Die T-Rex-Frau
Es war an einem jener grauen Regentage, die ob ihrer trüben Belanglosigkeit nicht im Gedächtnis verhaften, als Karoline H. beschloss ein besseres Leben zu träumen. Ihr altes Leben lag vor ihrem inneren Auge ausgebreitet und wirkte unter dem freudlos sezierenden Blick ihrer Unzufriedenheit spröde und abgetakelt, ganz so wie ihre arbeitsrauen Hände, die, wie zum Gebet gefaltet, in ihrem breiten Schoß ruhten. Während ein steter Westwind dunkelgraue Wolkenmassen über den kränklich blassen Himmel trieb und dicke Regentropfen gegen das geschlossene Wohnzimmerfenster warf, schaute Karoline H. enttäuscht auf ihren öde daliegenden Lebensweg zurück, der aus einer unglücklichen Ehe, eintöniger Arbeit, einer unschönen Scheidung und noch mehr eintöniger Arbeit bestand und den sie schließlich kopfschüttelnd mit folgenden, stoßweise geflüsterten Worten beschrieb: „Es ist ein einziger Jammer.“ Begleitet wurde dieses traurige Bekenntnis von einem herzensschweren Seufzer, der sich quälend langsam Karolines Kehle entrang und genauso in der lieblos dekorierten Wohnung verklang, wie ihre geflüsterten Worte. Und so saß sie da, fast Fünfzig, mit ergrautem Haar, ausweglos der Resignation ergeben und erstarrt in frustrierender Untätigkeit, bis sie plötzlich, mit der Heftigkeit eines Hirnschlags, die Einsicht traf, dass nichts so zu bleiben hatte, wie es bis jetzt gewesen war. Karoline H. erhob sich schwer atmend von ihrer abgesessenen Couch, stieß die hornhautgelben Füße vehement in die bereitstehenden Plüschbommel-Hausschuhe und schlurfte eilig zum geschlossenen Fenster. Kaum angekommen, riss sie es sperrangelweit auf, sie achtete nicht auf den unliebsamen Regen, der ihr kalt ins Gesicht prasselte, ignorierte den scharfen Wind, der ihre Frisur durcheinander wehte, breitbeinig stand sie da und grinste. „Heute ist ein herrlicher Tag für ein Abenteuer!“ rief Karoline H. in den menschenleeren Hinterhof ihrer Wohnsiedlung, dann schloss sie das Fenster mit einem lauten Knall und schlurfte, unverständliches murmelnd, in ihr dunkles Vorzimmer. Vielleicht war es ein Glück, dass niemand zugegen war, ihre eigentümliche Veränderung zu beobachten, vielleicht war es eine Tragödie, niemand weiß das zu sagen. Unter lautem Rumoren schlüpfte sie an der ordentlich sortierten Garderobe in ihren karierten Herbstmantel, auf Schuhe beschloss sie zu verzichten, Karoline war seit ihrer Kindheit nicht mehr barfuß im Regen spaziert. Die Plüschbommel-Hausschuhe stellte sie sorgsam neben der Eingangstür ab, dann verließ Karoline H. auf bloßen Füßen ihre kleine Wohnung. Kaum hatte sie das Treppenhaus mit seinen kalten, glatten Fliesen betreten, da liefen erste Schauer durch ihre Fußsohlen bis ins Rückenmark hinauf und sie kicherte wie ein junges Mädchen im Ferienlager. Die leisen, tapsenden Geräusche, die ihre nackten Füße auf den Steinen erzeugten, klangen kinderweich in ihren Ohren. Am Fenster des Treppenhauses blieb sie kurz stehen, um erneut nach draußen in den Hinterhof zu sehen. Dem neutralen Auge des unvoreingenommenen Beobachters wäre kein nennenswertes Detail aufgefallen, das sich aus dem Treppenhausfenster präsentiert hätte, doch Karoline H. stieß ein begeistertes Jauchzen aus. „Eine Pfütze!“ Erstaunlich behände eilte sie die verbliebenen Stufen hinab und im Nu war sie im bedrückend seelenlosen Hinterhof verschwunden, der einer verkrüppelt gewachsenen Birke und ein paar Mülltonnen als schimmelträchtige Heimstatt diente. Karoline schritt vorsichtig über den rissigen Asphalt, der an vielen Stellen von den Wurzeln der Birke aufgebrochen war und achtete auf spitze Steinchen, die in ihrem Weg lagen. Sie spürte die kalte Berührung des Regens auf ihrem Haar, fühlte die Unnachgiebigkeit des harten Bodens unter ihren Füßen. Vor der großen Pfütze, die sie aus dem Treppenhausfenster erspäht hatte, blieb sie kurz stehen, dann trat sie ein paar Schritte zurück, nahm etwas ungelenk Anlauf und sprang mit einen spitzen Schrei mitten hinein. Wasser spritzte in alle Richtungen und Karoline H. lachte aus vollem Herzen. „Was machen Sie da?“ Dass die Stimme zu einem Jungen von höchstens sieben Jahren gehörte, tat der Missbilligung in seinem Tonfall keinen Abbruch. „Rennen und Ball Spielen verboten. Steht auf dem Schild. Da.“ Der zerzaust wirkende Junge, der betont lässig im gegenüberliegenden Hauseingang lehnte, deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ein Schild neben den Mülltonnen und maß Karoline H. mit tadelndem Blick, doch die zuckte nur desinteressiert mit den Schultern. „Das gilt nur für Kinder.“ sagte sie in leicht überheblichem Tonfall und der Junge legte stirnrunzelnd den Kopf schief, als er über ihre verblüffende Antwort nachdachte. Seine hellen Augen musterten den durchnässten Mantel und die aufgeweichten, nackten Füße der ältlichen Dame, die, wie er wusste, zum Nachbarhaus gehörte und sein Gesicht zeigte die ernsten Züge angestrengten Denkens. „Das ist aber nicht fair.“ vollendete er schließlich laut seinen komplizierten Gedankengang und Karoline H. beschloss einzulenken. „Kinder unter Aufsicht eines Erwachsenen sind ebenfalls von der Regel ausgenommen.“ „Wirklich?“ „Aber ja. Spiel ruhig ein bisschen, wenn dir danach ist.“ Ein normaler Junge hätte nun vielleicht lieber Reißaus genommen, als sich von einer verrückten, alten Frau zu einem Spiel im Hinterhof auffordern zu lassen, doch ein normaler Junge wäre auch nicht an diesem ganz und gar unterdurchschnittlichen Regentag alleine im Hinterhof gewesen und so trat dieser Junge nicht die Flucht an, sondern einen Schritt nach vorn. „Was spielen wir?“ fragte er und klang ganz unbewusst wie ein professioneller Pokerspieler, der sich an einem gut besuchten Tisch im Kasino nach der Variante des Spiels erkundigte. „Texas Holdem.“ grinste Karoline H. und sah im selben Moment den Witz an die Unwissenheit des Siebenjährigen vergeudet, ratlos stierte er durch den Regen und zitterte ein wenig, als der Wind unter seine dünne Jacke fuhr. „Ist dir kalt?“ fragte Karoline in einem Anflug von erwachsener Fürsorglichkeit. „Vielleicht.“ antwortete der Junge und schlang die Arme um sich. „Dann spielen wir Dinosaurier, dabei bewegt man sich ordentlich.“ beschloss Karoline, die sich an ihre Kindheit erinnerte und an das große Dinosaurier-Buch, das ihre damalige Vorstellung von den Riesenechsen geprägt hatte. „Wie geht das?“ fragte der Junge interessiert. „Du stellst dir vor ein Dinosaurier zu sein und dann läufst du herum und bist der Dinosaurier.“ versuchte sich Karoline in einer Erklärung, doch sie konnte selbst hören, wie langweilig das klang. „Hm.“ grunzte der Junge mit berechtigter Skepsis. „Pass auf, ich zeige es dir. Ich bin jetzt ein mächtiger T-Rex.“ Karoline H. trat feierlich aus der Pfütze und stapfte mit behäbigen Schritten durch den Innenhof. Sie krümmte ihren Rücken zu einem Buckel, zog die Arme an den Oberkörper und krümmte die Hände zu verbogenen Klauen, die sie vor ihre Brust drückte. Ihr Gesicht wurde zu einer bösartigen Grimasse mit gefletschten Zähnen und sie grollte bedrohlich, während sie den kleinen Hof durchquerte. „Ruar. Ruar-uar. Ich bin der König der Echsen. Hörst du, wie mächtig ist brülle? Ruar!“ dröhnte der gewaltige T-Rex. „Und was bin ich?“ fragte der Junge mit einem kleinen Hauch von Begeisterung in seiner Stimme. „Keine Ahnung, denk dir etwas aus.“ knurrte der mächtige Tyrannosaurus hinter den Mülltonnen. „Okay, ich bin Dragoran!“ rief der Junge nun mit tatsächlicher Begeisterung und stieß ein wildes Fauchen aus, doch der gefräßige Schrecken der Saurierwelt wandte sich mit einem Kopfschütteln zu der kleinen Gestalt im Regen um und knurrte: „Unfug, so einen Dinosaurier gibt es nicht.“ „Dragoran ist kein Dino, er ist ein Pokemon. Er ist voll supermächtig und kann brutale Sachen und…ich will Dragoran sein oder ich spiele nicht mit.“ Der Tyrannosaurus musterte den widerspenstigen Jungen aus zusammengekniffenen Echsenaugen, dann zuckte er mit seinen aberwitzig kleinen Schultern und zeigte ein grauenvoll zahnreiches Lächeln. „Ist in Ordnung, du kannst dieser Dragomir sein.“ „Dragoran.“ verbesserte der Junge beleidigt. „Dann eben so.“ Der riesige T-Rex schüttelte einen dicken Regentropfen von seiner schuppigen Schnauze und beobachtete den kleinen Jungen, der sich auf die Zehenspitzen stellte, wild mit den Armen wedelte und fauchende Geräusche ausstieß. „Hyperstrahl!“ brüllte der pummelige Drache, der plötzlich wie eine dicke, birnenförmige Taube über der verkrüppelten Birke flatterte und eine Mülltonne explodierte in einem heftigen Feuerstoß. „Meine Güte!“ kommentierte der Tyrannosaurus anerkennend und wedelte mit seinen Ärmchen in der Luft, um ein Klatschen anzudeuten. „Ich kann auch Erdbeben.“ erklärte der untersetzte Drache stolz und der Boden im Innenhof begann heftig zu schwanken. „Oder Orkan. Ich bin voll supermächtig…“ „Das erwähntest du bereits.“ „…und kann brutale Sachen.“ „Auch davon habe ich gehört.“ „Soll ich noch einmal den Hyperstrahl machen?“ Der T-Rex nickte und das Pokemon wandte sich begierig einer weiteren Mülltonne zu, die beinah augenblicklich in einem grellen Feuerstrahl explodierte. Dragoran stieß ein zufriedenes Grunzen aus, seine Flügel peitschten die Zweige der Birke hin und her. „Wirklich nicht übel.“ brummte der König der Dinosaurier zufrieden und stieß ein schauerliches Brüllen aus, in das der großmächtige Dragoran heulend einstimmte.
„Justin-Marcel? Justin-Marcel! Was, verdammt nochmal, treibst du da unten?“ Eine grelle Frauenstimme biss sich hartnäckig durch die Szenen des fantastischen Innenhof-Abenteuers, Dragoran landete ungeschickt neben den schwelenden Überresten der Mülltonnen und blickte mürrisch zu einem geöffneten Fenster im vierten Stock hinauf. „Nichts, Mama!“ rief er mit der zarten Stimme des kleinen Justin-Marcel. Verstohlen zwinkerte er dem Tyrannosaurus zu, der sich mehr schlecht als recht unter der Birke verborgen hielt und Grimassen schnitt wie ein ertappter Eierdieb. „Für Nichts machst du einen scheiß Lärm. Komm jetzt rauf, du hast Hausaufgaben!“ Der mürrische Ausdruck im Gesicht des Drachen verschärfte sich, das mächtige Pokemon schnaubte enttäuscht und ließ schlapp die Flügel hängen. „Ist gut, Mama.“ rief Justin-Marcel zu dem offenen Fenster empor, das kurz darauf energisch geschlossen wurde. „Ich muss gehen.“ sagte der Junge, der zwischen den Mülltonnen im Regen stand, zu Karoline H. „Ich weiß.“ antwortete die Frau mit den grauen Strähnen im Haar. „Sehen wir uns vielleicht morgen?“ fragte Justin-Marcel und es klang fast wie eine Bitte. „Vielleicht.“ „Wie heißt du überhaupt?“ bohrte Justin-Marcel weiter, nur um noch nicht gehen zu müssen, abwesend wischte er sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. „Karoline.“ entgegnete die Frau, die eben noch ein Dinosaurier gewesen war. „Dann bis vielleicht morgen, Karo!“ Justin-Marcel verabschiedete sich mit einem knappen Kopfnicken, bevor er im Hauseingang verschwand. Karoline H. stand barfuß neben der riesigen Pfütze und fühlte der kindlichen Energie hinterher, die mit Justin-Marcel den Innenhof verlassen hatte. „Morgen ist wieder ein herrlicher Tag für ein Abenteuer.“ versicherte sie sich selbst, als sie den Innenhof verließ und ächzend die vielen Treppen zu ihrer Wohnung erklomm, um in dicke Wollsocken zu schlüpfen, heißen Kakao zu trinken und schließlich zufrieden vor dem Fernseher einzuschlafen…
© sybille lengauer