Die Nacht der Toten
Eine Großstadt ist niemals dunkel, Straßen und Gehwege werden nachts von zahlreichen Laternen beleuchtet, Tanzlokale, Kneipen und Flaniermeilen, Tankstellen, Hurenhäuser und sogar einfache Werbeschilder strahlen oft heller als der Tag. Schaut man vom Grund dieses Lichtermeeres zum fernen Nachthimmel hinauf, sucht man die Sternbilder oft vergebens, dafür stößt man dort unten an jeder zweiten Straßenecke auf protzige Lichtshows, die eine herkömmliche Gebäudefassade in einen regelrechten Farbenrausch stürzen. Aus der Vogelperspektive betrachtet winden sich die Verkehrsadern der Großstadt wie glitzernde Lichterketten durch die Nacht, streben den dunkleren Vorstädten und Gemeinden zu, verweben ihr immerhungriges Herz und formen so ein strahlendes Lichtgespinst menschlicher Zivilisation. Das leuchtende Großstadtgewebe erinnert entfernt an das Röntgenbild eines sterbenskranken Krebspatienten, dessen abgekämpfter Körper voller tödlicher Metastasen steckt. Zumindest erinnerte es Mave daran, als das Passagierflugzeug, in dem er saß, im Sinkflug über seiner Heimatstadt kreiste, derweil er aus dem Flugzeugfenster starrte und an nichts anderes denken konnte, als den Tod. Schmutzigschwarz war sein vielgetragener Anzug, blauschwarz gefärbt sein struppiges Haar, rabenschwarz waren seine rastlosen Gedanken. Mave war auf dem Weg zu einer Beerdigung und jede Faser seines Körpers sträubte sich dagegen. Vor zehn Tagen war seine Mutter verstorben, gefühlte zehn Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen. Man hatte telefoniert, ab und an. Zum Geburtstag gratuliert und an den hohen Feiertagen manchmal eine knappe Textnachricht auf dem Handy verschickt, dann war wieder monatelang Funkstille und kaum ein Gedanke an Daheim. Bis plötzlich ein unerwarteter Anruf seiner Schwester den Kreislauf zerriß: „Mutter ist tot. Lungenkrebs.“ Vielleicht hatte Mave erwartet, dass sich die Schleusen des Himmels öffnen und eine Flut an Gefühlen über ihn hereinbrechen würde, vielleicht hatte er gehofft, es mache ihm zumindest etwas aus, doch in seinem tiefsten Inneren spürte er nur leichten, leisen Unwillen und er wusste nicht einmal zu sagen warum. Tagelang suchte er nach Ausreden um sich vor der Beisetzung zu drücken, er fühlte sich fiebrig und nicht in der Lage zu reisen, die Arbeit wuchs ihm über den Kopf, er wollte es nicht riskieren Urlaub zu nehmen, einen derart kurzfristig gebuchten Flug konnte er unmöglich bezahlen, wer war er, Krösus? Doch die Angst vor dem Zorn seiner Schwester und der Hauch eines schlechten Gewissens trieben ihn schließlich in ein Flugzeug und so hockte er nun verkrampft an jenem unbequemen Fensterplatz und hing trübseligen Gedanken nach. Wie lange war es her, dass er Mutter zuletzt besucht hatte? Fünf Jahre, oder doch sieben? War es vor seiner Scheidung von Larissa gewesen, oder danach? Er wusste es nicht zu sagen und je angestrengter er überlegte, desto weniger schien er sich erinnern zu können. Doch er versuchte sich krampfhaft zu erinnern, wollte es minutiös ergründen um nicht die eigentlichen Fragen denken zu müssen, die seit dem Anruf seiner Schwester gedacht werden wollten und von ihm unterdrückt wurden: warum hatte Mutter nichts gesagt? Hatte sie nicht gewollt, dass er sie ein letztes Mal besuchte? Und hätte er sie besucht, wenn er von ihrer tödlichen Krankheit gewusst hätte? Mave wollte sich diesen Fragen nicht stellen, er versuchte seine Gedanken in sinnlose Kreisbahnen zu zwingen und grübelte doch nur düster über krebskranke Leiber und Zivilisationen. Noch während der Landung formulierte er eine kurze Textnachricht an seine Schwester, er habe es sich anders überlegt und würde den nächsten Flug zurück nehmen, doch er verschickte die Nachricht nicht, sondern starrte nur lange auf das Display des Handys, bevor er die Nachricht löschte. Missmutig verließ er mit den anderen Passagieren das Flugzeug, drängte durch das Gewimmel, griesgrämig schob er sich an der Flughafenkontrolle vorbei, er hatte keinen Koffer, also musste er nicht warten. Vor dem Flughafen standen diverse Taxis und Shuttlebusse bereit, Mave beschloss trotzig die U-Bahn zu nehmen, es würde länger dauern, es wäre unbehaglich, überheizt und stinkend und das erschien ihm gerade angemessen. Neunzig Minuten später las er gereizt die vielen Klingelschilder am Eingang eines verschachtelten Wohnkomplexes. Er fand das richtige Schild, hob die Hand um zu klingeln, doch sein Finger verharrte in der Bewegung. Jetzt oder nie, dachte Mave und wusste selbst nicht zu sagen, ob er die Flucht nach vorn oder den taktischen Rückzug meinte. Unangenehme Sekunden verstrichen, dann drückte er kräftig auf die Klingel und zuckte erschrocken zusammen, als sich sofort eine tiefe männliche Stimme meldete. „Wer ist da?“, brummte es aus der Gegensprechanlage. „Ich will zu Sandra Wagner. Ist das nicht ihre Wohnung?“, bellte Mave verdrossen, ein Passant, der mit einem kleinen Hund vorbeispazierte, warf ihm einen misstrauischen Seitenblick zu und beschleunigte seine Schritte. „Wer da ist, habe ich gefragt“, knarzte die fremde Stimme, Mave rollte entnervt mit den Augen und gab nach. „Ich bin Mave. Sandras Bruder“, blaffte er möglichst unfreundlich. Das laute Summen des Türöffners entließ ihn aus dem unangenehmen Gespräch.
„Was eine Freude dich kennenzulernen, Bro!“, brüllte ein riesiger Grizzlybär, der wenige Minuten später die Wohnungstüre öffnete und einen verdatterten Mave an seine breite Bärenbrust drückte. Der Grizzly stellte sich als Joe Ziegler vor und war Sandras neuer, vollbärtiger, flanellhemdtragender Lebensgefährte. Sandra befand sich im Augenblick nicht zuhause, sie war überraschend zu einem Arbeitseinsatz ans andere Ende der Stadt gerufen worden und hatte deshalb Joe gebeten, Mave in Empfang zu nehmen. Joe freute sich enorm über die Gelegenheit Mave in Ruhe beschnuppern zu können, von Dude zu Dude, wie er es grinsend formulierte. All dies erfuhr Mave noch bevor er die Türschwelle überschritten hatte, Joe überschüttete ihn mit Umarmungen und Worten, bis er sich eines Besseren besann und Mave mit einem lautstarken: „Was stehst du hier herum wie bestellt und nicht abgeholt, komm endlich rein, Brudi!“ in die Wohnung zog. Mave sah keine andere Möglichkeit, als dem Untier zu folgen. Das geschmackvoll eingerichtete Wohnungsinnere passte allerdings ebensowenig zu Joe und seiner Waldschrataufmachung, wie dieser, nach Maves schnellgefasster Meinung, zu seiner Schwester passte. Modernes Möbeldesign und funktionaler Schick prallten hart auf Joes bärtige Holzfällerexistenz und Mave kam nicht umhin, diesen Umstand gehässig zu kommentieren. Doch sein ätzender Sarkasmus fiel auf unfruchtbaren Boden, Joe schüttelte nur ganz nach Bärenart den massigen Schädel, trollte sich in die Küche und kehrte mit zwei offenen Bierflaschen in den großen Pratzen und einem Lächeln im haarigen Gesicht zu Mave zurück. „War bestimmt’n anstrengender Flug, hm?“, brummte er versöhnlich, er reichte Mave eine Flasche, der unschlüssig im geräumigen Wohnzimmer herumstand, stumm nickte und das Bier entgegennahm. „Langer Weg nach Hause, wie?“, sagte Joe einfühlsam, er deutete einladend auf eine dunkelbraune Ledercouch und setzte sich ächzend, doch Mave hatte keine Lust auf ein solches Gespräch, schmallippig nahm er Platz, starrte auf die Bierflasche in seinen Händen und reagierte nicht mehr. Joe stieß ein behagliches Seufzen aus, er lehnte sich grunzend in der Couch zurück und trank genüsslich, Mave beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und schauderte unwillkürlich, als Joe die Flasche absetzte und laut rülpste. Was verband seine Schwester nur mit diesem haarigen Scheusal? Mave nahm sich vor, ihr später genau diese Frage zu stellen. „Willst du einen durchziehen?“, platzte Joe in Maves beziehungstheoretische Überlegungen hinein, irritiert hob dieser den Kopf, hatte er das gerade richtig verstanden? „Will ich was?“, fragte er unsicher, doch konnte er den Hauch Hoffnung nicht ganz aus seiner Stimme tilgen. „Einen harzen, qualmen, haschen. Einen Ofen anglühen. Ein Pfeifchen goutieren. Ein Möhrchen knabbern. Du weißt schon“, antwortete Joe, gutmütig lachend. „Sandra hat mir erzählt, dass du früher gekifft hast wie ein Rabe, daher dachte ich, es wäre vielleicht eine gute Idee.“, fügte er mit gönnerhaftem Grinsen hinzu. Das hat sie dir also erzählt, ja? dachte Mave, doch die Worte verließen nicht seinen Mund. Stattdessen sagte er nur „Klar. Gerne“ und nahm sich vor ein paar ernsthafte Worte mit seiner Schwester zu wechseln, wenn sich später die Gelegenheit dazu ergab. Gebannt beobachtete er, wie Joe sich von der Ledercouch wälzte und in einem kleinen Schränkchen zu kramen begann, aus dessen Tiefen er eine hölzerne Schatulle und eine gläserne Bong hervorholte, die mit klarem Wasser gefüllt war. „Bitteschön, bitte sehr“, dröhnte Joe bärenfröhlich, er platzierte die Gegenstände auf dem Wohnzimmertisch, deutete mit einer einladenden Handbewegung darauf und Mave ließ sich nicht zweimal bitten. Dicke Rauchschwaden durchzogen bald das Wohnzimmer, Joe sah sich genötigt ein Fenster zu öffnen und die Geräusche der nächtlichen Großstadt drangen unüberhörbar laut herein. Was für eine beschissene Stadt, dachte Mave und sagte es auch laut, doch Joe zuckte nur mit den Achseln und holte mehr Bier. „Ich lebe gern hier“, resümierte er schlicht, als er aus der Küche ins Wohnzimmer zurückkehrte. „Müsste so ein Kerl wie du nicht viel lieber im Wald leben?“, fragte Mave mit füchsischer Freundlichkeit, während er die Bong ein weiteres Mal stopfte. Joe kicherte humorvoll und strich bedächtig über seinen imposanten Bart, doch er blieb eine Antwort schuldig, denn in diesem Moment kam Sandra bei der Tür herein und der Bärenmann verlor die Beherrschung. „Babe!“, schrie er begeistert, wie ein riesiger Welpe sprang er freudig von der Couch um sie zu begrüßen, Mave beobachtete das Schauspiel mit hochgezogener Augenbraue. Einer innigen Umarmung folgte ein intensiver Kuss, sie lagen sich in den Armen wie Liebende, die auf Jahre getrennt gewesen waren. Ein stechender Anflug von Neid kräuselte Maves Bewusstsein, dann traf sein Blick auf die honiggrünen Augen seiner Schwester und seine Gedanken stürzten in einen eiskalten Bergsee, denn diese Augen verengten sich gefährlich, als sie zu ihm hinübersahen. Sandra löste sich aus Joes Umarmung, schnellen Schrittes ging sie auf Mave zu, der sich vorsichtshalber erhoben hatte und nicht genau wusste, ob er im nächsten Moment umarmt oder geschlagen werden würde. Seine Schwester schien ebenfalls nicht sicher zu sein, kurz zuckten ärgerliche Falten über ihr hübsches Gesicht, doch dann schien sie sich einen Ruck zu geben, sie setzte ein schiefes Lächeln auf, breitete die Arme aus und drückte Mave an ihr Herz. Es fühlte sich eigenartig an ihren vertrauten und doch fremdgewordenen Körper zu umarmen, den Duft ihres lockigen Haares einzuatmen, der ihn an lang vergangene Kindheitstage und, warum auch immer, Spaghetti mit Ketchup, erinnerte. „Schön dich zu sehen, Maffie“, flüsterte Sandra an seinem Ohr und der Klang seines alten Spitznamens jagte Schauer über Maves Rücken. „Auch schön dich zu sehen“, antwortete er heiser, Mave räusperte sich verlegen und trat einen Schritt zurück, um seine Schwester genau anzusehen. „Du siehst gut aus“, setzte er hinzu, weil er dachte, dass es sich so gehörte. „Kann man von dir nicht behaupten“, versetzte Sandra, doch Mave überhörte die Spitze. „Möchtest du ein Bier, Liebes?“, fragte Joe aus dem Hintergrund und Sandra nickte dankbar. „Bin gleich wieder da“, flötete der Flanellhemdriese und verschwand in der Küche. „Wo hast du den denn aufgetrieben?“, wollte Mave sofort wissen, Sandra wischte seine Frage mit einer unwilligen Handbewegung fort. „Ist das zwischen euch so einer Art Die-Schöne-Und-Das-Biest Ding?“, bohrte Mave unverdrossen weiter, doch seine Schwester hatte kein Interesse an der Frotzelei. „Halt die Klappe, großer Bruder. Ich liebe ihn und damit hat es sich. Verstanden?“ Mave zuckte mit den Achseln und schwieg. Sandra ließ sich stöhnend in die Couch sinken, sie streckte die Füße aus, spreizte die Zehen und knackte mit den Knöcheln. „Igitt“, kommentierte Mave, der dieses Geräusch schon in der Kindheit verabscheut hatte. „Mama hat ziemlich gelitten in ihren letzten Tagen“, sagte Sandra ganz unvermittelt und der plötzliche Themenwechsel brachte Mave völlig aus dem Konzept. Fassungslos starrte er in das Gesicht seiner Schwester und wußte nicht, was er antworten sollte. „Warum hat mir niemand etwas gesagt?“, platzte es ebenso plötzlich aus ihm heraus, Sandra knackte ausgiebig mit den Handgelenken und allen Fingern, bevor sie seine Frage mit einem knappen „Sie hat es mir verboten“ beantwortete. Ein Warum hing im Raum, doch Mave konnte sich nicht überwinden es auszusprechen, er druckste herum, nippte an seinem Bier und wechselte dankbar das Thema, als sein neuer Bärenfreund Joe aus der Küche zurückkehrte und Bierflaschen verteilte. Man redete über die Jobs, lästerte über die beschissene Regierung und über unfähige Fußballmannschaften, die nicht mehr so spielten wie früher einmal, man unterhielt sich über dieses und jenes und unterließ es geflissentlich tote Mütter, schmerzhaftes Siechtum und morgige Beerdigungen anzusprechen. Die Bong kreiste, Mave registrierte erstaunt wie routiniert seine Schwester rauchte, in seiner Erinnerung war sie immer noch ein wohlerzogenes Mädchen, das Drogen zutiefst verabscheute. Heute Nacht war von diesem Mädchen nicht mehr viel übrig, Sandra kiffte wie ein Profi und trank das Bier in Höchstgeschwindigkeit. Sie schien den kritischen Gedanken ihres Bruders zu erraten, „Spar dir das Moralgesicht, Maffie. Wir sind hier alle erwachsen“, sagte sie mit schwerem Zungenschlag und warf ein Feuerzeug nach ihm. Maves schnippische Antwort ging in einem gewaltigen Gähnen unter, das sich aus Joes kolossalem Brustkorb emporarbeitete. „Verdammt, ich bin wirklich müde“, verkündete er aus voller Kehle. „Wir sollten alle schlafengehen. Morgen wird ein langer Tag“, murmelte Sandra, die mit einem Mal sehr ernst geworden war, sie erhob sich abrupt und begann den Couchtisch abzuräumen. Joe beeilte sich behilflich zu sein, während Mave einfach nur dasaß und die beiden beobachtete. Ihre Bewegungen und Handgriffe harmonierten auf wundersame Weise, zwei Körper mit vier Armen und Beinen, die wie ein einziges Wesen agierten und den Tisch abräumten oder vielleicht kam es Mave auch nur so vor, weil er übermüdet, betrunken und völlig bekifft war. „Ich habe dir das Gästebett bezogen, die zweite Türe links“, rief Sandra aus der Küche und Mave verstand den Hinweis. „Danke“, murmelte er viel zu leise, dann suchte er das richtige Zimmer auf, ließ sich in voller Kleidung ins Bett fallen und wartete auf den Schlaf. Doch der kam nicht. Minuten vergingen, sammelten sich zu einer Viertelstunde und gerannen schließlich zur halben Stunde, sein Hosengürtel drückte, die Socken zwickten an den Waden, Mave gab auf. Er wälzte sich aus dem Bett, kramte einen Kulturbeutel aus seinem Rucksack, schlich durch den dunklen Flur auf die Toilette, wusch sich mäßig, putzte die Zähne und legte sich dann, ordentlich ausgezogen, wieder ins Bett. Niemals hätte er zugegeben, dass er sich nun besser fühlte, augenblicklich fielen seine Augen zu, ein letzter, schuldbewusster Gedanke jagte durch seinen Schädel, dann schlief er tief und fest. „Guten morgen Sonnenschein!“, röhrte ein haariger, biestiger Menschenberg mitten in Maves wirre Träume hinein, schreiend fuhr dieser aus dem Bett, um Leib und Leben zu verteidigen. „Alles gut Bro, ich bin’s nur“, brummte der Riese im Flanellhemd gutmütig, Mave blinzelte und sah genauer hin, seine schlaftrunkenen Gehirnzellen erinnerten sich an den gestrigen Tag und identifizierten Joe Ziegler. Mave entspannte sich und ließ etwas beschämt das Kopfkissen sinken, das er instinktiv wie ein Schild an seine Brust gedrückt hatte. „Was willst du hier?“, fragte er betont unfreundlich, doch seine schlechte Laune verfing sich in Joes buschigen Augenbrauen und verpuffte wirkungslos. „Aufstehzeit, Frühstück!“, donnerte dieser mit leuchtenden Augen, dann zog er sich verblüffend leichtfüßig aus dem Zimmer zurück. Mave sah ihm stirnrunzelnd hinterher, unwillig strich er durch sein zerzaustes Haar, sein Geruchssinn wies zögerlich auf die Anwesenheit von Kaffeegeruchspartikeln hin, zumindest etwas, dachte Mave und schlich in Boxershorts und T-Shirt in die Küche. Sandra saß am Küchentisch und starrte auf ihr Handy, Joe stand am Herd und bereitete etwas zu, dass Mave in Ermangelung passender Worte gedanklich als Fressfest bezeichnete. Eier, Speck, Würstchen, Bohnen, alles brutzelte munter in diversen Pfannen. Überwältigt von dem opulenten Anblick beschloss Mave spontan bei Kaffee zu bleiben. „Schwarz. Zwei Stück Zucker.“, knurrte er knapp, während er sich an den Tisch setzte und den angebotenen Teller verweigerte. Joe war unverzüglich mit einer frisch aufgebrühten Tasse Kaffee bereit, er wirbelte wie eine glückliche Küchenfee umher und war für Maves Geschmack geradezu unausstehlich gastfreundlich. „Gut geschlafen?“, fragte Sandra ruhig, Mave grunzte neutral und trank wortlos den heißen Kaffee. „Wir müssen um elf Uhr am Westfriedhof sein“, sagte sie, ohne von ihrem Handy aufzuschauen, „dort treffen wir Herrn Übel vom Beerdigungsinstitut. Mama wird um elf Uhr dreißig beigesetzt. Es gibt keinen Priester und auch sonst keinen Schnickschnack, da war sie sehr eigen. Ich habe einen Kranz bestellt und man durfte ein Lied aussuchen. Sie hat sich ‚we’ll meet again‘ in der Version von Johnny Cash gewünscht, du weißt ja, was für ein Fan sie war.“ Mave bemerkte ein Zittern in Sandras Stimme und sah Tränen, die aus ihren Augen auf das Display des Handys tropften. Es tut mir leid, wollte er sagen und konnte es nicht. Stattdessen nickte er nur und schwieg. „Hast du einen ordentlichen Anzug?“, fragte Sandra, ganz unvermittelt blickte sie vom Handy hoch und Mave erschrak, als er die überwältigende Traurigkeit in ihrem blassen Gesicht sah. Ein dicker Kloß sammelte sich in seinem Hals, also nickte er nur wieder wortlos und trank noch mehr Kaffee. „Du meinst aber nicht das schäbige Teil, das du gestern schon angehabt hast, oder?“ Mave erstarrte. „Naja“, stieß er errötend hervor, Sandra schüttelte entschlossen den Kopf und sog scharf die Luft ein. „Das kommt gar nicht in Frage.“, entfuhr es ihr schroff. „Soll ich mir etwa ein Flanellhemd von dem da ausborgen?“, antwortete Mave gehässig, sein ausgestreckter Zeigefinger deutete anklagend auf Joe, der mittlerweile ebenfalls am Küchentisch platzgenommen hatte und gierig einen randvollen Teller Fressfest in sich hineinschaufelte, doch Sandra wischte Maves Einwand mit einer ärgerlichen Handbewegung fort. „Ich habe einen Anzug für dich. Er wird angemessen sein“, sagte sie entschieden und Mave hörte am Klang ihrer Stimme, dass es keinen Platz für weitere Diskussionen gab. Eine knappe Dreiviertelstunde später stand er sauber und frisch rasiert vor dem großen Badezimmerspiegel, sein ordentlich gekämmtes Haar glänzte wie blauschwarze Krähenflügel und der anthrazitblaue Anzug, der ihm von Sandra aufgenötigt worden war, saß tatsächlich hervorragend. Mave betrachtete sein Erscheinungsbild beinahe wohlwollend, dann erinnerte er sich schlagartig an den Grund seines Aufzugs und das aufkeimende Wohlgefühl verschwand. Betrübt trollte er sich aus dem Badezimmer, im Flur stieß er auf Joe, der ein schwarzes Death-Metal T-Shirt und Jogginghose trug und sich gerade auf dem Weg ins Wohnzimmer befand. Maves irritierten Blick kommentierte er mit einem entschuldigenden Grinsen: „Die Beisetzung ist nur für Familienangehörige. Ich bin erst heute Abend wieder dabei.“ „Was ist heute Abend?“, fragte Mave neugierig. „Das erfährst du noch früh genug“, antwortete Sandra in seinem Rücken, sie hatte sich ebenfalls umgezogen und trug nun ein langärmliges, schwarzes Kleid mit zartem Spitzenkragen. Ihr lockiges Haar war im Nacken zu einem festen Knoten gebunden, sie hatte darauf verzichtet ihre Augen zu schminken, nur ein wenig Rouge und dezenter Lippenstift brachten etwas Farbe in ihr Gesicht. „Was erfahre ich früh genug?“, bohrte Mave nach, der es hasste mit solchen Allgemeinsprüchen abgefertigt zu werden, doch Sandra schüttelte nur den Kopf. „Nichts da“, sagte sie knapp. Mave schimpfte sie halbherzig eine blöde Ziege und verfiel anschließend in schmollendes Schweigen, um keine weitere Unterhaltung führen zu müssen. Er schmollte auf dem Weg zum Friedhof, schmollte, als er Herrn Übel vom Beerdigungsinstitut vorgestellt wurde und hörte erst auf zu schmollen, als er den Nebenraum der Friedhofskapelle betrat und einen Truhensarg aus Kiefernholz erblickte. Praktisch und schlicht waren die ersten Worte, die ihm in den Sinn kamen. Da liegt sie jetzt drin, sagte eine nüchterne Stimme in seinem Kopf und Mave fühlte ein unangenehmes Stechen im Magen. Er beobachtete Sandra, die sich dem geschlossenen Sarg näherte und bittere Tränen vergoss, blieb selbst in der Nähe der Türe stehen und konnte keinen Schritt weiter. Eine innere Barriere schien ihn zurückzuhalten, erst als seine Schwester unwirsche Zeichen gab, kam er widerwillig näher. Sandra nickte einem Mann zu, der sich dezent im Hintergrund aufgehalten hatte, dieser erwiderte das Nicken und verschwand hinter einem dunklen Vorhang. Kurz darauf erfüllten die Klänge von ‚we’ll meet again‘ den kleinen Raum, Mave hatte das Lied seit Jahren nicht gehört und wunderte sich nun über die eigenartige Wahl seiner Mutter. Die Beisetzung verlief überraschend zügig. Mave hatte mit einer gefühlsduseligen Zeremonie gerechnet, doch seine Befürchtung traf nicht ein, nach ein paar wenigen Gedenkminuten wurde der Sarg von sechs Sargträgern aufgenommen und gemessenen Schrittes nach draußen verbracht, Sandra und Mave folgten langsam über den knirschenden Kiesweg, der zur Grabstelle führte. Sandra weinte unentwegt und schnäuzte in ein großes Stofftaschentuch, Mave trug einen verschossenen Gesichtsausdruck zur Schau und sonst gar nichts. Auch jetzt noch war es ihm unmöglich echte Trauer zu empfinden und langsam begann er sich ernsthaft zu fragen, was zur Hölle nicht stimmte. Er beobachtete die zuckenden Schultern seiner Schwester, versuchte sich in ihren Abschiedsschmerz hineinzufühlen, suchte jene Traurigkeit zu finden, die er nach dem Tod der Mutter in seinem Herzen erwartet hätte, aber alles was er fand waren leere Gefühlshülsen, ausgebrannte Emotionen und Müdigkeit. Mave fühlte sich vollkommen deplatziert, als wäre er gänzlich unvorbereitet in eine unmögliche Situation geworfen worden, die er keinesfalls bestehen konnte. Ein hartes Eisenband schien sich um seinen Kopf zu schlingen, schien immer enger zu werden, bis sein Schädel knirschte, sein Magen revoltierte, scharfes Brennen stieg heiß seine Kehle empor, seine Knie begannen heftig zu zittern, sein Herz pochte wild, kalter Schweiß rann von seiner Stirn. Ruckartig machte er auf den Absatz kehrt, fluchtartig verließ er den Friedhof. Er rannte bis er völlig außer Atem war, winkte schließlich ein Taxi heran und nannte den Flughafen als erstes Ziel, das ihm in den Sinn kam, doch dann erinnerte er sich an seinen Rucksack, der noch in Sandras Wohnung lag und änderte die Zielangabe. Das Innere des Taxis roch nach feuchten Socken und kalter Asche, der Taxifahrer selbst stank nach Zigaretten und ungewaschenen Haaren. Mave fühlte sich unwohl und wollte am liebsten sofort wieder aussteigen, wollte, wenn möglich, gleich ganz aus seiner Haut aussteigen und warum überhaupt Feststofflich bleiben, er hätte sich gerne aufgelöst und endlich aufgehört zu existieren. Versunken in solch finstere Gedanken ertrug er die Fahrt durch den dichten Straßenverkehr, landete schließlich vor Sandras Wohnkomplex und klingelte stürmisch, bis der Türsummer ertönte. Joe nahm ihn an der Türe mit gefühlvoll blinzelnden Äuglein in Empfang, doch Mave hatte die Schnauze voll von Gefühlen, barsch blaffte er eine fadenscheinige Begründung für sein frühes Erscheinen, schob sich an Joe vorbei in die Wohnung und stürmte ins Gästezimmer. Er wollte packen und verschwinden, jetzt und sofort, doch aus unerfindlichen Gründen stolperte er stattdessen einfach nur auf das ungemachte Bett zu, fiel hinein und blieb regungslos liegen, bis er in bleiernem Schlaf versank.
Desorientiert und mit steifen Muskeln erwachte er aus nervösen Träumen, das Zimmer lag dunkel, die Sonne schien bereits lange untergegangen zu sein, verwirrt suchte Mave nach seinem Handy, als er es gefunden hatte erschrak er über die späte Uhrzeit. Ein dringendes Bedürfnis trieb ihn aus dem Bett, mit platten Schritten quälte er sich über den Flur ins Badezimmer, um zu pinkeln. „Mave?“, fragte eine dunkle Männerstimme von der anderen Seite der Türe. „Was?“, rief Mave ungehalten zurück, er konnte es nicht leiden, wenn er beim pinkeln gestört wurde. „Wir warten im Wohnzimmer auf dich“, sagte Joe, dann entfernten sich schwere Schritte von der Tür und Mave war wieder alleine. „Aha“, machte er nur und betätigte die Spülung. Er wusch sich die Hände und das Gesicht, vermied es, in den Spiegel zu sehen, dann stand er mit baumelnden Armen vor dem Waschbecken und wusste nicht weiter. Er hatte keine Lust ins Wohnzimmer zu gehen, wollte schon gar nicht seiner Schwester unter die Augen treten, doch was sollte er tun? Davonlaufen? Schon wieder? Ein bitteres Lachen drang aus seiner Kehle, er nannte sich selbst einen feigen Hund, verpasste einer Fliesenkachel einen derben Fauststoß und schritt entschlossen ins Wohnzimmer. Sandra und Joe saßen eng aneinandergekuschelt auf der braunen Ledercouch und unterhielten sich leise, als Mave hereintrat unterbrachen sie das Gespräch. Mave hatte eine negative Reaktion erwartet, hatte mit Geschrei gerechnet und schlimmen Vorwürfen, doch seine Schwester erhob sich nur in einer fließenden Bewegung von der Couch, kam ohne zu zögern auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Mave erstarrte. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte und vergaß vor Schreck zu atmen. „Es ist alles gut“, flüsterte Sandra, dann löste sie die Umarmung, griff nach seiner Hand und führte ihn zur Couch. Mave folgte verunsichert, setzt sich und nahm widerstandslos eine Tasse Tee entgegen. „Trink“, befahl Sandra ernst und Mave trank. Der Tee schmeckte bitter, angewidert verzog er das Gesicht, doch trotzdem trank er. Mave hatte das verquere Gefühl, es seiner Schwester schuldig zu sein den angebotenen Tee zu trinken, also stürzte er das widerliche Getränk in großen Schlucken hinunter. Mit schiefem Lächeln reichte er die leergetrunkene Tasse zurück und kam sich dämlich vor. „Ich habe nachgedacht.“ Sandra sprach betont langsam und deutlich und Mave dachte bitter, dass nun doch noch eine Zurechtweisung folgen würde. Er begann sich gedanklich bereits zu rechtfertigen, doch Sandra wollte offenbar auf etwas völlig anderes hinaus: „Ich habe lange, sehr lange nachgedacht. Über dich und deine verkorkste Beziehung zu Mama. Warum alles schiefgelaufen ist und wieso es nie wieder heil wurde. Und weißt du was? Ich kann es nicht verstehen.“ Sie rückte nahe an Mave heran und sah ihm tief in die Augen, Mave zuckte unwillkürlich ein wenig zurück, wagte aber nicht wegzusehen. „Ich glaube du kannst es selbst nicht verstehen. Du bist damals einfach weggegangen und hast nie aufgehört dich zu entfernen. Du bist kein einziges Mal stehengeblieben, um einen Blick zurückzuwerfen auf Mama und mich.“ Sandra atmete schwer und Mave dachte unbehaglich, sie erwarte nun eine Antwort von ihm, doch sie begann wieder zu sprechen bevor er den Mund öffnen konnte. „Deswegen schicke ich dich heute Abend nach Hause“, sagte Sandra bestimmt und in ihre Augen trat ein seltsamer Glanz. „Hä?“, machte Mave, der nicht verstand und vielleicht auch nicht verstehen wollte, was seine Schwester soeben gesagt hatte. „Ich habe dir eine synthetische Droge verabreicht“, erklärte Sandra lapidar. „D-du hast was?“, stotterte Mave verblüfft. „Du hast mich schon ganz richtig verstanden, Bruderherz. Wir fahren jetzt zu Mama. Komm.“ Sandra und Joe erhoben sich zeitgleich von der Couch, Mave blieb völlig perplex sitzen und glotzte mit offenem Mund. „Du hast was?“, fragte er wieder, ein seltsames Gefühl breitete sich in seinem Unterleib aus und er wußte nicht zu sagen, ob es Angst oder die Droge war. „Stell dich nicht so an. Steh auf und komm“, antwortete Sandra kalt, Joe trat an Mave heran und half ihm sanft, aber bestimmt auf die Beine. Mave war viel zu schockiert, um sich gegen die Behandlung zur Wehr zu setzen, widerstandslos ließ er sich aus der Wohnung und bis zu Joes rostigem Kleinwagen führen. „Wohin fahren wir?“, fragte er vorsichtig, doch niemand gab Antwort. Eingeschüchtert nahm Mave auf der Rückbank platz, Sandra setzte sich neben ihn und drückte ganz unvermittelt seine Hand. „Es wird alles gut. Vertrau mir“, sagte sie und Mave hätte am liebsten laut losgelacht, doch in diesem Moment begann die Droge zu wirken und seine Wahrnehmung kippte und zerbrach wie ein Spiegel. Das Innere des Wagens begann zu schmelzen, die Umgebung fühlten sich merkwürdig fluffig an, milchige Flüssigkeit quoll aus den Ritzen der Sitzgarnitur, von der Decke des Autos tropfte etwas, das aussah wie dunkle Schokolade. Mave hielt sich entsetzt an der Hand seiner Schwester fest, „Krass“, war alles, was er sagen konnte, das Wort glitt weich von seinen Lippen und plumpste in leuchtend orangeroten Buchstaben in den Fußraum des Wagens. Mave starrte fasziniert und vergaß seine Angst. „Coooool“, sagte er, dehnte das Wort, so lange er konnte und beobachtete gebannt, wie die vielen Os aus seinem Mund purzelten. „Iiiist daaas noooormaaaal?“, fragte er gedehnt, das Wageninnere füllte sich mit bunten Buchstaben und Mave dachte geistesgegenwärtig daran, das Fenster zu öffnen, um sie nach draußen zu lassen, bevor kein Platz mehr war. Doch es war ihm unmöglich den Mechanismus des Fensterhebers zu bedienen, hilflos zupfte er daran herum, bis eine Frauenhand in seinem eingeschränkten Sichtfeld auftauchte und den Schalter drückte. Das Fenster glitt einen Spaltbreit herunter und die wimmelnden Buchstaben wurden vom Fahrtwind aus dem Wageninneren gerissen. Mave sah ihnen grinsend hinterher. „Auf Wiedersehen“, rief er und fand sich unheimlich komisch. „Wir sind da“, sagte eine Stimme in seinem Kopf, die wie die Stimme seiner Schwester klang, Mave nickte bedächtig und rührte sich nicht. Übelkeit stieg in seinem Magen auf, er hatte das drängende Bedürfnis erbrechen zu müssen, doch der Moment ging vorbei und die Übelkeit verschwand. Mave schloß für einen kurzen Moment die Augen, als er sie wieder öffnete stand er auf einem Kiesweg, der sich wie eine unendlich lange, leuchtend weiße Schlange durch die Dunkelheit wand. „Was zur Hölle?“, rief Mave irritiert, während er versuchte auf dem schlängelnden Kiesweg das Gleichgewicht zu halten. „Es sind nur noch ein paar Meter“, brummte ein strubbeliger Grizzlybär, der an seiner Seite trottete und ein lächerlich kariertes Flanellhemd trug. „Joe?“, fragte Mave ungläubig und blieb stehen, der Bär setzte sich auf seinen dicken Hintern, wackelte freundlich mit den Ohren und hob eine Vordertatze: „Ich wusste von Anfang an, dass du ein Bär bist!“ Triumphierend verpasste Mave der erhobenen Tatze ein High Five, das riesige Tier grinste und ein dunkles Lachen drang aus seiner pelzigen Bärenbrust. „Schon klar“, gluckste Joe, dann erhob er sich schnaufend und trottete weiter. Mave folgte der zotteligen Gestalt durch die Nacht und grübelte vergnügt, ob er vielleicht ein Stück des Weges auf Joes breitem Rücken reiten könnte. „Da ist Mamas neues Zuhause“, sagte Sandra, ihre schlanke Silhouette manifestierte aus purer Dunkelheit, ihre Worte fielen wie schwere Steine und schlugen Wellen in Maves mäandernde Gedanken. „Mamas neues Zuhause“, wiederholte er leise und versuchte zu begreifen, was er sagte. Unbehagen rieselte kalt seine Wirbelsäule hinunter, er wollte keinesfalls hinsehen, doch seine Augen wanderten selbstständig über kurzgemähten Rasen und saubere Beetmarkierungen und blieben schließlich an einem Erdgrab hängen, auf dem ein wunderschöner Trauerkranz aus Trockenblumen lag. „Hallo Mama, schau mal, wen ich mitgebracht habe“, sagte Sandra und Mave erschrak über die Traurigkeit in ihrer Stimme, er hatte das impulsive Bedürfnis seine Schwester zu umarmen, doch er konnte die Füße nicht von der Stelle bewegen. Mave stand wie angewurzelt vor dem Grab. „Ich glaube, ihr habt euch viel zu sagen. Ich lasse euch beide jetzt allein.“ Sandra begann sich langsam in Luft aufzulösen und Mave wollte schreien, wollte bitten und betteln, sie möge ihn nicht allein an diesem fürchterlichen Ort lassen, doch sein Mund blieb fest geschlossen und nur ein leises Wimmern drang aus seiner Kehle. Stockstarr musste er mitansehen, wie seine Schwester in der Dunkelheit verschwanden, in der mit einem Mal nichts mehr zu existieren schien, als Mave und das Grab seiner Mutter. Verdammte Scheiße, dachte Mave entsetzt, er versuchte seinen linken Fuß vom Boden zu heben, zog und zerrte mit aller Kraft, doch je mehr er sich bemühte, desto fester schien er verankert. Sein rechter Fuß sankt tief in den Boden ein und Mave begriff mit heißkalter Panik, dass die Erde ihn gnadenlos verschlingen würde, er schrie um Hilfe, schlug um sich, kämpfte verbissen, doch das Erdreich öffnete sich unaufhaltsam und verschluckte ihn mit einem satten Schmatzen. Absolute Finsternis umfing Mave, er wurde von ihr umschlungen, spürte eine erstickend schwere Last auf seinen Brustkorb drücken und fragte sich angsterfüllt, ob es sich so anfühlte zu sterben. Grelle Lichtblitze erschienen vor seinen Augen, weiße und rote Punkte, die wie Feuerwerk in seinem Kopf explodierten. „Das ist zu viel!“, schrie er gequält, doch der Druck wuchs unaufhörlich weiter und Mave verlor das Bewusstsein.
„Es ist eine Schande“, sagte eine knarzige Frauenstimme, Mave blinzelte und schlug verwirrt die Augen auf, er lag zusammengerollt auf dem Grab seiner Mutter und hielt den Trauerkranz fest umklammert. Eine dicklich alte Dame stand über das Grab gebeugt, sie stierte mit tadelndem Blick auf seine jämmerliche Gestalt und verzog das runzelige Gesichtchen. „Eine Schande“, wiederholte sie verstimmt, Mave löste sich beschämt vom Trauerkranz und stand unbeholfen auf. „Die haben Ihre Mutter einfach über mich drübergelegt!“, schimpfte die alte Dame, Mave klopfte Erdklumpen von seiner Kleidung und nickte ohne zuzuhören. Er fragte sich ärgerlich, wohin Sandra und Joe verschwunden waren, er fror erbärmlich und wollte gerne etwas essen, duschen und verdammtnochmal schlafen. „Tieferlegen nennen die das hier, hat man sowas schon gehört?“, ereiferte sich die runzlige Alte und langsam drang ihr Gezeter bis in Maves benebelte Gedanken. „Was haben Sie da gerade gesagt?“, fragte er langsam. „Tie-fer-le-gen“, wiederholte sie und betonte jede Silbe, als halte sie Mave für nicht ganz zurechnungsfähig. „Nein, ich meinte das davor.“ Mave wandte seine volle Aufmerksamkeit der alten Dame zu, die wie eine krumme Teekanne neben dem Grab seine Mutter stand und zornig schäumte, doch sie schien nicht gewillt, auf seine Frage einzugehen. „Ich liege schon seit dreißig Jahren hier und jetzt sowas!“, fauchte sie zornig und ballte die winzigen Fäuste. „Aha“, machte Mave, das Herz schlug hart in seiner Brust und ein Stein saß zentnerschwer in seinem Magen. „Man muss doch wohl auch Rechte haben wenn man tot ist, oder was meinen Sie?“ Mave nickte automatisch, dann schüttelte er den Kopf. Übelkeit rollte in schlingernden Wellen über ihn hinweg und diesmal konnte er den Brechreiz nicht zurückhalten, Mave taumelte würgend zu einem nahen Busch. „Geht es Ihnen nicht gut, junger Mann?“ Die alte Dame war ihm zum Busch gefolgt und lugte neugierig durch die Zweige. Mave fluchte ungehalten. „Warum laufen Sie mir nach?“, jammerte er entrüstet, „Ich kann doch auch nichts für Ihre Situation.“ „Natürlich, natürlich. Alles nicht Ihre Zuständigkeit“, grummelte die alte Dame ärgerlich. „Bitte! Lassen Sie mich endlich in Ruhe!“ Mave schrie lauter als er beabsichtigt hatte, erschrocken von seiner eigenen Härte verlor er das Gleichgewicht und fiel schwer auf den Hosenboden. „Das kommt davon“, schnaubte die dickliche Dame pikiert, sie machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte mit hoch erhobenem Kopf davon. Mave kam ungelenk wieder auf die Beine und starrte ihrer rundlichen Gestalt mit gerunzelter Stirn hinterher, angewidert wischte er Reste von Erbrochenem aus seinem Mundwinkel. „Frau Schubert hast du also schon kennengelernt.“ Mave erkannte die vertraute Stimme seiner Mutter und zuckte schuldbewusst zusammen. Er sah sich schnell nach allen Seiten um, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. „Hallo?“, fragte er verunsichert und wusste nicht, ob er eine Antwort hören wollte. „Hallo Mave“ Plötzlich stand sie vor ihm, er blinzelte nur kurz und im nächsten Augenblick war sie da und sah haargenau so aus, wie Mave sie in Erinnerung hatte. Sie trug eine lange Strickjacke aus dunkelgrüner Wolle und ausgewaschene Blue-Jeans, Mave erinnerte sich vage, dass sie diese Kleidung auch getragen hatte, als er zum letzten Mal bei ihr zu Besuch gewesen war. Er hatte sich lustig gemacht über diese Strickjacke, hatte gesagt, dass selbst fünfzig Cent auf dem Flohmarkt zu teuer wären für so ein schäbiges Teil, Mave erinnerte sich schlagartig an jedes einzelne Wort und schämte sich prompt. „Hey Bettina“, sagte er hohl, weil er nicht wußte, wie er sonst reagieren sollte. „Wie geht es dir?“ fragte sie und ging mit einem leichten Kräuseln der Stirn darüber hinweg, dass er sie nicht Mutter nannte. „Hm“, machte Mave und zuckte unschlüssig mit den Achseln. Schweigend standen sie sich gegenüber, es schien als wären sie im Tod genauso unfähig zu einer Unterhaltung, wie sie es im Leben gewesen waren. „Wie geht es Sandra?“, fragte seine Mutter schließlich, sie schlenderte die wenigen Schritte bis zu ihrem Grab und betrachtete liebevoll den schönen Trauerkranz, der nach Maves ohnmächtiger Umarmung ein wenig zerpflückt aussah. „Sie ist sehr traurig“, antwortete Mave wahrheitsgemäß, und ich bin es nicht, dachte er düster, aber er konnte sich nicht überwinden es auszusprechen. „Das liegt an deiner Depression“, flüsterte seine Mutter behutsam in seinen Gedanken, Mave riß erschrocken die Augen auf und fauchte ganz automatisch: „Ich habe keine Depressionen!“ Bettina lachte. Es war ein gelöstes, befreiendes, glockenhelles Lachen und ihre Gesichtszüge wirkten um Jahre verjüngt. „Ha-ha“, äffte Mave beleidigt, doch das Lachen war entwaffnend ansteckend und schließlich konnte er ein Schmunzeln nicht länger unterdrücken. „Es ist so schön dich zu sehen“, gluckste seine Mutter vergnügt, Mave wurde schlagartig wieder ernst, wich beschämt ihrem Blick aus und starrte auf seine Füße. Bunte Muster tanzten in verschlungenen Linien über seine Schuhe, Mave fühlte sich schwindlig und sah schnell wieder weg. Seine Augen wanderten unstet über den nächtlichen Friedhof, tasteten über den hellen Kiesweg und die dunklen Gräber und bemühten sich, nicht auf das Gesicht seiner Mutter zu treffen. „Ich liebe dich“, sagte Bettina und die Schlichtheit ihrer Worte brach wie eine Sturzflut über Mave herein, sodass etwas in seinem Inneren nachgab und krachend zerbrach. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du sterben musst?“, brüllte er zornig, dicke Tränen schossen aus seinen Augen, er schlug wütend mit der Faust gegen seine Brust und wünschte sich, die Welt in Stücke reißen zu können. „Ich wollte uns beiden die Peinlichkeit ersparen“, antwortete Bettina trocken, sie lehnte an einem benachbarten Grabstein und beobachtete gelassen den Tobsuchtsanfall ihres Sohnes. „Ich wollte nicht dahinsiechen und darauf warten, dass du irgendwann anrufst und dich entschuldigst, weil du nicht kommst. Ich wollte die Ausreden nicht hören, die du dir ausgedacht hättest, und ich wollte nicht lügen und behaupten, es mache mir nichts aus.“ Mave starrte fassungslos in das ruhige Gesicht seiner Mutter, in dem weder Vorwurf noch Schmerz zu lesen waren, er spürte, dass sie die Wahrheit sagte und es tat unbeschreiblich weh, sie dabei so entspannt zu sehen. „Ich wäre ganz bestimmt gekommen“, presste er bitter hervor, doch Bettina ignorierte seinen kindischen Einwand. „Du hast dich für deine unterdurchschnittliche Herkunft geschämt“, sagte sie, ohne Bedauern in der Stimme, „deshalb bist du so weit weggegangen, wie du nur konntest, um mich und deine ärmliche Vergangenheit zu vergessen.“ „Das stimmt nicht!“ Mave zog lautstark Rotz durch die Nase, seine Stimme überschlug sich schrill und er hatte Mühe genügend Luft zu bekommen. „Im Lauf der Jahre hast du dich dann nur noch an die schlechten Erlebnisse zwischen uns erinnert. Hast unsere alten Streitgespräche wiedergekäut und die vielen Male, in denen ich dich enttäuscht hatte, bis ich nur noch eine ferne, lästige Erinnerung war, die du am liebsten abgestriffen hättest ,wie einen lästigen Pullover. Aber weißt du was?“ Bettina löste sich vom Grabstein und ging mit federnden Schritten auf Mave zu, der unwillkürlich zurückschreckte, doch plötzlich von einer unsichtbaren Mauer aufgehalten wurde, die ihn zwang stehenzubleiben. Mit dem Rücken zu jener Wand stand Mave seiner Mutter gegenüber, sein Herz schlug bis zum Hals und er schloss krampfhaft die Augen, um sie nicht ansehen zu müssen. Bettina nahm sein verschwitztes Gesicht sanft in ihre kühlen Hände und zog es zärtlich an ihres heran. „Für jede schlechte Erinnerung, die du an mich hast, habe ich eine gute Erinnerung an dich“, hauchte sie und eine rasend schnelle Folge von Bildern und Gefühlen schwemmte über Maves Bewusstsein hinweg. Er fühlte Geborgenheit und Wärme, hörte Kinderlieder und ausgelassenes Gelächter und war eingebettet in das wohlige Gefühl bedingungslos geliebt zu werden. Mave verlor sich in diesem Gefühl, er sog es auf, atmete es ein und spürte in jeder Zelle seines Körpers ein sonnenähnliches Strahlen, das ihn erschaudern ließ. „Ich liebe dich“, erklang die gefühlvolle Stimme seiner Mutter überall um ihn herum und endlich brach es auch aus Mave heraus: „ich liebe dich auch“, schluchzte er betroffen und schlug die Augen auf. Bettina war verschwunden, Mave stand allein vor ihrem Grab und das plötzliche Fehlen ihrer innigen Umarmung riß ein tiefes Loch in seine Seele. „Du fehlst mir, Mama“, wimmerte er und schrak zusammen, als sich ganz unerwartet eine Hand auf seine bebende Schulter legte. „Sie fehlt mir auch“, sagte Sandra und Mave wunderte sich nicht, woher sie auf einmal gekommen war, sondern schlang nur mit wildem Seufzen die Arme um seine Schwester. „Es tut mir leid“, heulte er und drückte sie so fest an sich, wie er nur konnte, Sandra erwiderte die Umarmung innig und ließ erst wieder los, als Mave sich ein wenig beruhigt hatte. „Wie fühlst du dich?“, fragte sie, mit einem prüfenden Blick auf seine zerbeulte Erscheinung. „Wie ausgekotzt“, antwortete Mave ehrlich und grinste verlegen. „Willst du Frühstücken?“ Sandra ergriff die Hand ihres Bruders und drückte liebevoll seine klammen Finger. „Gerne“, hauchte Mave und drückte zurück. „Na, dann komm.“ Sandra dirigierte den restlos erschöpften Mave bis zu einer Parkbank, auf der Joe mit überschlagenen Beinen saß und wartete. „Könnten wir nicht vielleicht auf dem Bären nach Hause reiten?“, fragte Mave hoffnungsvoll, während er vor der Parkbank langsam in die Knie ging. „Na klar“, brummte Joe freundlich und hob ihn sanft vom Boden auf.
© sybille lengauer