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Becky

Veröffentlicht: Juli 24, 2020 in Kurzgeschichten
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Becky
(Das Haus)

Freitag Abend, kurz vor neun Uhr. Walter lümmelt breitbeinig auf der Couch und feuert seine favorisierte Gladiatorenmannschaft an. Die Hologramme der Kämpfer werden aus dem Keller des Hauses live in Walters Wohnzimmer übertragen, wo sie zwischen Couchtisch und Billigwohnwand brutal aufeinander eindreschen. Walter sitzt mittendrin und quiekt aufgeregt, wenn holographisches Blut in seine Richtung spritzt. Er hat bereits fünf Alko-Ports intus, sein Gesicht ist stark gerötet, der Atem geht schnell. Das fensterlose Zimmer stinkt stechend nach seinem Schweiß und dem billigen Fusel. Im Schatten des Türrahmens lehnt seine Tochter Becky, sie hat die Arme vor der Brust überkreuzt, ihre Körperhaltung drückt starke Ablehnung aus. Erst in der Werbepause wird sie von Walter bemerkt, der Beckys rosa schillernden Ganzkörperanzug und ihre pinkfarbene Perücke abfällig mustert. „Willst du dich so etwa im Haus zeigen?“, fragt er mit kratziger Stimme. Becky nickt wortlos, ihre pink eingefärbten Augen blitzen trotzig. „Heutzutage ist euch wirklich nichts mehr peinlich“, grummelt Walter, verächtlich schnaubend wendet er sich wieder dem Holoprogramm zu. Becky zeigt ihm den Finger und stürmt beleidigt aus der Wohnung. Walter rülpst ihr vorwurfsvoll hinterher.
„Was für ein Umami-Outfit!“, kreischt Libby, sie klatscht begeistert in die Hände und verstreut Glitzer bei jeder Bewegung. Zusammen mit den anderen Mädchen belagert sie die streng bewachten Fahrstuhltüren zur oberen Ebene. Da den Bewohnern der unteren Hausebene ein Betreten der oberen Etagen nicht gestattet ist, gilt das imposante Fahrstuhlfoyer als beliebter Treffpunkt, um einen zufälligen Blick auf die reiche Oberschicht zu erhaschen und vielleicht selbst gesehen zu werden. Becky setzt ihr schönstes Lächeln auf und gesellt sich zur Gruppe. Gestenreich begrüßt sie die Freundinnen, kommentiert deren grellbunte Outfits und dreht Holovideos für die Unterhaus-Community. Der Abend verfliegt zwischen Gelächter und Tratsch, völlig überraschend ertönt das erste Signal zur Nachtruhe aus den diskret platzierten Foyer-Lautsprechern. Libby flucht kreativ, lautstark vertritt sie die Meinung es sei verdammt viel zu früh, um in die Quartiere zurückzukehren. Becky stimmt entschieden zu, sie stampft mit dem Fuß auf und wirft pinkfunkelnde Blicke zur schwarzvermummten Security, die vor den geschmackvoll verzierten Fahrstuhleingängen postiert ist und reglos ins Nichts starrt. Die Freundinnen nicken zustimmend, niemand hat die Absicht, jetzt schon ins Bett zu gehen. Ihre Gespräche werden lauter, das Gelächter erhält eine schrille Note. Erst beim dritten Signal zur Nachtruhe kommt Bewegung in die Gruppe, betont geziert flanieren die Mädchen aus dem Foyerbereich. Becky lässt sich mit Libby ein paar Schritte zurückfallen, Arm in Arm trotten die beiden das schier endlose Treppenhaus hinunter. „Ich muss dir was erzählen“, zischt Becky verschwörerisch. „Das dachte ich mir schon“, flüstert Libby und grinst. „Er hat sich wieder gemeldet.“ Becky zieht bedeutungsvoll die hauchdünn gezupften Augenbrauen nach oben. „Du meinst Er – Er?“ „Ja natürlich, wen soll ich sonst meinen?“ „Keine Ahnung, vielleicht hast du ja ein Dutzend Lover?“, frotzelt Libby in kindischem Tonfall. „Er ist nicht mein Lover!“ Becky wird laut, zornig reißt sie sich von Libbys Arm los. Die vorausgehenden Mädchen bleiben abrupt auf der Treppe stehen und wenden sich mit begierigen Gesichtern an die Zankenden. „WER ist dein Lover?“, fragt ein pummeliges Mädchen mit unverhohlener Neugierde, ihre Begleiterinnen spitzen aufgeregt die Ohren. „Er heißt Joe Gehtdichnichtsan und jetzt verpiss dich, Pamela“, schnappt Libby kampflustig, sie knufft Becky verschwörerisch in die Rippen und scheucht die anderen Mädchen unter viel Gezeter fort. „Jetzt erzähl schon“, drängelt sie, als die Gruppe endlich ausser Hörweite ist. „Da gibt es nicht viel zu erzählen“, schmollt Becky beleidigt. „Jetzt mach schon, lass mich nicht betteln.“ „Okay, hör zu: Er hat mir geschrieben! So richtig klassisch, mit echten Worten und so, total digital!“ Beckys Stimme überschlägt sich aufgeregt. „Oh. Wow“, macht Libby beeindruckt, „mir hat noch nie einer was geschrieben.“ „Ja, echt wow“, bestätigt Becky und reckt stolz das Kinn vor. „Weißt du von welcher Etage er kommt?“, fragt Libby nach kurzem Schweigen. „Nein. Er bleibt die ganze Zeit Inkognito“, seufzt Becky und lässt das Kinn wieder sinken. „Vielleicht kommt er ja von Oben! Oder, noch besser, vielleicht ist er ein Spion! Und er hat sich unsterblich in dich verliebt und entführt dich in sein Haus. Verbrechen aus Leidenschaft und so.“ „Du ziehst dir zu viele Holo-Romanzen rein“, lacht Becky. Ausgelassen kichernd verabschieden sich die Freundinnen, während das letzte Signal zur Nachtruhe über ihren Köpfen erklingt.
Walter ist vor einem Holo-Porno eingeschlafen, zwei dickärschige Frauen schmiegen sich stöhnend an seinen massigen Leib. Walter schnarcht seelenruhig zwischen ihren ausladenden Brüsten, sein Mund steht weit offen, er sabbert. Becky beendet den Porno mit angeekeltem Gesichtsausdruck, die Gestalten der Frauen lösen sich in Nichts auf, kalte Dunkelheit flutet das stickige Wohnzimmer. Becky schaudert, hastig wählt sie ein Entspannungs-Holo und die sanften Farben einer fernen Unterwasserlandschaft spülen die bedrückende Dunkelheit fort. Walter stöhnt und wälzt sich grummelnd auf die Seite, Becky zetert leise über seine ausgeprägte Dummheit, dann zieht sie fürsorglich die schmierige Sofadecke über seinen dicken Bauch und weint ein bisschen.

„Na, was sagst du?“
„Baby, du bist so unbeschreiblich sexy.“
„Ach, nicht doch.“ Becky lächelt geziert, sie dreht sich provozierend langsam vor dem blinkenden Holorecorder, wirft dem Aufnahmegerät eine Kusshand zu und kichert albern. Seit Stunden chattet sie mit jenem geheimnisvollen Verehrer, der sich Mysterious Romeo nennt und nur in Gestalt eines schattenhaften Avatars in Erscheinung tritt. Becky posiert für ihn, zeigt sich in unterschiedlichen Outfits, wechselt mit rasender Geschwindigkeit die Perücken und lässt die Spitze ihrer Unterwäsche verführerisch aufblitzen, um zu zeigen was sie unter den bunten Hosenanzügen zu bieten hat. Mysterious Romeo überschüttet sie mit Komplimenten und ihr Zimmer mit holographischen Blumenbouquets. Becky berauscht sich an seiner Zuneigung und zeigt schließlich noch etwas mehr. Walter platzt wie eine zornige Lawine in die erotisch aufgeheizte Szene und beginnt sofort zu schreien. „Was geht hier vor?“, brüllt er und starrt mit hervorquellenden Augen auf Beckys nackte Brüste, die dunkelroten Rosen, die auf ihrem Bett liegen und den schattenhaften Mann, der sich zwischen den schimmernden Blumen räkelt. Becky quiekt erschrocken und beendet geistesgegenwärtig die Holoverbindung, Mysterious Romeo löst sich augenblicklich in Luft auf, die Blumen verschwinden. Mit hochrotem Kopf zieht Becky den Reißverschluss ihres Hosenanzugs nach oben, dann stemmt sie die Fäuste in die Hüften und holt tief Luft. „Was, zur Hölle, hast du in meinem Zimmer zu suchen?“, kreischt sie aus vollem Hals, doch Walter lässt sich von ihrer Entrüstung nicht einschüchtern. „Wer war das?“, knurrt er und baut sich drohend vor seiner Tochter auf. „Das geht dich einen Scheißdreck an“, faucht Becky aufgebracht, mutig hält sie Walters strengem Blick stand und weicht keinen Schritt zurück. „Du hältst deine Titten in die Welt und hast die Frechheit mir zu sagen, das ginge mich nichts an? Du bist zwölf Jahre alt, verdammtnochmal!“ „Ich weiß wie alt ich bin, danke Vater.“ Becky spuckt das Wort ‚Vater’ betont angewidert aus, Walters Wangen werden weiß vor Zorn, seine Kiefermuskeln treten stark hervor. „Du benimmst dich wie eine Kellerhure“, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. „Wie kannst du so etwas sagen!“, entfährt es Becky empört, doch Walter zuckt nur abwehrend mit den breiten Schultern. „Wenns die Wahrheit ist“, zischt er kalt. Becky wirft sich heulend auf das Bett und vergräbt das Gesicht in den farbenfrohen Kissen. Walter schüttelt abfällig den Kopf, schnaubend nimmt er Beckys Holorecorder vom Gestell, dreht das fragile Gerät in seinen riesigen Händen. „Du hast zwei Wochen Stubenarrest“, brummt er heiser. „Ich hasse dich!“, brüllt Becky zwischen den Kissenbergen hervor. „Und Holo-Verbot“, setzt Walter hinterher, er lässt den Recorder in seiner Hosentasche verschwinden, dreht sich um und verlässt mit gesenktem Kopf das Zimmer. Becky schreit ihm wüste Beschimpfungen hinterher bis ihre Stimme versagt.
Drei Tage vergehen, in denen Becky kein Wort mit Walter spricht. Beleidigt harrt sie in ihrem Zimmer aus, ernährt sich von gehorteten Chips und Schokoriegeln und ignoriert Walters, manchmal geflüsterte, manchmal gebrüllte Ansprachen vor ihrer verschlossenen Tür. Drei Tage lang versendet sie heimlich liebeskranke Botschaften mit einem alten Holorecorder, den Walter bei seiner Strafaktion übersehen hat. Unter Tränen berichtet sie ihrem Mysterious Romeo von der qualvollen Gefangenschaft und Romeo antwortet mit viel Pathos und schmalzigen Versprechen. Am vierten Tag ist Becky verschwunden. Walter bemerkt ihr Verschwinden erst am späten Abend, als er die Sicherheitsanzeigen der Wohnung überprüft und erschrocken feststellen muss, dass Beckys Vitalwerte nicht mehr aufgelistet werden. Wie von der Tarantel gestochen stürmt er ins Kinderzimmer, findet dort jedoch nur Unordnung und ein zerwühltes, leeres Bett. Walter tobt. Ist außer sich vor Zorn. Er brüllt wie ein verletzter Stier und trampelt schäumend durch die Wohnung, bis er völlig entkräftet erkennen muss, dass sein Wutausbruch Becky nicht zurückbringen wird. Außer Atem lässt er sich auf die Couch fallen, um bei einem Alko-Port über das Problem nachzudenken. Unzählige Flaschen später torkelt er schwerfällig über die menschenleeren Flure der Etage, um Beckys bester Freundin Libby einen Besuch abzustatten. Kurz nach Mitternacht steht er schwankend vor Libbys Wohnung und grölt ihren Namen aus voller Kehle. Libbys Vater öffnet im Unterhemd die Tür und verpasst dem randalierenden Walter einen Kinnhaken, ohne vorher Fragen zu stellen. Walter landet hart auf dem Hosenboden und glotzt verwirrt. „Was willst du hier, Kowalski?“ Libbys Vater verschränkt die muskulösen Arme vor seiner massiven Brust und blickt kampflustig auf Walter hinab. Der rappelt sich stöhnend zurück auf die Beine und reibt sich über das lädierte Kinn. „Ist meine Tochter hier?“, fragt er und blickt dabei beschämt auf seine Füße. „Nein. Hau ab.“ „Kann ich mit Libby sprechen?“ „Nein. Hau ab, hab ich gesagt.“ „Entschuldige die Störung, Harald.“ „Verpiss dich, Kowalski.“ Walter lässt den Kopf noch tiefer hängen und tritt den Rückzug an. Beschämt trottet er nach Hause und säuft, bis der Schlaf ihn gnädig übermannt. Am nächsten Morgen durchsucht Walter Beckys Zimmer, doch er findet kein verstecktes Tagebuch, und auch keine geheimen Holoaufzeichnungen oder Notizen, die ihm einen Hinweis auf ihren Verbleib geben könnten. Hoffnungsvoll blättert er durch Beckys virtuelle Freundesliste, wählt die Nummern ihrer Freundinnen und erkundigt sich höflich, ob jemand seine Tochter gesehen habe. Doch niemand weiß etwas von Becky, niemand hat sie gesehen. Frustriert gibt Walter schließlich auf, er verfasst eine offizielle Vermisstenanzeige für die Community und hofft auf das Beste.

Freitag Abend, kurz vor neun Uhr. Walter hockt vornübergebeugt auf der Couch und starrt desinteressiert auf die Holo-Gladiatoren, die sich vor seinen tränensackschweren Augen in Stücke reißen. Zu seinen Füßen türmen sich leere Alko-Ports, das Zimmer und Walter stinken nach ranzigem Schweiß und Einsamkeit. Wochen sind vergangen, seit Becky verschwunden ist und kein Tag, an dem Walter nicht nach ihr gesucht hat. Er war auf jeder Etage der Ebene, hat an alle Türen geklopft, hat Suchbotschaften verschickt und sich stundenlang im Fahrstuhlfoyer herumgetrieben. Doch Becky kommt nicht zurück und niemand kann sagen, wohin sie verschwunden ist. Walter ertränkt seine Gefühle in Alkohol, jede Nacht braucht er etwas mehr, um endlich in den Schlaf zu finden. Auch an diesem Abend stürzt er die Alko-Ports rücksichtslos in sich hinein, wie viele es sind, interessiert ihn nicht mehr. Die Gladiatoren verspritzen ihr grellrotes Blut auf seiner Couch, ihre grässlichen Todesschreie gellen durch das stickige Zimmer, doch Walter kann sich nicht an ihrer Darbietung erfreuen. Er säuft sein Gehirn methodisch müde, vergisst sich und seine Sorgen und dämmert langsam dem Schlaf entgegen. Kraftlos wählt er ein beliebiges Porno-Programm für Heteros und beginnt träge an sich herumzuspielen, während die Huren um ihn herum mit ihrer Show beginnen. Stöhnend räkeln sich die drei Frauen umeinander und um Walter, der nun doch ein wenig in Fahrt kommt und wohlig zu grunzen beginnt. Er lehnt sich schwer atmend zurück, versinkt im zuckenden Fleisch der Holographien und massiert sich rhythmisch zum Höhepunkt. Stöhnend blickt er auf, und in Beckys Gesicht. Walter schreit und weicht entsetzt zurück, das Hologramm seiner Tochter beugt sich ungerührt über den nackten Körper einer fremden Frau und grinst wollüstig. Walter schreit, ein Orkan aus Scham und Schuldgefühlen tobt durch seinen Kopf, hastig zieht er sich die Unterhose zurecht, dann bricht er in Tränen aus.

© sybille lengauer

Bunkeranlage C

Veröffentlicht: Mai 1, 2019 in Kurzgeschichten
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Es ist Frühling in der weitläufigen Gartensphäre der Bunkeranlage C. Sieben Kinder laufen durch das hohe Gras, jagen sich gegenseitig im wuchernden Grün. Ein Mädchen springt leichtfüßig über einen kristallklaren Bach, der sich durch die Wiese schlängelt. Ihr himmelblaues Kleid flattert dabei wild um ihre Beine, spiegelt die Farbe des Himmels. Sie verschwindet lachend zwischen blühenden Apfelbäumen, die auf dieser Seite des Ufers dicht zusammenstehen. Ein anderes Mädchen springt mit einem spitzen Schrei hinterher und folgt ihr in den Apfelhain. Als sie in das Blütenmeer eintaucht, sieht sie einen blauen Stoffzipfel zwischen den Baumstämmen verschwinden. „Ich kriege dich, CaGa!“ ruft sie triumphierend und nimmt die Verfolgung auf. „Ha!“ macht das Mädchen im himmelblauen Kleid nur und taucht flink zwischen den Bäumen hindurch. Sie läuft in einem engen Bogen zurück zum Bach und zu den Kindern, die sich am anderen Ufer fröhlich mit Wasser bespritzen. Ein Junge wirft ihr lachend einen goldenen Ball zu. „Boot!“ schreit CaGa und bleibt stehen. „Das gilt nicht!“ ruft ihre Verfolgerin, die mit hochroten Wangen zwischen den Apfelbäumen hervorschießt. Blütenfetzen hängen in ihren hellblonden Haaren. „Gilt wohl.“ lacht CaGa und tätschelt zufrieden den Ball. „CaBa gibt dir immer das Boot.“ schimpft das blonde Mädchen und rupft sich Apfelblüten aus der zerzausten Frisur. „Das stimmt überhaupt nicht!“ CaGa reißt ihre braunen Augen auf, streckt die Zunge heraus und macht „Bäh-hä“. „Stimmt wohl, ihr seid ein Liebespaar.“ ätzt das blonde Mädchen und stapft durch die Wiese auf CaGa zu. „Du bist eine hässliche Lügnerin, CaDa!“ ruft der Junge daraufhin von der anderen Seite des Baches herüber und bekommt rote Ohren. Die anderen Kinder lachen. „Und du bist eine dreckige Mistgeburt.“ kontert die mit blitzenden Augen. „Es heißt Missgeburt, du ekliger Pickel!“ mischt sich CaGa wieder ein. „Selber Pickel!“ CaDa stürzt sich mit einem grellen Schrei auf CaGa, die Mädchen stolpern und fallen platschend in den Bach. Es spritzt gewaltig, die Kinder schreien hysterisch. Prustend liegen sie im eiskalten Wasser. „C-Einheit!“ ruft eine strenge Stimme und die Auseinandersetzung endet abrupt. Die Mädchen erstarren im Bach, die andern Kinder senken betreten die Köpfe. Eine Arbeiterin rollt zornig über die Wiese. Ihr runder, silbrig glänzender Körper gleitet sirrend über das Gras. „Euer fernbleiben vom Unterricht wird missbilligt.“ schimpft die Arbeiterin. Ihr Augenschlitz leuchtet ungehalten. „Tut uns leid.“ sagt CaGa und klettert mit zerknirschtem Gesichtsausdruck aus dem Bach. Sie hilft CaDa aus dem Wasser, gemeinsam waten die beiden ans Ufer und stellen sich tropfnass zu den anderen Kindern. Der goldene Ball bleibt in der Wiese zurück. „Ihr sollt nicht meinen, dass es mit einer Entschuldigung getan ist. Der Schwarm vergisst nicht.“ versetzt die Arbeiterin und rollt zum Ausgang. Die Kinder folgen ihr mit langen Gesichtern. Am Tor schalten sich die holografischen Verstärker ab, mit denen die Erscheinung der Gartensphäre unterstützt wird. Der Garten verliert seine üppige Vielfalt, gleicht jetzt mehr einem unterirdischen Gewächshaus, als einem wuchernden Paradies. Der strahlend blaue Himmel verschwindet, der Bach wird zu einem einfachen Bewässerungskanal. Der dichte Apfelhain besteht aus ein paar dürren Bäumen in Pflanzkübeln, die kaum Blüten tragen. Das hohe Gras der Wiese schrumpft zu einfachem Rollrasen zusammen, in dem ein gelber Gummiball liegt. CaGa blickt kurz zurück und schüttelt bedauernd den Kopf. Dann trottet sie hinter den anderen Kindern her, die der Arbeiterin zum Unterrichtsraum folgen.
„Es mag euch vielleicht unbegreiflich erscheinen, doch meine Lehren haben einen größeren Wert für eure Zukunft als die kindlichen Spiele, die ihr in den Sphären spielt.“ Der ehrwürdige Meister schwebt ungehalten im Klassenzimmer auf und ab. Sein tonnenförmiger Leib dreht sich langsam um die eigene Achse, während er die sieben Kinder durch sein rotes Okular mustert. „Es zeugt von Unreife und Respektlosigkeit gegenüber dem Schwarm, dem Unterricht unerlaubt fernzubleiben.“ Die Kinder sitzen still an ihren Pulten und starren betreten auf ihre leeren Bildschirme. CaGa und CaDa haben trockene Kleider an. Sie sitzen heute besonders weit auseinander und beachten sich möglichst offensichtlich nicht. „Die Mathematikstunde, die ihr durch euer Schwänzen verpasst habt, werdet ihr heute Nachmittag in einer Doppelstunde nachholen. Der Freizeitaufenthalt in der Wassersphäre entfällt.“ sagt der Meister und schwebt in die Mitte des Raumes. Er aktiviert seinen Projektor und wirft ein bewegtes Bild an die hellgraue Betonwand des Klassenzimmers. Die Kinder stöhnen. „Eurer Reaktion entnehme ich, dass ihr bereits alles über den Beginn des vierten Vernichtungskrieges wisst. Vielleicht möchte also jemand von euch erzählen, was heute vor genau zweihundert Jahren in Europa geschehen ist? Du vielleicht, CaAa?“ Der angesprochene Junge reißt erschrocken die Augen auf. „Die…ich…der…“ stottert er, dann bricht er ab und zuckt ratlos mit den Schultern. CaDa meldet sich eifrig zu Wort. Der ehrwürdige Meister blinkt ihr auffordernd zu und CaDa holt tief Luft: „Während der drei großen Vernichtungskriege, die auf die Machtergreifung der MaXx-Corporation in China folgten, schlossen sich die unabhängigen Firmen Europas zu einer vereinten Großmacht zusammen. Der United-Europe, kurz UE. Zwischen den Jahren 2343 und 2346 gelang es der UE, den globalen Markteinfluss der MaxX-Corporation massiv zu schwächen, indem man gezielt Saboteure in chinesische Produktionsanlagen einschleuste. Die Verlustzahlen unter der menschlichen Bevölkerung waren aufgrund dieser veränderten Strategie gering, was die Akzeptanz in der europäischen Arbeiterschaft stärkte und die Macht der UE stützte. Doch gelang es einer Gruppe von chinesischen Rebellen, am ersten Mai 2347…“ „Danke, CaDa, das genügt.“ würgt der ehrwürdige Meister ihren monotonen Vortrag ab. CaGa kichert gehässig. „Kann mir jemand etwas über den Beginn des vierten Vernichtungskriegs erzählen, ohne dabei von einem Bildschirm abhängig zu sein?“ fragt der Meister gereizt. „Ich habe nicht abgelesen!“ wehrt sich das Mädchen empört. „Nein, du hast den Text auswendig gelernt. Das ist nicht besser.“ versetzt der Meister. „Aber…“ hebt CaDa an, sich zu verteidigen. „Nichts aber.“ Der Meister schwebt zu ihrem Pult und betrachtet CaDa streng durch sein rotes Okular. „Es hat keinen Mehrwert, einfach nur Daten in dein Gehirn zu stopfen. Du kennst die Zahlen und Fakten, aber du begreifst nicht die Sensibilität der Ereignisse, die zur Entstehung des… CaGa, was amüsiert dich so sehr?“ Der ehrwürdige Meister wendet sich drohend dem kichernden Mädchen zu. CaGa errötet, das hämische Grinsen verschwindet schlagartig aus ihrem Gesicht. „Nichts, Ehrwürdiger.“ murmelt sie verlegen. „Dein Verhalten wird registriert.“ versetzt der Meister. „Nun, wo waren wir?“ fragt er ungehalten und schwebt wieder zurück in die Mitte des Raumes. Ein Mädchen aus der hinteren Reihe meldet sich. „Ja, CaEa?“ „Die Anschläge vom ersten Mai 2347, Ehrwürdiger. Die Auslöschung Europas.“ „Sehr gut, CaEa.“ brummt der Meister und wirft ein neues, bewegtes Bild an die Betonwand.
Der Vormittag vergeht zäh, der Unterricht will nicht enden. Die Kinder quälen sich durch die Geschichtsstunde, hören dutzende Beispiele ausgestorbener Sprachen, notieren Stichworte über die klassische KI des letzten Jahrhunderts und zeichnen zum Abschluss den genauen Aufbau des Schwarmbunkers auf ihren Bildschirmen nach. In der Mittagspause werden sie von einer Arbeiterin abgeholt. Die bringt sie allerdings nicht, wie üblich, in die kleine Mensa, sondern führt die Kinder zurück zur Gartensphäre. „Euer Spiel hat Schäden an den Pflanzen verursacht. Behebt sie.“ lautet ihre knappe Anweisung. Die Kinder trotten ergeben in die Sphäre und machen sich mit knurrenden Mägen daran, die Anlage aufzuräumen. Niemandem ist mehr zum Lachen zumute. Der Nachmittag bringt die angekündigte Doppelstunde Mathematik und eine Menge Hausaufgaben. Ein Helfer des ehrwürdigen Meisters schwebt wachend über den Kindern, die hungrig und gereizt vor ihren Bildschirmen hocken. CaDa wühlt erschöpft durch ihr blondes Haar und seufzt tief. Sie sieht zu CaGa hinüber, die gerade erfolglos versucht, ein Gähnen zu unterdrücken. Heimlich streckt sie ihr die Zunge heraus, dann wendet sie sich wieder ihrem Bildschirm zu. Die Minuten vergehen zäh, die Hausaufgaben werden nicht weniger. Eine Arbeiterin bringt schließlich Erlösung, als sie die Kinder zu einem späten Essen in die Mensa geleitet. Gierig saugen sie dort die warmen Nährbrei-Portionen in sich hinein, während zwei Hegerinnen zwischen den Sitzreihen umhergleiten und mit ihren weichen Tentakeln über die Körper der erschöpften Kinder streicheln. Es ist ein altes Ritual. Berührung stärkt Zusammenhalt. Satt und müde geht es nach dem Essen zurück in den Unterrichtsraum. Die Kinder haben Mühe, sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. CaDa kommt nicht über den ersten Satz ihres Referats hinaus und malt gelangweilt Blumen an den Rand des Bildschirms. In ihrem Rücken tuscheln CaBa und CaFa leise miteinander, bis der aufmerksame Helfer missbilligend piept und zur Ruhe auffordert.
Als die Kinder endlich in den Abend entlassen werden, schlurfen sie auf direktem Weg zur Schlafsphäre der Bunkeranlage C. Niemandem steht der Sinn nach einem Abenteuer. CaDa und CaGa trotten friedlich nebeneinander her, die Müdigkeit hat den Groll vertrieben. „C-Einheit!“ ruft eine Arbeiterin, als sie gerade in ihre weiche Nachtmutter kriechen wollen, „Habt ihr nicht etwas vergessen?“ Die Kinder schlüpfen zurück auf den kalten Boden der Sphäre, knien nieder und beginnen gemeinsam, ein kleines Gebet zu sprechen: „Lieber Schwarm, ich bin noch klein, kann so vieles nicht allein. Drum lass Maschinen sein auf Erden, die mir helfen, groß zu werden. Die mich nähren, die mich kleiden, die mich führen, die mich leiten. Ich bitte euch für diese Nacht, dass ihr mich im Schlaf bewacht. Dass kein Böser Traum mich weckt, und das Dunkle mich nicht schreckt. Amen.“ „Sehr gut.“ sagt die Arbeiterin zufrieden und gleitet zum Ausgang. Sie aktiviert die holografischen Verstärker, die einen glitzernden Sternenhimmel an die hohe Decke der Schlafsphäre projizieren und gleitet leise durch das Tor hinaus.

© sybille lengauer

Sand

Veröffentlicht: April 18, 2019 in Kurzgeschichten
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Sand. Allgegenwärtiger Sand. Kaum ein Grashalm, der sich hinter schützenden Felsbrocken regt. Keine Bäume, nur ein paar wenige, verkrüppelte Sträucher, die zäh dem heißen Wind trotzen.
Stille. Undurchdringliche Stille. Kein Bussard ruft, keine Maus raschelt durch das spärliche Gras, nicht einmal eine Eidechse gleitet über die kochend heißen Steine.
Hitze. Lähmende Hitze. Kein Fleckchen Erde, das nicht ausgezehrt wäre von der sengenden Glut, die selbst das letzte bisschen Feuchtigkeit aus dem Land herausbrennt.
Die Ruinen der zerstörten Großstadt ähneln einem bizarren Gebirge, das sich einsam aus der öden Landschaft erhebt. Wie Stümpfe abgebrochener Zähne ragen die Reste der Wolkenkratzer in den stahlblauen Himmel. Starren blicklos in eine flimmernde Weite, die unerbittlich zurückstarrt, ohne jemals zu blinzeln. Aufgeplatzte Betonstraßen, in denen die Wracks von tausenden Autos vom stetigen Wind geschleift werden, führen schnurgerade durch die zerstörten Häuserschluchten. Sanddünen wachsen an den verfallenen Gebäuden empor. Flirrender Staub tanzt durch verlassene Räume, bildet überall zentimeterdicke Schichten, wo er vom heißen Atem der Wüste hingetrieben wird. Doch tief, tief unten, in den Eingeweiden der zerstörten Stadt, in den alten U-Bahn-Schächten, die noch nicht eingestürzt sind, in der verrottenden Kanalisation, die nun niemand mehr benötigt, sickert ein wenig Wasser aus verborgenen Ritzen. Farblose Pflanzen gedeihen hier, geschützt vor den tödlichen Strahlen der Sonne. Ziehen ihre Nährstoffe aus den Fadengeflechten der widerstandsfähigen Pilze, an deren Zyklus sie sich angepasst haben. Sie bilden einen schier undurchdringlichen Dschungel aus rankenden Stielen und dornharten Blättern, die bleich in der Düsternis übereinander wuchern. Fluoreszierende Schleimpilze ziehen sich über die feuchten Wände, tauchen die Szenerie in zartgrünes Licht. Tiere existieren hier. Blasse, kleine Geschöpfe, die sich zäh von dem ernähren, was die Unterwelt zu bieten hat. Winzige Leuchtameisen bestäuben die zahllosen Blüten, angelockt durch deren süßlichen Duft. Haarlose Nagetiere bauen ihre kugelrunden Nester in den Wurzeln der Pflanzen. Werden belauert von züngelnden Schlagen, die sich leise durch die unterirdische Welt winden.
Leona ist auf der Suche nach diesen Orten. Sie kennt die spärlichen Anzeichen an der Oberfläche, die auf diese verborgenen Lebensräume hinweisen. Dick eingemummt in ihren verdreckten Schutzanzug, die empfindlichen Augen durch schwarze Brillengläser geschützt, eine Atemschutzmaske mit notdürftig geflickten Filtern über Nase und Mund, auf dem Rücken ein riesiger Rucksack, so zieht sie durch die trostlosen Straßen der ehemaligen Großstadt, immer auf der Suche nach einem geheimen Hort des Lebens, der sie für ein paar Wochen erhalten kann. Immer unterwegs. Immer allein. Leona weiß um die sensible Balance der wenigen, verbliebenen Oasen. Sie bleibt nie lange an einem Fleck, zieht immer weiter durch die menschenleeren Ruinenstädte und kehrt erst nach Jahren wieder zu einem unterirdischen Wald zurück, in dem sie schon einmal gewesen ist. Seit dreiundzwanzig Jahren folgt sie diesem Rhythmus. Überlebt in der unwirtlichen Einöde, die einst ein blühendes Zuhause der menschlichen Kultur war.
„Hör auf damit.“ brummt sie gereizt.
„Womit soll ich aufhören, ich mach doch gar nichts.“
„Du summst.“
„Ich summe nicht.“
„Du summst die ganze Zeit, verdammt.“
„Könnte an deinen ungewaschenen Ohren liegen, dass du ein Summen hörst. Ich bin es jedenfalls nicht.“
„Du kannst mich mal.“
Leona klettert auf einen rostigen Laternenmast, der sich einsam über eine sanft gewellte Sandfläche erhebt, die vor langer Zeit ein ausgedehnter Park war. Sie holt ein Fernglas aus der Brusttasche ihres Anzugs, späht angestrengt in alle Richtungen. Redet dabei unablässig mit sich selbst.
„Du gehst mir heute schon den ganzen Tag lang auf die Nerven.“
„Was kann ich dafür, dass du mit dem falschen Fuß aufgestanden bist?“
„Ich bin gar nicht aufgestanden, falls du das vergessen hast. Wir sind die ganze Nacht lang gewandert, weil du unbedingt dieses blöde Viertel erreichen wolltest.“
„Wir werden hier eine Oase finden. Glaub mir einfach.“
„Glauben kann ich Gott. Dir kann ich maximal vertrauen und dazu bin ich im Moment nicht in der Stimmung. Hier ist nur beschissener Sand.“
„Schau genauer hin. Da, Richtung Nordost.“
Leona kneift die Augen zusammen. Starrt angestrengt durch das Fernglas. Sieht nur Sand und verlockend wabernde Trugbilder von Ozeanen, die nicht existieren. Gereizt verlagert sie ihr Gewicht, um besser auf dem Laternenmast Halt zu finden.
„Ich sehe nichts.“
„Die dunklen Flecken?“
„Da sind keine dunklen Flecken.“
„Ich schwöre dir, da sind welche.“
„Und ich schwöre dir, wenn du dich irrst…“
Sie lässt ihre Drohung unausgesprochen verklingen. Steckt das Fernglas weg und klettert, schwer atmend, vom Laternenmast herunter. Schimpfend macht sich auf den Weg nach Nordosten. Trottet langsam über den brennend heißen Sand, achtet auf verborgene Löcher und tückische Stolperfallen. Leona kennt die unzähligen Gefahren der Ruinen. Kennt den tückischen Treibsand, die unberechenbaren Abgründe und die alles erstickenden Staubstürme, die in der verlorenen Stadt herrschen. Sie lässt sich Zeit. Nimmt lieber einen Umweg in Kauf, als ein Risiko einzugehen. Wägt sorgsam ab, bevor sie sich auf ein Wagnis einlässt. Leona überlebt.
„Du machst es schon wieder.“
„Was?“
„Summen.“
„Ich summe nicht.“
„Ich kann es aber hören!“
„Du hörst, was du hören willst, meine Liebe.“
„Meine-Liebe mich nicht.“
„Vielleicht sollten wir eine Rast einlegen, du bist wirklich überreizt.“
„Ich bin nicht überreizt, ich bin nur müde. Und durstig. Und hungrig.“
„Das bin ich auch.“
„Gut, dann eben eine Rast.“
Leona hält mürrisch an einer zerstörten Brücke, lässt sich im Schatten der verfallenen Betonkonstruktion nieder. Sie holt einen Trinkbeutel aus ihrem Rucksack, steckt das dünne Röhrchen unter die Atemmaske und trinkt. Dann setzt sie das Röhrchen ab und seufzt erleichtert.
„Hier, jetzt du.“
„Danke.“
Leona trinkt erneut. Verstaut den Lederbeutel dann wieder sorgsam an seinem Platz. Etwas Trockenfleisch findet seinen Weg in ihren Mund. Sie kaut die zähen Stückchen stumm. Starrt vor sich hin und ruht die erschöpften Muskeln aus.
„Sollen wir schlafen?“
„Ich weiß nicht. Dann verlieren wir noch mehr Zeit.“
„Aber du bist müde. Und ich kann auch schon kaum die Augen offen halten.“
„Du hast ja recht.“
Leona kriecht in eine Ecke, in der sie vor Sonne und Wind geschützt ist, rollt sich neben dem Rucksack zusammen und schließt erschöpft die Augen. Fällt augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem sie eine halbe Stunde später benommen erwacht. Noch einmal holt sie den Trinkbeutel hervor, saugt vorsichtig einen Schluck der kostbaren Flüssigkeit ein, dann macht sie sich erneut auf den Weg. Summt dabei leise eine traurige Melodie.

Langsam kommt die Dämmerung. Die Sonne versinkt hinter dem flimmernden Horizont, taucht die Welt in rötlichen Schimmer. Versetzt den Himmel in einen brennenden Farbenrausch. Die verlassenen Ruinen werfen lange Schatten, die wie dunkle Geister über der Szenerie liegen. Leona steht auf dem niedrigen Dach eines ehemaligen Autohauses, blickt in eine tiefe Senke und mustert wachsam die dunklen Flecken, die sich darin gebildet haben. Sie hat kein Auge übrig für das farbenprächtige Schauspiel der abendlichen Wüste.
„Das könnte etwas sein.“
„Habe ich dir doch gesagt.“
„Du sagst viel, wenn der Tag lang ist.“
Sie kniet nieder, starrt aufmerksam in die Senke.
„Wir sollten ein Lager aufschlagen und uns morgen abseilen.“
„In Ordnung.“
Leona übernachtet im Autohaus. Sie bringt sorgsam vier Taufänger in Position, die den feuchten Hauch des Morgens in kleinen Fläschchen konservieren, sucht einen verstaubten Wagen aus, der geräumig und bequem erscheint und bettet sich darin zur Ruhe. Erleichtert legt sie Brille und Atemschutzmaske ab, reibt über die aufgeraute, juckende Haut ihres Gesichts. Sie öffnet den Schutzanzug, kriecht ächzend heraus und rümpft die Nase, als der scharfe Geruch ihres ungewaschenen Körpers das Wageninnere flutet. Vor dem Schlafen isst sie noch ein wenig Trockenfleisch, trinkt zwei kleine Schlucke Wasser. Die Vorräte sind knapp. „Schlaf gut.“ sagt sie, rollt sich auf der Rückbank des Autos ein und träumt vom Geräusch des Regens. Träumt, bis sich die ersten Sonnenstrahlen durch die trostlosen Ruinen zwängen und von einem neuen Tag in der unendlichen Wüste künden.

„Sieht verdammt gut aus.“ Leona hängt an einem Seil, das sie sorgsam an einer Hausmauer verankert hat. Vorsichtig setzt sie ihre Schritte, trägt breite, ovale Schneeschuhe, die ihr Gewicht besser auf dem tückisch rutschenden Sand verteilen. Immer wieder sieht sie sich prüfend nach den dunklen Flecken um, während sie weiter in die Senke hinabsteigt. An einer besonders dunklen Stelle hält sie an, nimmt etwas Sand zwischen die Finger und zerreibt ihn. „Volltreffer.“ Leona nickt bestätigend zum Rand der Senke hin, verstaut etwas von dem Sand in einer kleinen Dose. Dreht sich dann langsam um und folgt konzentriert den flachen Spuren, die sie bei ihrem Hinweg ausgetreten hat. Sand rieselt unter ihren Füßen, rieselt an ihr vorbei in den tief gelegenen Grund der Senke, der wie ein großer Trichter alles verschluckt, was in ihm landet. Leona atmet erleichtert auf, als sie wieder festen Boden unter sich spürt. Sie legt die Schuhe ab, löst das Seil und begibt sich zurück in den Schatten des Autohauses, in dem sie ihre restliche Ausrüstung zurückgelassen hat. Der dunkle Sand aus der Senke, den sie nun ohne Schutzhandschuhe berühren kann, fühlt sich ölig und feucht an. Leona brummt zufrieden und setzt sich auf den sandigen Boden des Autohauses. An einem Stück Trockenfleisch kauend, studiert sie eine stark zerknitterte Karte.
„Es ist mit Sicherheit kein U-Bahn-Tunnel.“ stellt sie schließlich fest.
„Vielleicht eine Tiefgarage?“
„Ich weiß nicht, könnte sein.“
„Wir sollten diese beiden Häuser überprüfen. Hier und hier drüben. Vielleicht finden wir einen Eingang.“
„Was ist mit diesem Gebäude?“
„Ich weiß nicht, sieht aus wie ein normales Wohnhaus. Das können wir uns zum Schluss vornehmen.“
„Gut, einverstanden.“
Leona packt sorgfältig ihre Habe ein. Alles hat seinen bestimmten Platz im Rucksack, wird ordentlich zusammengelegt und verstaut. Als sie fertig ist, erzählen nur noch der verwischte Staub und ein paar Spuren im allgegenwärtigen Sand von ihrer Anwesenheit. Hinter der kaputten Eingangstür des Autohauses bleibt sie noch einmal im Schatten stehen.
„Sollen wir eine Münze werfen, mit welchem wir beginnen?“
„Klar.“
Gutmütig lächelnd fasst Leona unter ihren Schutzanzug, holt eine in Draht gefasste Münze hervor, die an einem Lederband baumelt. „Kopf ist Nord, Zahl ist Süd.“ sagt sie, wirbelt das Band und wirft die Kette in die Luft. Die Münze fliegt hoch und landet im Sand zu ihren Füßen.
„Zahl.“
„Süden also.“
„Dann lass uns gehen.“
Leona blickt nicht zurück, als sie den Schatten des Autohauses verlässt und sich auf den Weg zu der hoch aufragenden Ruine macht. Besonnen umkreist sie das verfallene Gebäude, sucht nach Schwachstellen in der Architektur, die ihr zum Verhängnis werden könnten.
„Hier steht ‚Marriott‘ dran, ich glaube, das war einmal ein Hotel.“
„Sieht ganz gut aus.“
„Das sagst du immer. Und zehn Minuten später muss ich dir wieder das Leben retten.“
„Ich bitte dich, wer hat dich neulich aus dieser Grube gezogen?“
„Fang nicht wieder mit der elenden Grube an.“
Mit sich selbst streitend, betritt Leona das Gebäude durch die breite, zerbrochene Eingangstür. Staubwolken wirbeln auf, feine Sandkörnchen legen sich auf ihren Schutzanzug. Leona stellt den riesigen Rucksack neben der Eingangstür ab und sieht sich wachsam in der großen Eingangshalle um. Ihr Blick sucht lange die fleckige Decke ab, dann prüft sie eingehend den, mit einer dicken Sandschicht bedeckten, Boden. „Sieht nicht so aus, als würde hier etwas in der nächsten Zeit nachgeben.“ stellt sie schließlich fest. Zufrieden grunzend hält sie nach einem Fahrstuhlschacht Ausschau, der ihr den Abstieg in die unteren Etagen ermöglicht. Findet ihn am anderen Ende der geräumigen Eingangshalle. Ihr Weg führt vorbei an ausgebleichten Skeletten, die eng umschlungen auf dem sandigen Boden liegen, einsam an verstaubten Tischen sitzen oder zusammengesunken in den Ecken zerschlissener Sofas kauern. Leona beachtet die Toten nicht. Tritt achtlos über sie hinweg und steuert auf die Fahrstühle zu. Sie übersieht die verdächtige Delle im Boden, konzentriert sich zu sehr auf das Ziel vor ihren Augen. Krachend gibt der Untergrund nach und Leona stürzt mit einem überraschten Aufschrei in die Tiefe.

„Verdammt.“
„Geht es dir gut?“
„Ich weiß nicht. Und dir?“
„Keine Ahnung.“
Leona liegt benommen auf den Überresten eines zerbrochenen Holzregals, das ihren Sturz etwas abgemildert hat. Vorsichtig prüft sie ihre Extremitäten, erforscht den Körper nach Anzeichen einer Verletzung. Als kein greller Schmerzimpuls auf ihre Versuche antwortet, setzt sie sich ächzend auf und hustet.
„Das war ja wieder eine Spitzenleistung.“
„Du hättest es genauso gut sehen können.“
„Klar, schieb es nur wieder auf mich.“
„Ach, wir sind beide Idioten.“
Der Zorn hilft ihr auf die Beine. Schwankend steht sie in der Dunkelheit, sieht verstimmt nach oben zu dem Loch, das in der Decke klafft. „Zumindest ist der Fahrstuhlschacht nicht weit entfernt.“ stellt sie nüchtern fest. Leona zieht eine kleine Stabtaschenlampe aus einer Tasche ihres Anzuges und leuchtet durch den Raum.
„Wow.“
„Oh mein Gott.“
„Sieh dir das an!“
„Konserven!“
Leona ist in einem Vorratslager des ehemaligen Hotels gelandet. Mit großen Augen blickt sie auf lange Reihen von Regalen, die gefüllt sind mit Konservendosen und Plastikverpackungen. Nach dreiundzwanzig Jahren sind viele Waren verdorben, aber Leona weiß, dass manche Produkte eine Ewigkeit halten. Andächtig bleibt sie vor einer Schachtel mit Honiggläsern stehen. „Wow.“ haucht sie wieder. Reißt das Plastik von der Verpackung, reißt den darunterliegenden Karton in Stücke, nimmt ein Glas heraus und öffnet andächtig den Deckel. Der Geruch von Honig erfüllt das alte Lager. „Ich zuerst.“ quengelt sie und hält das Glas in der ausgestreckten Hand. „Nein, ich.“ „Es ist genug für uns beide da.“ „Dann kannst du mir ja den Vortritt lassen.“ „Wieso bist du immer zuerst an der Reihe!“ „Das ist doch gar nicht wahr.“ „Natürlich ist es wahr, du denkst immer nur an dich!“ Wütend fährt Leona herum und lässt dabei das Glas auf den Boden fallen. „Sieh dir an, was du angerichtet hast!“ schreit Leona und deutet zornig auf die Scherben. Sie reißt sich die Atemschutzmaske vom Gesicht, versetzt sich selbst eine schallende Ohrfeige. „Du egoistisches Miststück!“ Leona schlägt sich erneut, schlägt hart zu und faucht dabei böse. „Ich hasse dich!“ kreischt sie und torkelt gegen das Regal. Weinend bricht sie zusammen, bleibt verkrümmt sitzen und schüttelt verzweifelt den Kopf. Lange sitzt sie so da, stiert vor sich hin und blutet aus der Nase. Als sie endlich wieder aufsteht, geht sie stumm zu dem Karton zurück, nimmt ein neues Glas heraus, dreht den Verschluss mit einem kräftigen Ruck auf und verschlingt gierig den kristallisierten Honig. Tränen laufen über ihr schmutziges Gesicht. Der ungewohnt süße Geschmack fühlt sich erst widerlich an. Dann jagt der reichhaltige Zucker ein Schaudern über ihren Körper, schickt Gänsehaut von ihrem Nacken bis zu den Zehenspitzen. Leona lacht und weint zugleich. Stopft das klebrige Gold weiter in sich hinein, leckt die Finger gierig blank. Dann tanzt sie lachend durch das Lager, trunken von der Energie des Honigs. Irgendwann bricht sie wieder zusammen und schluchzt heftig. Der unermessliche Reichtum des Schatzes macht sie fassungslos.

„Das machst du ganz prima.“ sagt Leona sanft. „Danke.“ antwortet sie kühl. Sie zieht eine Ladung mit Lebensmitteln und Getränken aus dem Loch in der Eingangshalle. Leona hat eine feste Basis im Autohaus errichtet und schafft nun einen Teil des Lagervorrats in ihr neues Zuhause. Sie wird lange mit dieser Fülle an Vorräten überleben können, hat nun endlich Zeit, sich auf wichtige Reparaturen zu konzentrieren, die sie bei ihrer Wanderung vernachlässigt hat. Ihre Körperhaltung drückt trotzdem keine Zufriedenheit aus.
„Bist du immer noch böse auf mich?“
„Nein, alles wunderbar.“
„Ich weiß genau, wann du mich anlügst.“
„Ach, tust du das?“
Leona schleift das Paket aus dem Hotel, wuchtet es auf einen improvisierten Schlitten und zieht diesen durch die kalte Luft der Wüstennacht. Ihre Augen suchen kurz den Himmel ab, sind blind für den majestätischen Anblick der funkelnden Sterne. Nicht eine Wolke zeigt sich am nächtlichen Himmel. Leona zuckt mit den Schultern und zieht den Schlitten weiter zum Autohaus. Es ist ihre letzte Tour, bald bricht der Morgen an und Leona wird sich schlafen legen. Sie meidet nun den Tag, da sie den Blick in die Ferne nicht mehr braucht, um sich zu orientieren. Vor dem Autohaus hievt Leona das große Paket vom Schlitten und zerrt es nach drinnen. Nachdem sie die Nahrungsmittel und Getränke sicher verstaut hat, zündet sie ein kleines Feuerchen vor dem Eingang des niedrigen Gebäudes an. Leona verbrennt die Büroeinrichtung des Autohauses, starrt nachdenklich in die bunten Flammen, die das lackierte Holz erzeugt. Ein Topf mit Reis und aufgeweichtem Dörrfleisch blubbert über dem Feuer. Leonas Magen knurrt. Ächzend steht sie noch einmal auf, geht nach drinnen und kehrt mit einer Flasche Gin zurück. Sie stellt die Flasche in den Sand, holt den Topf aus dem Feuer und rührt, bis die Masse kalt genug geworden ist. Hungrig löffelt sie den salzigen Brei, isst, bis kein Bissen mehr Platz hat. Dann rülpst sie laut, öffnet die Flasche und trinkt einen großen Schluck. Leona starrt wieder ins Feuer. Die Flammen spiegeln sich in ihren großen Augen, flackern über ihr ausgezehrtes Gesicht. „Wir müssen reden.“ sagt sie schließlich. „Wir müssen gar nichts.“ erwidert sie, starrt weiter ins Feuer und trinkt in langen Zügen.
„Du kannst nicht ewig beleidigt sein.“
„Ich bin nicht beleidigt.“
„Was bist du dann?“
Leona greift wütend nach einem Stuhlbein, stochert damit im Feuer herum. Funken fliegen auf, tanzen in den Himmel, der im Osten langsam zu erröten beginnt. „Ich weiß auch nicht.“ brummt sie nach einer geraumen Weile. Frustriert setzt sie die Flasche an die Lippen und trinkt.
„Alkohol macht es auch nicht besser.“ „Stimmt.“ Leona steht schwankend auf und geht hinein. Kommt mit einer Schachtel Zigaretten zurück, setzt sich wieder hin und beginnt zu rauchen. „Davon wird dir schlecht.“ kommentiert sie und lacht plötzlich bitter auf. „Was interessiert dich das.“ versetzt sie. Trinkt, raucht und starrt mürrisch in den spektakulären Sonnenaufgang. Bevor sie sich schlafen legt, kotzt sie ausgiebig in den trockenen Sand, flucht über die verschwendete Nahrung und befielt sich, das Maul zu halten.
Am nächsten Abend sitzt sie wieder vor einem kleinen Feuerchen, bereitet ein Frühstück zu und hält sich den brummenden Schädel. „Ich habe dich ja gewarnt.“ sagt sie triumphierend, verzieht danach genervt das Gesicht. „Sei doch bitte einmal ruhig.“ knurrt Leona. Stumm stopft sie den heißen Brei in sich hinein, trinkt ausgiebig Wasser und wendet sich dann den Arbeiten zu, die sie in der heutigen Nacht beschäftigen. Der Rucksack muss ausgebessert werden, der Schutzanzug hat Risse, ihre Unterwäsche hält nur noch an wenigen Fäden zusammen. Leona arbeitet still, spricht über Stunden hinweg kein Wort. Manchmal steht sie auf, geht hinein und kommt mit einem Gegenstand zurück, den sie für ihre Ausbesserungsarbeiten braucht. Das Innere des Autohauses hat sich stark verändert. Leona hat viele Wagen nach draußen geschoben. Mit Geschickt und Mühe hat sie sich ein geräumiges Zuhause geschaffen, das verbarrikadiert ist gegen die unerbittlichen Elemente. Ein Berg von Decken und Kissen aus dem Hotel bildet ihr riesiges Bett, darum herum türmen sich Stapel aus Lebensmitteln und Getränken. Leona schläft gerne in ihrem Hort. Jetzt geht sie zu einem kleinen Schränkchen, das sie aus dem Büro geborgen hat und holt eine lange Schere aus einer der Schubladen. Auf dem Weg nach draußen greift sie nach einer Flasche Whiskey. „Schon wieder?“ fragt sie traurig, als sie sich zurück ans Feuer setzt. „Fang bitte nicht wieder damit an.“ antwortet sie gereizt. Leona wirft neues Holz ins Feuer. Öffnet die Flasche und trinkt. „Willst du nun jede Nacht trinken?“ „Und was, wenn dem so wäre?“ Sie nimmt grob die Näharbeit wieder auf, mit der sie sich beschäftigt hat, grunzt dann und legt sie wieder zur Seite. „Es geht dich einen Scheißdreck an.“ stellt sie mit Nachdruck in der Stimme fest.
„Du weißt, dass das nicht stimmt.“
„Gar nichts weiß ich.“
„Warum ist dir immer alles egal?“
„Warum sagst du immer ‚immer‘ wenn du nörgelst?“
„Warum denkst du, es wäre eine gute Idee, mich nachzuäffen?“
„Warum denkst du, es wäre eine gute Idee, mir ständig auf die Nerven zu fallen?“
Leona lässt ihre geballte Faust wütend auf den weichen Boden knallen. Sie murmelt etwas und wirft weiter Holz ins Feuer. Die Flammen fressen sich begierig durch das trockene Holz, züngeln in bunten Farben in die mächtige Dunkelheit der Nacht. „Was hast du da gerade gesagt?“ zischt Leona, ihre Augen werden schmal. „Nichts.“ erwidert sie, starrt gereizt ins Feuer. „Nein. Du hast nicht Nichts gesagt.“ Leonas Stimme ist sehr leise. Eine große Erregung zittert in ihren Worten. „Doch.“ antwortet sie knapp. „Sag es!“ schreit Leona. „Hör endlich auf!“ schreit sie zurück.
Leona greift nach der Schere, die neben ihr im Sand liegt. Ihre Stimme verliert sich fast im munteren prasseln des Feuers. „Ich habe gesagt, dass ich ohne dich besser dran wäre! Na? Bist du nun zufrieden? Dann: Lass. Mich. Endlich. In. Ruhe!“ Die letzten Worte schreit sie wieder, stößt dabei mit der spitzen Schere durch die leere Luft. Niemand antwortet ihrem Ausbruch. Blinzelnd sieht sich Leona um. Sie sitzt einsam vor dem Feuer, hält verkrampft die Schere in der Hand. Leona blickt verwirrt um sich, dreht sich nach links und rechts, schaut hinter sich, steht schließlich auf und läuft um das Gebäude. Sie ist allein. Stirnrunzelnd kehrt sie zurück zum Feuer, setzt sich und starrt in die Flammen.

„Hast du an das Seil gedacht?“ Leona steht vor dem Loch in der Eingangshalle des Hotels und tastet suchend ihren Schutzanzug ab. Sie will sich nur kurz abseilen, um eine neue Flasche von dem herrlichen Sherry zu holen, der ihr so besonders wohl tut. Stille beantwortet ihre Frage. Leona zuckt kurz schuldbewusst zusammen. Seufzend dreht sie sich um und verlässt mit schlurfenden Schritten das Hotel. Im Autohaus stöbert sie das Seil aus dem Chaos, in das sie ihre Basis in den vergangenen Wochen verwandelt hat. Leona hat eine Menge Dinge gehortet, hat ihr Zuhause in ein Sammelsurium aus Gegenständen verwandelt, die sie in der Umgebung gefunden hat. Ausgebleichtes Spielzeug drängt sich in improvisierten Regalen neben dutzenden Büchern und unnützen Relikten aus der Vergangenheit. Lampions und Girlanden hängen in wirren Trauben von der Decke des Autohauses, an den Wänden kleben bunte Bilder von Vögeln, Wäldern, Delfinen, Wasserfällen und muskulösen, jungen Männern. Leona lacht triumphierend auf, als sie das Seil schließlich findet. Sie wickelt es geschickt auf und läuft zurück in die Ruine des Hotels. Dort verankert sie das Seil dem Flaschenzug, den sie für den Transport der Pakete gebaut hat, schlingt es ungeduldig durch die Halterung an ihrem Anzug und lässt sich in die Dunkelheit gleiten. Der schlampige Knoten, mit dem sie das Seil am Flaschenzug befestigt hat, löst sich prompt. Ihr erschrockener Schrei schallt zum zweiten Mal durch den riesigen Hotelfriedhof, der teilnahmslos in den Nachthimmel ragt. Leona schlägt hart mit dem Hinterkopf auf und verliert das Bewusstsein. Als sie zu sich kommt, liegt sie benommen auf dem harten Boden des Lagers. Vorsichtig prüft sie ihre Extremitäten, zieht mit einem scharfen Laut die Luft ein, als ein heftiger Schmerz durch ihr Bein fährt. „Das darf nicht wahr sein.“ Leona tastet nach der kleinen Taschenlampe. Fühlt, dass diese zerbrochen ist und sucht daraufhin nach der Ersatzlampe, die sie im Anzug bei sich trägt. Der kleine Lichtkreis, mit dem sie ihre Beine endlich beleuchtet, offenbart keine offensichtlichen Verletzungen. Vorsichtig tastet Leona an der Hose des Anzugs entlang. Ein starker Schmerz verrät schließlich das gebrochene Schienbein. „Verdammt.“ knirscht Leona. Panik greift mit eiskalten Krallen nach ihr, aber Leona wehrt sich gegen das Rasen ihres Herzens, denkt bewusst gegen den klaffenden Abgrund an, der sich in ihrer Seele öffnen will. „Das ist keine große Tragödie.“ flüstert sie tapfer. „Wir müssen das Bein nur schienen. Das kriegen wir schon hin, oder?“ Leona lauscht in der erdrückenden Stille nach einer Antwort. „Hörst du mich?“ ruft sie verzweifelt. Da ist sie wieder, die kopflose Panik. War nie weg, hat nur gelauert, auf den einen Moment, an dem Leona nicht wachsam ist. Der Lichtstrahl ihrer Lampe zittert hektisch über die Regale. Ihr Mund wird trocken, der Herzschlag galoppiert. Schreckensbilder aus der Vergangenheit brechen über sie herein. Peter, der qualvoll im Feuer stirbt. Karin, die schreiend verblutet. Sonja, die sich einfach hinlegt und nicht mehr aufsteht, weil ihr kleiner Sohne verhungert ist. Miriam, die hilflos im tödlichen Treibsand versinkt. All die Toten sterben erneut vor Leonas innerem Auge, während sie entsetzt nach Luft schnappt. Ein bleierner Ring legt sich eng um ihre Lungen, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Leona hyperventiliert, verdreht die Augen, verliert wieder das Bewusstsein.
Als sie diesmal erwacht, bleibt sie lange still liegen. Starrt ausdruckslos auf das Loch in der Decke. Dann wendet sie den Kopf und mustert das Seil, das neben ihr auf dem Boden liegt. „Ich komme da hoch.“ presst Leona hervor. Rappelt sich stöhnend auf und sucht nach Material, mit dem sie das gebrochene Schienbein versorgen kann. Sie robbt fluchend durch den Gang, feuert sich selbst an, bis sie schließlich eine Palette mit gestapelten Holzkisten findet. Mühsam schlüpft sie mit den Armen aus ihrem Anzug, zieht das Unterhemd aus und reißt es in Streifen. Jede Bewegung bringt Scherzen. Leona zerbricht umständlich zwei Holzkisten und bastelt eine einfache, aber stabile Schiene. Sie stöhnt gequält auf, als sie die geschichteten Bretter eng an ihr gebrochenes Bein wickelt. Unterdrückt den Drang, sich zu erbrechen. Erschöpft ruht sie aus, nachdem der letzte Knoten gebunden ist. Liegt flach auf dem Boden und atmet gegen den Schmerz. Dann zieht sie sich mühselig an einem Regal nach oben und humpelt langsam zurück zum Seil. „Wie kriege ich dich nach oben?“ fragt sie die Dunkelheit. Augenblicklich denkt sie an die Pakete mit Pfeffer, die ihr bei einer vergangenen Expeditionen im Lager aufgefallen sind. Sie sind fünf Kilo schwer und könnten stabil genug sein, um nicht sofort zu zerbrechen, wenn sie aus dem Loch geschleudert werden. Leona schlurft langsam die Regale entlang, findet die Pakete und schleppt eines davon zurück zum Seil. Sie verknotet es, prüft den Knoten sorgfältig, denkt sich in die Eingangshalle und überlegt, wo das Pfefferpaket landen muss, um sich zu verkeilen. Sie wählt ihr Ziel mit bedacht, blickt angestrengt nach oben, beginnt, das Seil zu schwingen. Unzählige Male hat sie so schon geworfen. Sich aus Gruben, Abgründen und diesem Lager gezogen. Doch noch nie war sie dabei wirklich alleine. Die Unsicherheit lässt ihre Hand zittern, als sie das wirbelnde Geschoss loslässt. Das Paket landet klatschend an der Decke, fällt wieder zurück auf den Boden des Lagers und zerplatzt. Pfefferkörner fliegen durch die Luft. Leona flucht. Stöhnend humpelt sie zurück zu den Paketen. Der zweite Versuch gelingt besser, das Paket fliegt durch das Loch in der Decke, verkeilt sich aber nicht. Leona pausiert erschöpft, wartet, bis sich ihre zitternden Muskeln von der brutalen Anstrengung erholt haben. Beim dritten Mal verkeilt sich das Paket endlich. Leona freut sich still, ist zu ausgelaugt, um einen Laut von sich zu geben. Sie weiß, dass sie nach oben klettern muss. Hat Angst vor dem Kraftakt. Also humpelt sie durch das Lager und kehrt mir uralten Schokoriegeln und einer Wasserflasche zurück. Setzt sich ächzend unter das Loch, isst die Schokolade, trinkt das Wasser und wartet. Irgendwann hat sie das Gefühl, bereit zu sein. Sie nimmt all ihren Mut zusammen, windet das Seil durch die Halterung des Anzugs, legt ihr ganzes Gewicht hinein, um die Stabilität des Pakets zu prüfen. „Wir kriegen das hin.“ versichert sie sich wieder, dann beginnt sie den Aufstieg. Quälend langsam kommt sie voran, die Muskeln in ihren Armen brennen, können das Gewicht des Körpers kaum tragen. Leona kämpft sich Zentimeter für Zentimeter nach Oben. Sie hört auf nachzudenken, hört auf, Schmerz zu empfinden, sieht nur noch das nächste Stück Seil, nach dem ihre zitternden Finger greifen. Ihre Hände schwitzen. Leona gleitet ab, verliert den Halt und fällt zurück auf den Boden des Lagers. Der Sturz presst die Luft aus ihren Lungen, der Schmerz im Schienbein jagt rote Explosionen durch ihr Gehirn. Leona weint verzweifelt. „Ich schaffe das nicht!“ heult sie zwischen zwei großen Schluchzern. „Ganz ruhig jetzt, ganz ruhig.“ Leona erstarrt. „Ich bin ja bei dir.“ sagt sie mit beruhigender Stimme. „Du bist wieder da?“ flüstert Leona ungläubig, dicke Tränen laufen über ihre Wangen. „Ich war nie weg.“ antwortet sie sanft. „Es tut mir so leid.“ „Mir auch.“ „Ich hätte nie sagen sollen, dass ich ohne dich…“ „Das ist jetzt nicht wichtig.“ unterbricht sie sich selbst. „Wir müssen hier raus und dich versorgen.“ Leona blickt hoch zu dem Loch. „Wir kriegen das hin.“ sagt sie und nickt dabei zuversichtlich.

© sybille lengauer

Sonne

Veröffentlicht: Februar 25, 2019 in Kurzgeschichten
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Gebet

Was hat die Sonne am ersten Tag getan? Aufstehen.
Was haben wir am ersten Tag getan? Schlafen gehen.
Was hat die Sonne am zweiten Tag getan? Sie hat die Pflanzen verbrannt.
Was haben wir am zweiten Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am dritten Tag getan? Sie hat die Tiere verbrannt.
Was haben wir am dritten Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am vierten Tag getan? Sie hat die Meere verbrannt.
Was haben wir am vierten Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am fünften Tag getan? Sie hat die Menschen verbrannt.
Was haben wir am fünften Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am sechsten Tag getan? Sie hat die Ödnis erschaffen.
Was haben wir am sechsten Tag getan? Wir haben geschlafen.
Was hat die Sonne am siebten Tag getan? Schlafen gehen.
Was haben wir am siebten Tag getan? Aufstehen.

Die Schatten wurden merklich länger, doch Mi-Jai weinte nicht. Sie verabschiedete sich steif und mit angemessenen Worten von Vater und Mutter, ihr gepacktes Bündel lag neben der Tür breit. Vater übergab ihr ein robustes Tuch, das er in den letzten Tagen gewebt hatte. Die gedämpften Farben drückten eine Traurigkeit aus, die er nicht in Worte fassen konnte. Mutter übergab ihr nichts. Sagte nichts.
Die Sonne senkte sich dem Erdenrund entgegen, doch Mi-Jai weinte nicht. Sie schulterte ihr Bündel, sah noch einmal in die resignierten Augen ihrer Eltern, verbeugte sich leicht. Dann ging sie zum Haus der Ältesten und verharrte respektvoll vor deren Eingang. Hoch über ihrem Kopf kamen die Sonnenräder in den Hügeln langsam zu einem quietschenden Halt, als die rote Himmelsscheibe hinter dem Horizont versank. Die Mühlen standen still. Aus dem Fenster eines Lehmhauses schimmerte schwaches Kerzenlicht. Mi-Jai dachte daran, dass jedes Haus in der Stadt heute Nacht eine kleine Kerze ins Fenster stellen würde. Sie hatte es oft genug selbst getan.
Die Nacht brach herein, doch Mi-Jai weinte nicht. Sie wartete vor der Tür der Ältesten, zeigte kein Zeichen von Unruhe. Als Hera-Nagi schließlich krumm und gebeugt aus dem Haus schlurfte, kniete Mi-Jai nieder und richtete ihren Blick auf den Boden. Lauschte nur auf das vertraute Klimpern, das die Ketten aus zarten Tierknochen um Hera-Nagis Fußgelenke hervorriefen. Sie roch den betörenden Duft der Räucherwurzeln, der die alte Frau umgab. Sog ihn in sich auf. „Unfruchtbare Tochter der Jai, dies ist dein Lebewohl.“ rief Hera-Nagi feierlich, während sie langsam näher kam und schließlich eine faltige Hand auf Mi-Jais Kopf legte. „Möge sich die Ödnis deines Leibes mit der großen Ödnis verbinden. Möge dein Staub Eins werden mit dem Staub des Landes. Mögest du aufkeimen in der Leere oder vergehen in der Dunkelheit.“ Mi-Jai spürte, wie warmes Öl ihren Kopf hinunterrann. Roch den Duft scharfer Kräuter, als die alte Frau sich über sie beugte und sanft ihren Scheitel küsste. „Gehe nun zur Mutter.“ sprach die Hera-Nagi und übergab Mai-Jai ein kleines Räuchergefäß. Diese erhob sich und versuchte ebenfalls feierlich zu wirken, als sie den Weg zum Heiligtum antrat.
Die Sterne funkelten am samtschwarzen Himmel doch Mi-Jai weinte nicht. Sie betrat die Kultstätte barfuß und mit geöltem Haupt. Trug das kleine Räuchergefäß, aus dem süßlicher Duft sickerte. Irgendwo in der Dunkelheit weinte ein kleines Kind. Das Weinen fuhr schmerzhaft in Mi-Jais Eingeweide. Sie verharrte in ihrer Bewegung und blieb unsicher stehen, wusste nicht recht, ob sie weitergehen sollte. Eine Priesterin trat hinter dem riesigen Frauenkopf hervor, der das Heiligtum dominierte. Halb versunken in der Erde, starrte das metallene Gesicht der Mutter in einen Sternenhimmel, der teilnahmslos auf sie zurückblickte. Ihre verrostete Strahlenkrone war mit Gebetsfahnen und Wunschtüchern behangen, die im sanften Nachtwind flatterten. Mi-Jai übergab das Räuchergefäß der Priesterin, während ihr Blick ehrfürchtig über das Antlitz der Mutter glitt. Dann folgte sie der Priesterin in den hinteren Bereich des Heiligtums, in dem hunderte Kerzen brannten. Eine kleine Gruppe Frauen erwartete sie dort bereits. Kunstvoll gewebte Roben raschelten über den Boden, als sie sich im Kreis um Mi-Jai aufstellten. „Unfruchtbare Tochter der Jai, dein Lebewohl wurde gesprochen. Es ist nun an der Zeit, dein Zeichen zu empfangen.“ „Priesterin der Mutter,“ erwiderte Mi-Jai mit zitternder Stimme, „ich bitte um das Zeichen der Kriegerin. Wenn unser Dorf mich in die Ödnis entsendet, möchte ich seinen Namen durch meine Taten in Ehren halten.“ „Dein Ansinnen ist Edel, Tochter der Jai, aber die Mutter hat ein anderes Los für dich entschieden.“ erwiderte eine der Frauen. Mi-Jai schluckte und schloss verkrampft die Augen. „Wenn unser Dorf dich in die Ödnis entsendet, wirst du seinen Namen durch deine Worte in Ehren halten. Du wirst das Zeichen der Erzählerin tragen.“ sagte eine der Frauen feierlich. „Aber ich kann keine Geschichten erzählen!“ entfuhr es Mi-Jai, die sich erschrocken die Hände vor den Mund schlug, kaum waren die Worte aus ihrem Mund geschlüpft. „Dann wirst du es lernen.“ antwortete eine Priesterin streng. „Die Mutter fällt das Los nie unbedacht.“ sagte eine der Frauen. „Ihr Blick ruht in einer Zukunft, die für uns verschlossen bleibt.“ übernahm eine andere. „Nimm das Zeichen an und verneige dich vor der Mutter.“ flüsterte eine dritte Stimme eindringlich. Mi-Jai nahm die Hände vom Mund und verneigte sich still. Die Priesterinnen führten sie zu einer geflochtenen Matte, halft ihr dabei, sich hinzulegen. Mi-Jai empfing das Zeichen.
Die Tätowierung schmerzte, doch Mi-Jai weinte nicht. Sie biss die Zähne fest zusammen, bis es in ihren Ohren klingelte. Ertrug die hämmernden Stöße gegen ihre Stirn. Zählte bis hundert. Und dann wieder von vorn. Aus dem riesigen Kopf der Mutter erklang mehrstimmiger Gesang. Mi-Jai begriff, dass sie die Nachtgesänge der Mutter ein letztes Mal hören würde. Sie spürte, wie sich Tränen in ihre Augen drängten. Schluckte sie hinunter. Konzentrierte sich auf den Schmerz, den die Nadel hervorrief. Eine der Priesterinnen räusperte sich. „Nun da du das Zeichen der Erzählerin empfängst, gebe ich dir deine erste Erzählung. Sie soll der Faden sein, dem viele weitere folgen werden, bis das Gewebe der Geschichten dich tragen kann. Höre, Tochter der Jai: Vor langer Zeit herrschte die Sonne friedlich über diese Welt. Sie spendete Licht für die Samen, auf dass sie keimten und in den Himmel wuchsen. Sie spendete Wärme für die Tiere, auf dass sie sich regten und freudig mehrten unter ihrem Angesicht. Sie spendete Hoffnung für die Menschen, auf dass sie sich aus dem Staub erhoben und ihren Namen priesen. Und die Menschen erhoben sich. Doch sie priesen nicht den Namen der Sonne. Gefräßig suchten sie, sich die Kraft der Sonne zu Eigen zu machen. Sie stahlen ihr heiliges Licht und brachten großes Leid über die Erde. Sie fraßen sich in den Boden, fraßen sich in den Himmel, fraßen sich in die Meere. Die Sonne verbarg ihr Antlitz, weil sie das Unglück nicht schauen konnte. Dunkelheit erfasste die Welt und die Meere brandeten über das Land. Aber die Menschen störte das nicht. Sie fraßen sich weiter voll mit den Geschenken der Sonne und dankten ihr niemals dafür. Als die Menschen begannen sich selbst zu fressen, stiegen ihre gellenden Schreie in den rauchschwarzen Himmel. Die Sonne hörte die Schreie und wandte sich der Erde zu. Aber sie konnte nicht ertragen was sie sah. In ihrem Schmerz verbrannte sie die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. Sie fegte ihre Asche in die Ozeane. Sie schuf die Ödnis und übergab sie unseren Vormüttern, auf dass wir ihren Segen preisen. Wir sprechen das Gebet, um uns an diese Zeit des Feuers zu erinnern.“ Die Priesterin verstummte. Mi-Jai lag regungslos auf der Matte und ließ die Tätowierung weiter über sich ergehen. Im Stillen dachte sie, dass sie ausgerechnet diese Geschichte schon auswendig kannte. Weil jeder sie kannte. Die Geschichte der tausend Sonnen und wie ihre Vormütter aus dem Ewigen Schlaf erwacht waren, um die Erde neu zu besiedeln. Als kleines Kind hatte Mi-Jai diese Geschichte gemocht. Aber dann hatte sie das Interesse an Geschichten verloren. Hatte die Erzählerinnen nicht besucht, wenn sie vor den Toren der Stadt lagerten. Und jetzt…
Die Minuten verstrichen. Der sphärische Gesang aus dem metallischen Kopf der Mutter verebbte und die Stille der Nacht senkte sich über das Heiligtum. Das Hämmern der Nadel endete. Die Priesterinnen rieben neues Öl auf ihre Stirn und halfen Mi-Jai zurück auf die Beine. „Erzählerin, du wirst unsere Stadt durch das südliche Tor verlassen und sie nie wieder betreten. Du bist nun kein Teil unserer Gemeinschaft mehr. Du bist nun keine Tochter der Jai mehr. Gehe Namenlos aus unserer Stadt. Wenn du durch das Tor gehst, blicke nicht zurück.“ Mit diesen Worten schickten die Priesterinnen sie in die Nacht hinaus.
Ein stetiger Wind blies über die Ödnis, als das namenlose Mädchen aus dem Stadttor trat. Der Mond ging langsam über den Hügeln auf und tauchte die Sonnenräder in silbriges Licht. Ein Narga rief in der Ferne sehnsüchtig nach seinem Weibchen. Das Mädchen schaute auf den schmalen Weg, der vor ihr lag, schaute in den grenzenlosen Himmel, der sich über ihrem Kopf ausbreitete, schaute nicht zurück. Als sie losging, flossen Tränen über ihr Gesicht.

© sybille lengauer