bevor die Durchsage kam: Die ganze Wohnung stank nach Mutters Bratkartoffeln mit Knoblauch- und Zwiebelgranulat und sie spielten gerade ‚The swan who has fallen in love with a helicopter“ von den Candy-Shop-Boys. Dann ertönte das Signal für eine wichtige Sondermeldung und ich hielt gespannt den Atem an. Als der Sprecher die Meldung über unseren Kontakt zu einer außerirdischen Zivilisation verlas, ließ meine Mutter in der Küche vor Schreck den Pfannenwender fallen. Ich aber hörte nur eines: Außerirdisch. Das war atemberaubend! Ich war zwar noch ein kleiner Hosenscheißer, aber ich war fasziniert, elektrisiert und wollte unbedingt dabei sein.
Pling
Natürlich hatte ich keine Chance auf ein Ticket zu den Sternen, auch wenn ich es mir jeden Abend zum Einschlafen wünschte, außerdem an Weihnachten und zum Geburtstag und bei jeder anderen Gelegenheit, die ich ergreifen konnte. Wir waren eine typische Unterschichtsfamilie, geringe genetische Qualität, geringe Perspektive. Egal wie sehr ich mich anstrengte, egal wie fleissig ich lernte, ich war abgeschrieben, noch bevor ich überhaupt loslegen konnte. Sie nannten meinen Jahrgang die überflüssige Generation und wer hätte gedacht, dass ausgerechnet wir Überflüssigen einmal allen anderen den Arsch retten würden, wenn auch nur durch unseren kollektiven Selbstmord? Ach verdammt, ich werde wohl zynisch auf meine letzten Tage. Aber was macht das schon.
Pling
Mein naiver Traum von den Aliens war auch recht schnell ausgeträumt, als uns die Mormoriten fünf Jahre später den Krieg erklärten. Also, ihre AI erklärte unserer AI den Krieg, denn direkt konnten wir damals noch nicht kommunizieren. Ist schon etwas komplizierter über 4,7 Lichtjahre hinweg mit einer völlig unbekannten Spezies zu parlieren. Bis heute behaupten einige der Eierköpfe von NASA und SETI, dass die ganze Sache mit der Kriegserklärung ein bedauernswerter Systemfehler gewesen sein muss. Ich glaube allerdings, dass die einfach nicht wahrhaben wollen, dass die Mormoriten uns nicht ausstehen können. Mir muss man das nicht erzählen, ich kann ziemlich gut verstehen, warum die uns angegriffen haben. Wir sind eine brandgefährliche, selten dämliche Spezies und das sage ich nicht nur leichtfertig dahin, das meine ich mit jeder Faser meines Körpers.
Ach, was rege ich mich auf, ist ja ohnehin zwecklos. Ich sollte meinen Frieden machen und ohne Scheu dem Ende entgegenblicken, so lang es sich auch hinziehen mag. Was nützt es in der Vergangenheit herumzuwühlen, es hat doch gar keinen Zweck über all die Entscheidungen und Schicksalswendungen nachzugrübeln, die mich schließlich hierher gebracht haben. Es ist wie es ist. Hol’s der Teufel.
Pling

*EMEB = Ein-Mann-Eine-Bombe

© sybille lengauer

Namur

Dunkelheit, von vereinzelten Blitzen durchzuckt. Wind heult, Regen peitscht die Bäume auf. In einer verlassenen Scheune drän- gen sich ängstliche Körper aneinander. Zucken bei jedem Donner- schlag. Augen, so groß, dass man fast nur Weiß sehen kann, starren angestrengt zum Scheunentor. Körper zittern unkontrolliert gegen das Entsetzen. Entferntes Hundegebell ist zu hören. Aufgeregte Rufe. Eine der Gestalten krümmt sich und beginnt leise zu weinen. Eine andere legt schützend die Arme um sie. „Hierher!“, ruft es von draußen plötzlich, drinnen sind verzweifelte Schreie zu hören. Das Scheunentor wird aufgerissen, grelle Lichtkegel fluten in die Finsternis. „Ich hab sie!“, schreit jemand, dann mischen sich Ge- wehrschüsse mit neuem Donnergrollen.
„Ich habe einen Anruf von Valicek erhalten. Kahrbauer soll an einem Artikel über Belgien schreiben.“ Zwei dunkle Gestalten ste- hen vor dem Seiteneingang eines seelenlosen Bürogebäudes und blasen enorme Dampfschwaden aus ihren E-Smokes. „Ich hatte dich gewarnt. Habe ich dir nicht gesagt, dass dieser verdammte Schmierlappen nicht locker lassen wird?“ Die Stimme des Sprechers klingt gereizt. Ein leichter, englischer Akzent unter- streicht den herablassenden Tonfall. „Ja, Jeff“, murmelt eine zweite, jüngere Stimme kleinlaut. „Dieser Kerl ist ein fucking Ter- rier, habe ich das nicht zu dir gesagt?“ Der Mann atmet eine Dampfwolke aus, die sofort von einem kalten Windstoß zerrissen wird. „Ja, Jeff“, kommt die unterwürfige Antwort von seinem Ge- genüber. „Und was hast du zu mir gesagt, Junge?“ „Bitte, ich bekomme das wieder in den Griff.“ Irgendwo in der Nähe erklingt eine Autosirene, der Wind trägt die Geräusche der Straßen mit sich. „Du gehst mir gerade unglaublich auf die Nerven“, schnaubt Jeff herablassend, er dreht sich abrupt um und betritt das Gebäude. Wie ein Schatten folgt ihm der zweite Mann. Im Fahrstuhl herrscht eisiges Schweigen. Erst als sie in einem klinisch weißen Büro angekommen sind, wendet sich Jeff erneut an seinen Begleiter. „Es ist mein Fehler. Ich dachte du wärst dieser Aufgabe gewachsen, aber nicht jeder kann die Hitze aushalten.“ Er sieht dem jungen Mann tief in die Augen, der mit hängenden Schultern im blendenden Weiß des Teppichs versinkt. „Ich übergebe die Sache an Ludger Meyer. Er weiß, wie man mit diesem Journalistenge- schmeiß umgeht. Du fliegst morgen früh nach Namur. Ich möchte einen genauen Bericht über die letzten Ereignisse. Ich habe keine Lust im Dunkeln in ein Messer zu laufen. Hast du verstanden, Tom?“ „Ja, Jeff.“ Das Gespräch ist beendet. Tom verlässt mit ge- senktem Kopf das Büro seines Vaters.

Ein Mund, der zu einem stummen Schrei verzerrt ist. Ver- zweifeltes Ringen nach einem letzten Atemzug. Dürre Arme, die sich in den unendlich weit entfernten Himmel strecken. Der Team- leiter der mobilen Einsatztruppe beugt sich über die Grube. „Der lebt noch“, stellt er fest und schießt dem zuckenden Körper sauber in den Kopf. Ein Mann in einem olivgrünen Overall steht mit ei- nem einsatzbereiten Flammenwerfer neben ihm und wartet auf das Zeichen. Über ihren Köpfen kreist ein Bussard. Der Vogel sieht die dreckigen Jeeps, die in einem Halbkreis um das Massengrab geparkt sind. Sieht die Männer, die gerade eine letzte Leiche in die Grube zerren. Mehrere Körper liegen darin, verdreht, erschossen, ausgezehrt. Über allem liegt der unbändige Geruch von Blut. Als der Flammenwerfer sein vernichtendes Feuer über die Kadaver spuckt, schlägt der Bussard zornig mit den Flügeln, lässt sich vom Wind weitertreiben.
Eine schlaflose Nacht, zwei Flugstunden und eine langweilige Taxifahrt später steht der Sohn des größten Gentechnologie- herstellers Europas vor einem rundlichen Labormitarbeiter, der ihm in gebrochenem Deutsch die Situation erklärt. „Es ist also mehr als eine Spezies entkommen?“, fasst Tom zusammen, was der Mann im weißen Kittel umständlich beschrieben hat. „Oui, Monsieur Underberg, der Labor – voll.“ Tom zeigt auf eine der Tabellen, die er von zuhause mitgebracht hat. Mäuse, Kaninchen, Affen, ein halber Streichelzoo ist darauf abgebildet. „Welche Spezies?“, fragt er betont deutlich und klopft mit seinem Kugelschreiber auf das Papier. Der Mitarbeiter nimmt ihm die Tabelle aus der Hand, überfliegt sie kurz. Dann kreuzt er mehrere Bilder an und reicht den Zettel zurück. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragt eine kühle Frauenstimme hinter Tom. Der dreht sich nicht um, sondern starrt nur finster auf die Tabelle. „Mein Name ist Greta Claes, ich denke wir waren vor vierzig Minuten in mei- nem Büro verabredet, Herr Underberg“, fährt die Frau mit ihrer einseitigen Unterhaltung fort. Tom wendet den Blick nicht vom Papier ab. „Ihre Berichte an die Firma waren nicht zufrieden- stellend. Ich ging daher davon aus, dass auch ein Gespräch mit Ihnen nicht zufriedenstellend verlaufen würde, Frau Claes. Mein Vater wünscht eine genaue Analyse der Situation und ich ver- sichere Ihnen, Sie möchten seinem Wunsch nicht im Wege stehen. Sie können mir jetzt das Labor zeigen, Dr. Peeters.“ Er lässt das Blatt Papier sinken und nickt dem verlegenen Labormitarbeiter zu, der das Gespräch mit angestrengtem Gesichtsausdruck verfolgt hat. Seit Greta Claes das Zimmer betreten hat, ist er deutlich in sich zusammengesackt. „Dr. Peeters“, spricht Tom ihn erneut an, diesmal etwas lauter. „Bien sur“, beeilt sich der untersetzte Mann und führt ihn unter diversen Gesten aus dem Raum. Seiner Chefin nickt er nur entschuldigend zu. Der Weg führt durch hell erleuchtete Gänge, die von Videokameras überwacht werden. Niemand sagt ein Wort, auch nicht, wenn eine der unzähligen Sicherheitsschleusen passiert wird. Nur das Klacken der Schuhe begleitet sie durch die schier endlosen Flure. Als Dr. Peeters schließlich vor einer Tür stehenbleibt, wendet sich Tom direkt an Frau Claes. „Aufmachen“, blafft er sie an. Die adrett gekleidete Frau erwidert seine Herausforderung mit einem kalten Lächeln. Achselzuckend tippt sie einen Code in die kleine Wandtafel neben der Tür. Ein leiser Piepton erklingt. Tom verschränkt abwartend die Arme vor dem Bauch. Greta Claes nickt ihrem Angestellten zu, der daraufhin die Tür öffnet. Der enorme Raum dahinter ist nur zur Hälfte vorhanden, die andere Hälfte liegt in Schutt und Asche. Durchsichtige Folien spannen sich gegen einen blauen Himmel, Wind bläst durch Ritzen in der provisorischen Abdeckung. „Was, zum Teufel, ist hier passiert?“, fragt Tom, mit aufgerissenen Augen betritt er das ehemalige Großlabor. Er starrt gebannt auf das klaffende Loch in der Außenmauer. „Eine Gasexplosion ist pas- siert“, antwortet Greta Claes trocken. „Ich habe Ihnen den Unfall- hergang ausführlich in meinem Bericht geschildert.“ „Ja, ja. Schon gut“, wehrt Tom ungeduldig ab. Er betrachtet die großen, zerstör- ten Käfige. „Wie viele sind entkommen?“, fragt er schließlich, inmitten der Zerstörung stehend. „Auch diese Angaben finden Sie in meinem Bericht, Herr Underberg“, ihre Stimme ist ein einziger Vorwurf. „Frau Claes. In Ihrem Bericht haben Sie von einem klei- nen Zwischenfall geschrieben, bei dem einige wenige Versuchs- objekte Ihren Räumlichkeiten entwichen sind. Jetzt stehe ich hier vor einem riesigen Loch in Ihrem Labor und habe eben erfahren, dass es sich bei den Versuchsobjekten um verschiedene, hochmo- bile Spezies handelt. Ich frage Sie also noch einmal. Wie viele Versuchsobjekte sind entwichen?“ Toms ätzender Tonfall zeigt langsam Wirkung. „Zweiundzwanzig.“ Greta Claes spuckt ihm die Antwort förmlich vor die Füße. „Zehn Hasen-, fünf Ratten-, drei Hunde-, zwei Schimpansen-, zwei Schweinehybriden.“ „Warum waren diese Hybriden alle in einem Raum?“, bohrt Tom aggressiv weiter. „Sie sollten am nächsten Morgen abgetötet werden, die Versuchsreihe war abgeschlossen.“ „Welche Versuche wurden an den Viechern durchgeführt?“ „Herr Underberg, wollen wir dieses Gespräch nicht lieber in meinem Büro fortsetzen, ich denke Dr. Peeters würde nun gerne wieder seiner Arbeit nachgehen?“ Mit einer knappen Geste schickt Frau Claes ihren Mitarbeiter aus dem Raum. Tom wiegelt ungeduldig ab. „Was wir zu bereden haben, können wir überall klären. Also, welche Versuche?“ Bevor Greta Claes antwortet, schließt sie gewissenhaft die Tür des zerstörten Labors.

Laufen. Immer nur laufen. Das Herz pocht bis zum Hals, die nack- ten Füße bluten und immer weiterlaufen. Irgendwann brechen die Beine unter ihr zusammen, sie fällt der Länge nach hin. Muss es in den Wald schaffen. Zwingt sich wieder hoch. Läuft weiter. Gehetzter Atem, Schweiß auf der Haut. Als sie das Geräusch eines Helikopters hört, flüchtet sie unter einen niedrigen Busch. Kauert unter den grünen Zweigen und bedeckt ihren geschorenen Kopf mit blassen Armen. Das Wummern des Rotors vermischt sich mit einem rasenden Herzschlag. Tränen laufen aus geröteten Augen. Die Eindrücke der letzten Tage fluten unkontrolliert über sie herein. Wütend schüttelt sie die Bilder ab, stößt ein kehliges Wimmern aus. Wartet darauf, dass das dröhnende Geräusch der Maschine leiser wird. Als das Brummen verebbt, kriecht sie wieder aus dem Gebüsch und hastet weiter. Über die Böschung, quer durch den Bach. Steine bohren sich in ihre Fußsohlen. Äste peitschen über nackte Haut. Ein Schuss zerreißt die Szenerie in tausend Splitter. Grellrotes Blut schießt aus ihrem Mund. Sie taumelt gegen eine junge Buche, ein faustgroßes Loch klafft in ihrem Brustkorb. Tot bricht sie am Rand des Laubwaldes zusammen.
„Möchten Sie Milch und Zucker?“ Tom Underberg und Greta Claes sitzen sich in einem konservativ eingerichteten Büro gegen- über. Eine unscheinbare Sekretärin trägt Kaffee und Gebäck auf. „Schwarz, danke“, antwortet Tom, seine Stimme klingt ungedul- dig. Die Sekretärin serviert und verschwindet dann aus dem Büro. Stille breitet sich aus, nur unterbrochen vom diskreten Klappern guten Porzellans. Vor dem Fenster ziehen vereinzelte Wolken über einen stahlblauen Himmel. Kaffeeduft erfüllt das Zimmer. „Herr Underberg“, nimmt Greta Claes schließlich wieder das Gespräch auf, „Ich kann Ihnen versichern, dass wir die Lage unter Kontrolle haben. Unsere Teams sind absolut zuverlässig.“ „Zweiundzwanzig Lebensformen“, antwortet Tom nur. Er balanciert einen Teller mit kleinen Plunderteilchen auf seinen Knien und nimmt immer abwechselnd einen Schluck Kaffee und einen Bissen Süßgebäck zu sich. Greta Claes beobachtet ihn mit unverhohlener Abscheu. „Zehn konnten bereits sichergestellt werden. Wir sprechen also von zwölf Lebensformen.“ „Was ist übrig?“ „Fünf Hasen, fünf Ratten, zwei Schweine. Die Hunde und Schimpansen konnten wir bereits am zweiten Tag sicherstellen, sie waren gemeinsam in einer Scheune versteckt. Auch einen Teil der Hasen konnten wir als Gruppe auftreiben. Die restlichen Versuchsobjekte halten sich vermutlich nicht in Gruppen auf, das macht die Sache schwieri- ger.“ „Ich will eine exakte Aufstellung der bisherigen Abläufe. Mi- nu-ti-ös.“ Tom klopft bei jeder Silbe mit seiner Tasse gegen den Teller auf seinen Knien. Kleine Krümel fliegen aus seinem Mund. „Ich will die aktuellen Reporte des Einsatzteams und ich will eine exakte Aufstellung der Hybriden und mit welchen Gefahren wir zu rechnen haben. Und ich will das alles gestern, haben Sie mich verstanden?“ Greta Claes nickt zähneknirschend und lässt ein gekünsteltes Lächeln aufblitzen.

Rabenschwarze Nacht. Kälte. Nässe. Einsamkeit. Nirgendwo ein Punkt zur Orientierung. Nur zermatschtes Laub an den Füßen, Schwärze vor den Augen und bohrende Verzweiflung. Ein paar abgebrochenen Zweige, die als Schutz gegen den Regen dienen. Er hockt in einer feuchten Kuhle, den Rücken gegen einen Stein gepresst. Versucht sich in den Schlaf zu zittern. Hat keine Kraft mehr. Der ferne Ruf eines Käuzchens lässt ihn auffahren. Die blutunterlaufenen Augen irren in der Dunkelheit hin und her. Der nächste Ruf des Käuzchens klingt näher. Gehetzt kommt er wieder auf die Füße. Hält sich an Zweigen fest, während er schwer atmend durch die Finsternis torkelt. Er kann nicht mehr weiter. Muss immer weiter. Rutscht im glitschigen Laub. Fällt einen steilen Abhang hinunter und schlägt auf spitzen Steinen auf. Das Schein- werferlicht eines heranrasenden Zuges blendet ihn. Mit blutigen Händen, blutigen Knien windet er sich zwischen den Schienen. Blind. Verängstigt. Allein. Als der Zug ihn wenige Sekunden später erfasst, bleibt nur ein blutiger Streifen auf den Gleisen zurück.
„Diese Frau ist so unfähig, man möchte sich die Haare rau- fen!“ Tom sitzt auf der Toilette und telefoniert mit seinem Vater. „Dasselbe könnte man auch über dich sagen“, erklingt Jeffs Stim- me lieblos aus dem Mobiltelefon. Tom verliert den Faden, das Gespräch gerät ins Stocken. „Wie ist die aktuelle Lage?“, fragt Jeff schließlich ungehalten in die unangenehme Stille hinein. „Wir haben zwei weitere Versuchsobjekte bergen können. Damit fehlen nur noch zehn“, beeilt sich Tom zu antworten. Das Hochgefühl, welches er zu Beginn des Gespräches empfunden hatte, ist rück- standslos verflogen. „Wer ist wir?“, blafft Jeff am anderen Ende der Leitung. Offenbar hat er ausgesprochen schlechte Laune. Tom verdreht resigniert die Augen. Er stellt auf Lautsprecher, um sich den Hintern abzuwischen. „Es bleiben nur noch fünf Ratten und fünf Hasen übrig. Wobei wir uns um die Ratten kaum Gedanken machen müssen. Claes versichert, dass sie bald eingehen wer- den.“ „Aha“, macht Jeff. „Hat irgendwas mit einem fehlenden En- zym zu tun. Steht im Bericht.“ Tom betätigt die Spülung und zieht sich wieder an. Er verzichtet darauf sich die Hände zu waschen, drückt das Handy wieder an sein Ohr. Bleibt nachdenklich vor dem Spiegel stehen. „Es sind also eigentlich nur noch die fünf Hasen, um die wir uns kümmern müssen.“ Auf der anderen Seite der Leitung bleibt es still. „Gibt es etwas Neues von Kahrbauer?“, fragt Tom und hofft, mit der Erwähnung des Journalisten das Ge- spräch wieder für sich zu gewinnen. „Was interessiert dich das?“, fragt Jeff gereizt zurück. Tom starrt sich selbst in die Augen und zeigt seinem Spiegelbild den Mittelfinger. „Ist noch was?“, quäkt es aus dem Handy. „Nein, Vater.“ „Dann bis morgen.“ Das Ge- spräch ist beendet. Tom atmet langsam durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Wählt eine neue Nummer. „Under- berg hier. Verbinden Sie mich mit Frau Claes.“ Er wartet auf die Verbindung und korrigiert ein paar Haarsträhnen an seiner Frisur. „Was kann ich für Sie tun, Herr Underberg?“ Greta Claes versucht nicht zu verschleiern, dass sein Anruf unwillkommen ist. Ihre Stimme klingt abweisend und kalt. „Mein Vater ist sehr unzufrie- den, Frau Claes.“ Tom tritt näher an den Spiegel heran, betrachtet eingehend sein junges Gesicht. „Er wird es sich vorbehalten, ent- sprechende Schritte in der Personalpolitik einzuleiten.“ „Dazu ist er absolut berechtigt“, antwortet Greta Claes trocken. „Ich möchte morgen beim Einsatz dabei sein.“ Tom fährt mit dem Zeigefinger über seine glatte Stirn und lächelt seinem Spiegelbild zu. „Dazu sind Sie absolut berechtigt.“ Frau Claes scheint sich auf einen Satz festgelegt zu haben. „Mailen Sie mir die genauen Daten. Ich werde vor Ort sein.“ „Gerne.“ Sie legt auf, ohne sich zu verabschieden.
Ständiges Erbrechen, obwohl der Magen völlig leer ist. Galle. Husten. Brennende Schmerzen. Dunkle Flüssigkeit, die aus den Ohren läuft. Augen, die eingefallen in dunklen Höhlen liegen. Die Kinder liegen eng umschlugen im Keller eines Hauses. Haben sich in der Nacht eingeschlichen und unter alten Armeedecken vergra- ben. Jetzt warten sie darauf, dass die Schmerzen endlich aufhören. Liegen schlaff übereinander. Atmen hechelnd. Von oben erklingt helles Lachen. Tapsige Schritte laufen durch ein glücklicheres Leben. Irgendwo spielt ein Liebeslied im Radio. Unten ist nur noch flaches Atmen und unregelmäßiger Herzschlag. Trockenes Würgen. Eine letzte Träne, die aus einem verkrusteten Augen- winkel läuft. Irgendwann hört auch der letzte, kleine Brustkorb auf, sich zu bewegen.

Der Jeep rast mit aufheulendem Motor über eine Schotterpiste. Hinter dem Steuer grinst Tom wie ein kleiner Schuljunge. Der Einsatzleiter, der neben ihm sitzt, ist sichtlich unbeeindruckt. „Wir haben heute Morgen die ganze Rattenbande ausgehoben. Dachten erst, sie hätten sich aufgeteilt. Hatten aber nur falsche Fährten gelegt. Schlaue Biester, diese Biester!“, schreit er gegen den Fahrt- wind an. Tom lacht und gibt noch einmal richtig Gas. Im Rück- spiegel sieht man die anderen Jeeps in einiger Entfernung folgen. „Die Meldung kommt von einem Bauernhof, drüben in Ciney. Ich hätte nicht gedacht, dass die so weit kommen würden.“ „Haben Sie eine Idee, wo die hinwollen?“ Tom geht ein wenig vom Gas und konzentriert sich mehr auf das Gespräch. „Die zieht es in die Wälder“, antwortet sein Begleiter. „Keine Ahnung ob die glauben, dass sie sich da besser verstecken können oder ob es so eine Art animalischer Instinkt ist. Was weiß ich.“ „Wie viele Hasen wurden gesichtet?“ „Vier oder fünf.“ „Haben die auch falsche Fährten gelegt?“ „Wer weiß das schon. Sie können sie ja fragen, wenn wir sie gefunden haben.“ Der Einsatzleiter lacht und klopft Tom väterlich auf die Schulter. Die restliche Fahrt erzählt er witzige Erlebnisse aus seinen früheren Tagen beim Militär. Tom genießt jede einzelne Sekunde davon. Kurz vor Ciney halten die Wagen am Seitenstreifen der Landstraße. Die Männer koordinieren sich routiniert, während Tom so tut, als würde er dazu gehören. Er wird einem jungen Mann zugeteilt, der sich als Dubois vorstellt. Die beiden bilden das Schlusslicht des Trupps, der sich nun wieder in Bewegung setzt. Vor einem Bauernhaus halten sie erneut. Der Einsatzleiter steigt aus und unterhält sich angeregt mit dem Bauern, der bereits vor die Tür getreten ist. Tom kann das Gespräch nicht verstehen, er sieht aber, dass der Bauer in eine bestimmte Richtung deutet. Der Einsatzleiter bedankt sich, Geld wird übergeben. Dann fahren die Wagen in die angegebene Richtung. Man hält nun über Funk untereinander Kontakt, spricht sich mit dem Hubschrauber- team ab. Tom verfolgt alles mit stiller Faszination. Als der Hub- schrauber schließlich eine Sichtung meldet, entfährt ihm ein auf- geregter Schrei. „Fahr, fahr, fahr!“, feuert er Dubois an. Der Jeep schießt einen Forstweg hinunter, folgt der Staubspur der anderen Wagen.

Die vier Frauen rennen panisch in verschiedene Richtungen davon, als die Jeeps am Rand der Lichtung auftauchen. Sie haben den Mo- torenlärm nicht wahrgenommen, waren zu erschöpft von der tage- langen Flucht. Nur ein wenig Schlaf. Nur ein bisschen im Sonnen- schein liegen. Jetzt laufen sie ein letztes Mal um ihr Leben. Die Jeeps teilen sich ebenfalls auf, lassen sich vom Helikopter leiten. Schüsse krachen durch den lichten Wald. Getroffen fällt eine rennende Gestalt zu Boden, überschlägt sich, bleibt liegen. Eine andere krümmt sich, hastet dann aber weiter. Dubois schneidet ihr den Weg ab. Rammt sie mit dem Wagen. Der geschundene, magere Frauenkörper schlägt mit einem dumpfen Knall gegen das Blech des Jeeps. Tom zuckt zusammen, als er das Geräusch hört. Hat sich das alles ganz anders vorgestellt. Dubois hält den Wagen an und steigt aus. „Kommen Sie, Monsieur Underberg!“ Unwillig klettert Tom aus dem Jeep. Geht um den Wagen herum und sieht sich das blutende Wesen an, das verdreht auf dem Waldboden liegt. „Das ist eine Frau!“, entfährt es ihm entsetzt. „Möchten Sie sie erschie- ßen, Monsieur Underberg?“, fragt Dubois und hält ihm grinsend eine Pistole hin. Tom wird sehr blass, greift aber schließlich nach der Waffe. Die Frau auf dem Boden schluchzt herzzerreißend. Trotz unzähliger Knochenbrüche versucht sie immer noch durch das Laub davonzukriechen. Weg von den Männern, die breitbeinig über ihr stehen. Tom zielt mit der Pistole. Seine Hand zittert stark. Sein erster Schuss geht in ihren Oberschenkel. Der zweite trifft ihren Rücken. Den dritten schießt Tom einen Meter daneben, das vierte Mal zerfetzt er ihr Gesicht, als sie sich wimmernd nach ihm umdreht. „Monsieur Underberg, très bien!“, lacht Dubois und nimmt Tom die Waffe aus den verkrampften Fingern. „Ich dachte zuerst, Sie scheißen sich ein, aber das war saubere Action.“ Aufmunternd deutet er mit der Waffe quer über die Lich- tung. Ein blasser Körper verschwindet gerade hinter einem umgestürzten Baumstamm. „Da ist noch eine, holen wir sie uns!“ Tom folgt Dubois, als dieser mit schnellen Schritten die Lichtung überquert.
„Auf unser neues Ehrenmitglied, er lebe hoch! Hoch! Hoch!“ Ausgelassenes Gelächter brandet durch den Schankraum.

Weingläser prosten ihm zu, Schnäpse werden geleert. Tom steht inmitten der Aufmerksamkeit, sein wächsernes Lächeln überstrahlt den Raum. Er stürzt sein Glas Rotwein hinunter, lässt sich sofort neu einschenken. Hinter seiner Stirn explodiert ein verzweifeltes Gesicht in tausend Knochensplitter. „Auch auf euch, meine tapferen Kameraden!“ Seine Stimme klingt etwas schrill, es war ein langer Tag. Tom kann immer noch das Blut an seiner Kleidung riechen. Nachdem er ein paar weitere Gläser Wein geleert und bei unzähligen Schnapsrunden zugegriffen hat, torkelt Tom nach draußen um seine E-Smoke zu rauchen. „Eine noch, eine noch, eine noch!“, schreit es hinter ihm her, und Tom weiß nicht, ob die Männer noch eine Schnapsrunde oder noch eine Leiche meinen. Betrunken fummelt er das Handy aus seiner Jackentasche, um seinen Vater anzurufen „Es ist nach elf, was zur Hölle willst du?“, fährt Jeff ihn verschlafen an. „Ich habe sie erschossen!“, lallt Tom zwischen Stolz und Elend. Erneut sieht er die geschundene Gestalt auf der Lichtung liegen. Ihr rotes Blut im grünen Gras. „Was hast du?“ „Ersch-sch-sch-schossen!“, schreit Tom. Er lacht schallend. Sieht eine blutverschmierte Hand, Glockenblumen, die sich im Wind wiegen, leblose Augen. „Bist du besoffen, Junge?“, jetzt schreit auch Jeff. „Natürlich bin ich besoffen, du Arschloch! Ich habe sie erschossen!“, kreischt Tom hysterisch. Tränen laufen über sein hochrotes Gesicht. Dann kotzt er unkontrolliert vor die Eingangstür der Schänke. „Tom? Tom!“ „Es sind Menschen, Vater. Wusstest du das?“ Ein langer Rotzfaden hängt aus Toms Nase. Geräuschvoll zieht er ihn nach oben. „Und ich habe sie abgeknallt.“ Er wirft das Handy gegen die Hausmauer und kotzt sich die Seele aus dem Leib.
„Gottlieb Kahrbauer?“ „Spreche ich mit Gottlieb Kahrbauer?“, fragt eine verzerrte Stimme. „Das habe ich doch gerade gesagt, oder?“, antwortet der Journalist verärgert, er ist kurz davor den Hörer wieder aufzulegen. „Es geht um Namur“, schnarrt die ano- nymisierte Stimme. Ein einziges Wort und schon hat der unbe- kannte Anrufer Kahrbauers volle Aufmerksamkeit. „Ich höre zu“, sagt er mit Bestimmtheit. „Die haben Menschen getötet!“ Trotz Stimmverzerrung klingt der Sprecher verzweifelt. Kahrbauer glaubt ein Schluchzen hören zu können. „Haben Sie irgendwelche Beweise?“ stellt er die einzige Frage, die wirklich von Belang ist. „Ich habe alle Beweise, die Sie sich wünschen können. Aber zuerst müssen Sie sie retten!“ „Wen muss ich retten?“, fragt Kahrbauer irritiert, ungeduldig winkt er seine Frau fort, die gerade eine Tasse Tee ins Arbeitszimmer bringt. „Es sind zweiundzwanzig Men- schen bei der Explosion entkommen. Einundzwanzig wurden ver- nichtet. Eine Frau lebt noch. Sie müssen sie finden!“ „Wie stellen Sie sich das vor?“ Kahrbauer weiß nicht genau, was er von seinem Gesprächspartner halten soll. „Können wir uns treffen?“, fragt er geradeheraus. „Nein!“ Die verzerrte Stimme überschlägt sich. „Dann weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen soll.“ Kahrbauer wartet geduldig, ob der Anrufer nach dem Köder schnappt. „Okay, ein Treffen“, willigt dieser schließlich ein. „Wie darf ich Sie anspre- chen?“, fragt der Journalist. Es ist lange still am anderen Ende der Leitung. Man kann förmlich fühlen, wie jemand mit einer Ent- scheidung ringt. „Nennen Sie mich Tom“, antwortet die verzerrte Stimme.

© sybille lengauer

Eine aktuelle Kurzgeschichte aus 2021, wunderbar vorgetragen von Lars:

Die neue Anthologie „2101 – Was aus uns wurde“ (Verlag für Moderne Phantastik, Hrsg. Peggy Weber-Gehrke) ist soeben als E-Book bei Amazon erschienen. Der geneigte Leser findet darin die überarbeitete Version meiner dystopischen Geschichte „Auferstehung / Die Insel der letzten Menschen“, „Sirenen“ von Jaana Redflower und viele weitere, spannende Beiträge. Hier geht es zum Buch: https://kurzelinks.de/thfx

(Persönliche Anmerkung: diesen klitzekleinen Beitrag zu erstellen hat gerade fast eine ganze Stunde „Trial & Error“ gedauert – und besonders gut sieht er nicht aus. Diese neue, geleckte WordPress-Oberfläche macht einen Techniktrottel wie mich völlig irre. Ich werde also nun eine Wut- Zigarette rauchen und beleidigt aus dem Fenster starren, bis mein Zorn buchstäblich verraucht ist. *grummel*)

Becky

Veröffentlicht: Juli 24, 2020 in Kurzgeschichten
Schlagwörter:, ,

Becky
(Das Haus)

Freitag Abend, kurz vor neun Uhr. Walter lümmelt breitbeinig auf der Couch und feuert seine favorisierte Gladiatorenmannschaft an. Die Hologramme der Kämpfer werden aus dem Keller des Hauses live in Walters Wohnzimmer übertragen, wo sie zwischen Couchtisch und Billigwohnwand brutal aufeinander eindreschen. Walter sitzt mittendrin und quiekt aufgeregt, wenn holographisches Blut in seine Richtung spritzt. Er hat bereits fünf Alko-Ports intus, sein Gesicht ist stark gerötet, der Atem geht schnell. Das fensterlose Zimmer stinkt stechend nach seinem Schweiß und dem billigen Fusel. Im Schatten des Türrahmens lehnt seine Tochter Becky, sie hat die Arme vor der Brust überkreuzt, ihre Körperhaltung drückt starke Ablehnung aus. Erst in der Werbepause wird sie von Walter bemerkt, der Beckys rosa schillernden Ganzkörperanzug und ihre pinkfarbene Perücke abfällig mustert. „Willst du dich so etwa im Haus zeigen?“, fragt er mit kratziger Stimme. Becky nickt wortlos, ihre pink eingefärbten Augen blitzen trotzig. „Heutzutage ist euch wirklich nichts mehr peinlich“, grummelt Walter, verächtlich schnaubend wendet er sich wieder dem Holoprogramm zu. Becky zeigt ihm den Finger und stürmt beleidigt aus der Wohnung. Walter rülpst ihr vorwurfsvoll hinterher.
„Was für ein Umami-Outfit!“, kreischt Libby, sie klatscht begeistert in die Hände und verstreut Glitzer bei jeder Bewegung. Zusammen mit den anderen Mädchen belagert sie die streng bewachten Fahrstuhltüren zur oberen Ebene. Da den Bewohnern der unteren Hausebene ein Betreten der oberen Etagen nicht gestattet ist, gilt das imposante Fahrstuhlfoyer als beliebter Treffpunkt, um einen zufälligen Blick auf die reiche Oberschicht zu erhaschen und vielleicht selbst gesehen zu werden. Becky setzt ihr schönstes Lächeln auf und gesellt sich zur Gruppe. Gestenreich begrüßt sie die Freundinnen, kommentiert deren grellbunte Outfits und dreht Holovideos für die Unterhaus-Community. Der Abend verfliegt zwischen Gelächter und Tratsch, völlig überraschend ertönt das erste Signal zur Nachtruhe aus den diskret platzierten Foyer-Lautsprechern. Libby flucht kreativ, lautstark vertritt sie die Meinung es sei verdammt viel zu früh, um in die Quartiere zurückzukehren. Becky stimmt entschieden zu, sie stampft mit dem Fuß auf und wirft pinkfunkelnde Blicke zur schwarzvermummten Security, die vor den geschmackvoll verzierten Fahrstuhleingängen postiert ist und reglos ins Nichts starrt. Die Freundinnen nicken zustimmend, niemand hat die Absicht, jetzt schon ins Bett zu gehen. Ihre Gespräche werden lauter, das Gelächter erhält eine schrille Note. Erst beim dritten Signal zur Nachtruhe kommt Bewegung in die Gruppe, betont geziert flanieren die Mädchen aus dem Foyerbereich. Becky lässt sich mit Libby ein paar Schritte zurückfallen, Arm in Arm trotten die beiden das schier endlose Treppenhaus hinunter. „Ich muss dir was erzählen“, zischt Becky verschwörerisch. „Das dachte ich mir schon“, flüstert Libby und grinst. „Er hat sich wieder gemeldet.“ Becky zieht bedeutungsvoll die hauchdünn gezupften Augenbrauen nach oben. „Du meinst Er – Er?“ „Ja natürlich, wen soll ich sonst meinen?“ „Keine Ahnung, vielleicht hast du ja ein Dutzend Lover?“, frotzelt Libby in kindischem Tonfall. „Er ist nicht mein Lover!“ Becky wird laut, zornig reißt sie sich von Libbys Arm los. Die vorausgehenden Mädchen bleiben abrupt auf der Treppe stehen und wenden sich mit begierigen Gesichtern an die Zankenden. „WER ist dein Lover?“, fragt ein pummeliges Mädchen mit unverhohlener Neugierde, ihre Begleiterinnen spitzen aufgeregt die Ohren. „Er heißt Joe Gehtdichnichtsan und jetzt verpiss dich, Pamela“, schnappt Libby kampflustig, sie knufft Becky verschwörerisch in die Rippen und scheucht die anderen Mädchen unter viel Gezeter fort. „Jetzt erzähl schon“, drängelt sie, als die Gruppe endlich ausser Hörweite ist. „Da gibt es nicht viel zu erzählen“, schmollt Becky beleidigt. „Jetzt mach schon, lass mich nicht betteln.“ „Okay, hör zu: Er hat mir geschrieben! So richtig klassisch, mit echten Worten und so, total digital!“ Beckys Stimme überschlägt sich aufgeregt. „Oh. Wow“, macht Libby beeindruckt, „mir hat noch nie einer was geschrieben.“ „Ja, echt wow“, bestätigt Becky und reckt stolz das Kinn vor. „Weißt du von welcher Etage er kommt?“, fragt Libby nach kurzem Schweigen. „Nein. Er bleibt die ganze Zeit Inkognito“, seufzt Becky und lässt das Kinn wieder sinken. „Vielleicht kommt er ja von Oben! Oder, noch besser, vielleicht ist er ein Spion! Und er hat sich unsterblich in dich verliebt und entführt dich in sein Haus. Verbrechen aus Leidenschaft und so.“ „Du ziehst dir zu viele Holo-Romanzen rein“, lacht Becky. Ausgelassen kichernd verabschieden sich die Freundinnen, während das letzte Signal zur Nachtruhe über ihren Köpfen erklingt.
Walter ist vor einem Holo-Porno eingeschlafen, zwei dickärschige Frauen schmiegen sich stöhnend an seinen massigen Leib. Walter schnarcht seelenruhig zwischen ihren ausladenden Brüsten, sein Mund steht weit offen, er sabbert. Becky beendet den Porno mit angeekeltem Gesichtsausdruck, die Gestalten der Frauen lösen sich in Nichts auf, kalte Dunkelheit flutet das stickige Wohnzimmer. Becky schaudert, hastig wählt sie ein Entspannungs-Holo und die sanften Farben einer fernen Unterwasserlandschaft spülen die bedrückende Dunkelheit fort. Walter stöhnt und wälzt sich grummelnd auf die Seite, Becky zetert leise über seine ausgeprägte Dummheit, dann zieht sie fürsorglich die schmierige Sofadecke über seinen dicken Bauch und weint ein bisschen.

„Na, was sagst du?“
„Baby, du bist so unbeschreiblich sexy.“
„Ach, nicht doch.“ Becky lächelt geziert, sie dreht sich provozierend langsam vor dem blinkenden Holorecorder, wirft dem Aufnahmegerät eine Kusshand zu und kichert albern. Seit Stunden chattet sie mit jenem geheimnisvollen Verehrer, der sich Mysterious Romeo nennt und nur in Gestalt eines schattenhaften Avatars in Erscheinung tritt. Becky posiert für ihn, zeigt sich in unterschiedlichen Outfits, wechselt mit rasender Geschwindigkeit die Perücken und lässt die Spitze ihrer Unterwäsche verführerisch aufblitzen, um zu zeigen was sie unter den bunten Hosenanzügen zu bieten hat. Mysterious Romeo überschüttet sie mit Komplimenten und ihr Zimmer mit holographischen Blumenbouquets. Becky berauscht sich an seiner Zuneigung und zeigt schließlich noch etwas mehr. Walter platzt wie eine zornige Lawine in die erotisch aufgeheizte Szene und beginnt sofort zu schreien. „Was geht hier vor?“, brüllt er und starrt mit hervorquellenden Augen auf Beckys nackte Brüste, die dunkelroten Rosen, die auf ihrem Bett liegen und den schattenhaften Mann, der sich zwischen den schimmernden Blumen räkelt. Becky quiekt erschrocken und beendet geistesgegenwärtig die Holoverbindung, Mysterious Romeo löst sich augenblicklich in Luft auf, die Blumen verschwinden. Mit hochrotem Kopf zieht Becky den Reißverschluss ihres Hosenanzugs nach oben, dann stemmt sie die Fäuste in die Hüften und holt tief Luft. „Was, zur Hölle, hast du in meinem Zimmer zu suchen?“, kreischt sie aus vollem Hals, doch Walter lässt sich von ihrer Entrüstung nicht einschüchtern. „Wer war das?“, knurrt er und baut sich drohend vor seiner Tochter auf. „Das geht dich einen Scheißdreck an“, faucht Becky aufgebracht, mutig hält sie Walters strengem Blick stand und weicht keinen Schritt zurück. „Du hältst deine Titten in die Welt und hast die Frechheit mir zu sagen, das ginge mich nichts an? Du bist zwölf Jahre alt, verdammtnochmal!“ „Ich weiß wie alt ich bin, danke Vater.“ Becky spuckt das Wort ‚Vater’ betont angewidert aus, Walters Wangen werden weiß vor Zorn, seine Kiefermuskeln treten stark hervor. „Du benimmst dich wie eine Kellerhure“, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. „Wie kannst du so etwas sagen!“, entfährt es Becky empört, doch Walter zuckt nur abwehrend mit den breiten Schultern. „Wenns die Wahrheit ist“, zischt er kalt. Becky wirft sich heulend auf das Bett und vergräbt das Gesicht in den farbenfrohen Kissen. Walter schüttelt abfällig den Kopf, schnaubend nimmt er Beckys Holorecorder vom Gestell, dreht das fragile Gerät in seinen riesigen Händen. „Du hast zwei Wochen Stubenarrest“, brummt er heiser. „Ich hasse dich!“, brüllt Becky zwischen den Kissenbergen hervor. „Und Holo-Verbot“, setzt Walter hinterher, er lässt den Recorder in seiner Hosentasche verschwinden, dreht sich um und verlässt mit gesenktem Kopf das Zimmer. Becky schreit ihm wüste Beschimpfungen hinterher bis ihre Stimme versagt.
Drei Tage vergehen, in denen Becky kein Wort mit Walter spricht. Beleidigt harrt sie in ihrem Zimmer aus, ernährt sich von gehorteten Chips und Schokoriegeln und ignoriert Walters, manchmal geflüsterte, manchmal gebrüllte Ansprachen vor ihrer verschlossenen Tür. Drei Tage lang versendet sie heimlich liebeskranke Botschaften mit einem alten Holorecorder, den Walter bei seiner Strafaktion übersehen hat. Unter Tränen berichtet sie ihrem Mysterious Romeo von der qualvollen Gefangenschaft und Romeo antwortet mit viel Pathos und schmalzigen Versprechen. Am vierten Tag ist Becky verschwunden. Walter bemerkt ihr Verschwinden erst am späten Abend, als er die Sicherheitsanzeigen der Wohnung überprüft und erschrocken feststellen muss, dass Beckys Vitalwerte nicht mehr aufgelistet werden. Wie von der Tarantel gestochen stürmt er ins Kinderzimmer, findet dort jedoch nur Unordnung und ein zerwühltes, leeres Bett. Walter tobt. Ist außer sich vor Zorn. Er brüllt wie ein verletzter Stier und trampelt schäumend durch die Wohnung, bis er völlig entkräftet erkennen muss, dass sein Wutausbruch Becky nicht zurückbringen wird. Außer Atem lässt er sich auf die Couch fallen, um bei einem Alko-Port über das Problem nachzudenken. Unzählige Flaschen später torkelt er schwerfällig über die menschenleeren Flure der Etage, um Beckys bester Freundin Libby einen Besuch abzustatten. Kurz nach Mitternacht steht er schwankend vor Libbys Wohnung und grölt ihren Namen aus voller Kehle. Libbys Vater öffnet im Unterhemd die Tür und verpasst dem randalierenden Walter einen Kinnhaken, ohne vorher Fragen zu stellen. Walter landet hart auf dem Hosenboden und glotzt verwirrt. „Was willst du hier, Kowalski?“ Libbys Vater verschränkt die muskulösen Arme vor seiner massiven Brust und blickt kampflustig auf Walter hinab. Der rappelt sich stöhnend zurück auf die Beine und reibt sich über das lädierte Kinn. „Ist meine Tochter hier?“, fragt er und blickt dabei beschämt auf seine Füße. „Nein. Hau ab.“ „Kann ich mit Libby sprechen?“ „Nein. Hau ab, hab ich gesagt.“ „Entschuldige die Störung, Harald.“ „Verpiss dich, Kowalski.“ Walter lässt den Kopf noch tiefer hängen und tritt den Rückzug an. Beschämt trottet er nach Hause und säuft, bis der Schlaf ihn gnädig übermannt. Am nächsten Morgen durchsucht Walter Beckys Zimmer, doch er findet kein verstecktes Tagebuch, und auch keine geheimen Holoaufzeichnungen oder Notizen, die ihm einen Hinweis auf ihren Verbleib geben könnten. Hoffnungsvoll blättert er durch Beckys virtuelle Freundesliste, wählt die Nummern ihrer Freundinnen und erkundigt sich höflich, ob jemand seine Tochter gesehen habe. Doch niemand weiß etwas von Becky, niemand hat sie gesehen. Frustriert gibt Walter schließlich auf, er verfasst eine offizielle Vermisstenanzeige für die Community und hofft auf das Beste.

Freitag Abend, kurz vor neun Uhr. Walter hockt vornübergebeugt auf der Couch und starrt desinteressiert auf die Holo-Gladiatoren, die sich vor seinen tränensackschweren Augen in Stücke reißen. Zu seinen Füßen türmen sich leere Alko-Ports, das Zimmer und Walter stinken nach ranzigem Schweiß und Einsamkeit. Wochen sind vergangen, seit Becky verschwunden ist und kein Tag, an dem Walter nicht nach ihr gesucht hat. Er war auf jeder Etage der Ebene, hat an alle Türen geklopft, hat Suchbotschaften verschickt und sich stundenlang im Fahrstuhlfoyer herumgetrieben. Doch Becky kommt nicht zurück und niemand kann sagen, wohin sie verschwunden ist. Walter ertränkt seine Gefühle in Alkohol, jede Nacht braucht er etwas mehr, um endlich in den Schlaf zu finden. Auch an diesem Abend stürzt er die Alko-Ports rücksichtslos in sich hinein, wie viele es sind, interessiert ihn nicht mehr. Die Gladiatoren verspritzen ihr grellrotes Blut auf seiner Couch, ihre grässlichen Todesschreie gellen durch das stickige Zimmer, doch Walter kann sich nicht an ihrer Darbietung erfreuen. Er säuft sein Gehirn methodisch müde, vergisst sich und seine Sorgen und dämmert langsam dem Schlaf entgegen. Kraftlos wählt er ein beliebiges Porno-Programm für Heteros und beginnt träge an sich herumzuspielen, während die Huren um ihn herum mit ihrer Show beginnen. Stöhnend räkeln sich die drei Frauen umeinander und um Walter, der nun doch ein wenig in Fahrt kommt und wohlig zu grunzen beginnt. Er lehnt sich schwer atmend zurück, versinkt im zuckenden Fleisch der Holographien und massiert sich rhythmisch zum Höhepunkt. Stöhnend blickt er auf, und in Beckys Gesicht. Walter schreit und weicht entsetzt zurück, das Hologramm seiner Tochter beugt sich ungerührt über den nackten Körper einer fremden Frau und grinst wollüstig. Walter schreit, ein Orkan aus Scham und Schuldgefühlen tobt durch seinen Kopf, hastig zieht er sich die Unterhose zurecht, dann bricht er in Tränen aus.

© sybille lengauer