Gestern fragte mich der Schriftsteller und weltbeste Vorleser Axel Aldenhoven, was denn die finsterste Story sei, die ich bisher geschrieben hätte. Nach einiger Überlegung antwortete ich „Devil in Space“ außerdem fiel mir noch „Bob ist ein Arschloch“ ein. Später erinnerte ich mich an eine kurze Kurzgeschichte, die ca. 2019 entstanden ist. Die könnte den finstersten Preis tatsächlich gewinnen. Oder auch nicht, ist ja von vielen Faktoren abhängig, was man als richtig, richtig finster empfindet. Ich habe die Geschichte überarbeitet und stelle sie hier wieder online. Ihr könnt ja gerne selbst überlegen, ob euch eine noch finsterere Geschichte aus meiner Feder einfällt. In diesem Sinne, finstere Grüße!
Eure Sy
Der letzte Mensch
Und wenn du der Letzte wärst,
Nach all den Milliarden,
Wenn keiner mehr käme,
Wenn niemand mehr lebte,
Wer beweinte dich?
„Bitte erwache. Bitte erwache. Bitte erwache“, wiederholt eine weibliche Computerstimme die immergleiche Aufforderung. Der alte Mann, der reglos auf dem glattgelaufenen Holzboden der Unterseestation liegt, reagiert jedoch nicht. Er liegt nur still und sieht tot aus. „Hilfsmaßnahmen eingeleitet“, verkündet die Computerstimme. Ein kleiner, rostfleckiger Roboter löst sich aus seiner Wandverankerung und steuert vorsichtig zwischen chaotisch verstreuten Messinstrumenten, hoch aufragenden Bücherstapeln und unzähligen leeren Weinflaschen hindurch. Als er den Bewusstlosen erreicht, fährt er einen winzigen Greifarm mit Spiegel aus, justiert diesen unter der Nase des alten Mannes und wartet. Der Spiegel beschlägt und die kleine Maschine stößt einen erleichtert klingenden Pfiff aus; unverzüglich verabreicht sie dem Alten eine kreislaufanregende Injektion und verharrt dann in stummer Ergebenheit. Zeit vergeht. Der fragile Greis auf dem Boden bewegt sich nicht. Langsam breitet sich die undurchdringliche Stille des toten Ozeans in der Unterseestation aus. Der kleine Roboter piept ratlos.
„Erweiterte Hilfsmaßnahmen eingeleitet“, verkündet die Computerstimme monoton. Ein riesiger Roboter löst sich aus einer weiteren Wandverankerung, seine schweren Schritte lassen die gläsernen Instrumente in ihren Regalen erzittern. Die Bücherstapel kollabieren, zerfallen zu chaotischen Haufen. Eine ungeöffnete Weinflasche fällt vom Tisch und zerbricht, der saure Geruch von Rotwein erfüllt den Raum. Geschickt hebt der massive Roboter den besinnungslosen Alten vom Boden auf, trägt dessen schlaffe Gestalt zu einem abgenutzten Chesterfield Sofa und legt ihn behutsam darauf ab. Der kleine Roboter eilt piepsend herbei und verabreicht eine weitere Injektion. Mehr Zeit vergeht. Vor dem achteckigen Fenster der Unterseestation, das wie ein riesiges, unnatürlich geformtes Auge in den lebensfeindlichen Ozean starrt, treiben Schwärme bleicher Plastiktüten vorbei. Wie Quallen tanzen sie im unsichtbaren Sog der Meeresströmungen, doch es gibt keine Quallen mehr in den Meeren der Welt. Es gibt nichts lebendiges mehr außerhalb der Unterseestation.
Die Roboter verharren vor dem abgewetzten Sofa und bewachen den zerbrechlichen Menschen, hilflos müssen sie dabei zusehen, wie das letzte bisschen Leben aus seinem fragilen Körper entweicht. „Hilfsmaßnahmen eingestellt“, ertönt die Computerstimme. Der kleine Roboter piept traurig. Der große Roboter lässt einen tiefen, gramerfüllten Basston erklingen. Er dreht seine kolossale Gestalt langsam herum und stampft mit hängenden Schultern aus dem Raum. Stille folgt seinen verhallenden Schritten in lautlosen Wellen. Noch mehr Zeit vergeht. Die Unterseestation schaukelt sanft im Sog des toxischen Wassers, ihre Lichter werden rasch von der unendlichen Dunkelheit des Meeres verschluckt.
Als der Roboter schließlich zurückkehrt, trägt er ein schimmerndes Gefäß in seinen klobigen Händen. Seine großen Füße zerstampfen die Scherben der zerbrochenen Weinflasche und der kleine, rostfleckige Roboter piept missbilligend. Behutsam stellt der metallene Riese das rätselhafte Gefäß auf den Tisch, er hantiert äußerst vorsichtig damit und entnimmt in höchster Konzentration den kostbaren Inhalt: eine knospende Rose.
„Abschiedssequenz eingeleitet“, verkündet die körperlose Computerstimme. Ein antiker Plattenspieler erwacht knatternd zum Leben, die Nadel setzt ruckelnd auf und im nächsten Moment erklingen Walgesänge aus verstaubten Lautsprechern. Andächtig legt der große Roboter die knospende Rose in die erkaltenden Finger des letzten Menschen, dann tritt er mit gesenktem Haupt zurück und beginnt dunkle, melancholische Töne auszustoßen. Seine Abschiedsklage vermischt sich mit den Walgesängen zu einem Lied der Traurigkeit. Die Melodie dringt durch die Räume der Station, klingt gedämpft nach draußen, schwingt durch den stillen, toten Ozean. Erzählt von einer anderen, lebendigeren Zeit. Der Walgesang verklingt und zum letzten Mal ertönt die Stimme des Computers: „Selbstzerstörung eingeleitet“
Die Roboter fahren zurück in ihre Verankerungen und warten ergeben auf die nahende Implosion.
Als die Unterseestation kollabiert, ist niemand mehr da, um es zu sehen.
© sybille lengauer