Die Brücke ist viel zu hoch. Der Wind viel zu stark. Zerrt an den Haaren.
Und doch steht sie da, schwankend im Wind.
Hält mit den Händen die Jacke fest vor der Brust verschlossen.
Denkt ans Springen.
Der Kummer ist viel zu groß. Die Last viel zu schwer. Zerrt am Herzen.
Und so geht sie noch ein Stück näher an die Brüstung.
Sieht mit großen Augen hinunter.
Denkt ans Springen.
Der Weg nach unten ist viel zu weit. Die Hoffnung viel zu fern. Zerrt an der Seele.
Also klettert sie über das Geländer.
Lässt mit einer Hand los und atmet laut aus.
Springt.
„Hallo, hallo Sie?“ Der alte Mann, der vor einem weißen Grabstein steht, hebt irritiert den Kopf. Ganz in seine Gedanken versunken hat er die junge Frau nicht bemerkt, die quer über den Friedhof auf ihn zugelaufen kommt. „Hallo, Hilfe!“ Mit wehenden Haaren und hochrotem Kopf rennt sie über die flachen Gräber. Missbilligend sieht er ihr dabei zu. „Das ist nicht in Ordnung.“ kommentiert er mit gerunzelter Stirn, als sie ihn keuchend erreicht. „Entschuldigung.“ Sie ringt nach Luft. „Wo bin ich?“ presst sie schließlich heraus. „Mit Sicherheit nicht auf dem Sportplatz, junge Dame.“ bemerkt der alte Mann verstimmt. „Sorry. Können Sie mir helfen?“ Er blickt in rotgeweinte Augen. „Wobei soll ich dir helfen, Kind?“ „Ich glaube, ich habe mich verlaufen. Ich meine, es ist eigentlich nicht möglich…“ Sie bricht verwirrt ab. Denkt an den freien Fall. Den Aufprall. Die Dunkelheit. „Er ist auch gesprungen.“ sagt der alte Mann in ihre Verwirrung hinein. „Wer?“ „Fido. Mein Terrier. Ist im Treppenhaus einer Ratte hinterher gesprungen. Genickbruch. Ich dachte eigentlich er wäre längst zu alt für solche Späße, aber da hat er mich eines besseren belehrt.“ Liebevoll tätschelt er den weißen Grabstein. Sie sieht ihn mit verweinten Augen an. „Woher wissen Sie…?“ sie bricht ab. „Weil ich alles weiß.“ antwortet er etwas pathetisch. „Sind Sie…Gott?“ „Kommt darauf an.“ In der darauffolgenden Stille kann man eine Amsel singen hören. „Bin ich… tot?“ Ihre Frage ist ein leises Flüstern. „Ich fürchte ja, meine Liebe.“ Die junge Frau schweigt. Schweigt lange. Der alte Mann streichelt wieder versonnen über den Grabstein. „Ach Fido.“
„Warum?“ fragt sie plötzlich und ihre Frage klingt zornig, obwohl immer noch Tränen laufen. „Wie bitte?“ „Warum, habe ich gefragt.“ „Was warum, kannst du konkreter werden?“ „Warum ist mir die ganze Scheiße passiert? Warum wollte mir keiner glauben? Warum war niemand da, als ich jemanden gebraucht hätte?“ Zitternd steht sie auf dem kurzgemähten Rasen. Die Sonne scheint ungetrübt auf die beiden herunter. Sanfter Wind raschelt im Laub der Buchen, die den Friedhof umschatten. „Was habe ich dir nur getan?“ fragt sie schluchzend.
Der alte Mann sieht sie traurig an. „Was ist mit deiner Tochter?“ fragt er leise. „Welche Tochter?“ „Na deine Tochter, das wundervolle Wesen, das dich in jedem Augenblick stolz und glücklich macht, an dem du weißt, dass es existiert?“ „Ich habe keine Tochter.“ „Hättest du gehabt, in drei Jahren. Was ist mit deiner Frau?“ fragt er ungerührt weiter. „Was ist das für ein krankes Spiel?“ „Ich spiele nicht, Yvonne, ich stelle dir eine Frage.“ „Ich weiß nicht, welche Frau?“ stottert Yvonne. „Du bist sieben Jahre mit ihr verheiratet. Dann trennt ihr euch.“ „Hören Sie auf damit!“ schreit sie und schlägt sich die Hände vors Gesicht. „Kranker Scheiß, verdammt kranker Scheiß!“
„Das ist kein kranker Scheiß, das ist nur das was ich sehe, wenn ich deinen Weg lese.“
„Ach ja? Das mit der Brücke haben Sie wohl nicht gelesen, wie?“ „Nein, das nicht.“ „Ach und warum nicht?“ „Freier Wille.“ „Aha.“ macht Yvonne und hört auf zu weinen. Schnieft und verschränkt die Arme vor der Brust. „Sie planen also irgendwelche netten Dinge für die Leute und dann kommt der freie Wille und damit sind Sie fein raus aus der Sache?“ „Nein, ich biete nur die Rahmenbedingungen.“ „Welche, fucking, Rahmenbedingungen?“ platzt es aus ihr heraus. „Das Universum.“ antwortet der alte Mann ruhig. Er sieht sie streng an. „Bitte denke über deine Ausdrucksweise nach.“ „Du kannst mich mal.“ faucht Yvonne. „All die Jahre, die ich nach einem Ausweg gesucht habe. All die Male, die ich nach Hilfe gerufen habe. Und nichts ist passiert. Und jetzt sagst du mir, ich hätte ein normales Leben haben können? Mit Frau und Kind und einem kleinen, scheiß Terrier im Vorgarten?“ Ihre Stimme überschlägt sich. „Ist das deine Vorstellung von Moral? Der Zuckerguss für’s tapfere Aushalten? Soll das etwa fair sein?“
„Mein Kind, ich habe dir gesagt, ich stelle nur die Rahmenbedingungen.“ „Scheiß auf die Rahmenbedingungen! Ich reklamiere hiermit das komplette System und warum ist eigentlich dein gottverdammter Hund tot?“ schreit sie mit einem wackeligen Fingerzeig in Richtung Grabstein. „Warum lässt du deinen Hund sterben?“ Ihre Stimme klingt nach neuen Tränen. „Es war nicht meine Entscheidung.“ antwortet er sanft. „Ich habe ihn nicht gemacht.“ „Du hast ihn nicht erschaffen?“ „Er hat sich selbst erschaffen. Ich stelle nur…“ „Nur die Rahmenbedingungen.“ ergänzt Yvonne den Satz. „Genau, mein Liebe.“ Ihr Zorn ist verraucht. Übrig bleiben Verlegenheit, Verwirrung und ein wundervoller Sonnentag auf dem Friedhof. „Es hätte alles anders werden können, wenn ich nicht gesprungen wäre, willst du mir das sagen?“ „Ja.“ „Und jetzt ist es zu spät dafür.“ „Ja.“
Yvonne sieht sich deprimiert um. „Warum sind wir auf diesem Friedhof?“ „Weil ich Fido besuchen wollte.“ „Okay, aber warum bin ich hier?“ „Weil du mich gesucht hast.“ „Und was jetzt?“ Sie sieht ihn ratlos an. „Die nächste Stufe.“ „Welche nächste Stufe?“ „Das musst du schon selbst herausfinden. Grüß Fido von mir.“ Der alte Mann winkt und lächelt sanft, während sich Yvonnes fragende Gestalt im Sonnenschein auflöst. „Ein nettes Mädchen, aber ein fürchterliches Mundwerk.“ murmelt er zu sich selbst, als er langsam über den Kiesweg zu seinem Volvo spaziert.
© sybille lengauer