Mit ‘Regengedanken’ getaggte Beiträge

Brief an einen Sohn

Regen. Immer nur Regen. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich nichts als graue Wolkenberge und diesen gottverdammten Regen. Egal ob ich morgens, mittags oder abends nach draußen schaue, es regnet, regnet und regnet. ‚Wie soll man da keine Depressionen bekommen?‘, höre ich manchmal eine melancholische Stimme in meinem Hinterkopf fragen. ‚Indem man sich keine verfluchten Depressionen leisten kann!‘ , antworte ich dann meist und werde zornig. Ich weiß nicht ob es normal ist solche Streitgespräche mit sich selbst zu führen, aber was ist heutzutage schon normal? Es regnet seit siebzehn elenden Jahren, da fallen Selbstgespräche wohl nicht mehr ins Gewicht. Und wenn ich ehrlich bin interessieren Depressionen auch niemanden mehr, wahrscheinlich ist inzwischen die ganze Menschheit depressiv, würde mich zumindest nicht wundern. Trotzdem. Jeden Tag erneut, als ob ich es nicht besser wüsste, quäle ich mich aus dem Bett, statt platt auf der verschimmelten Matratze liegen zu bleiben und endlich aufzugeben, trete ans Fenster und starre hinaus in den Regen.
Und alles nur wegen ihr, dieser verlogenen Hure, die sich Hoffnung nennt. Ständig hoffe ich auf irgendetwas, als wäre das Hoffen eine Sucht. Ich hoffe, dass es endlich aufhört zu regnen, ich hoffe, dass mir dieses alte Haus nicht unter dem Arsch zusammenfällt, ich hoffe, dass ich endlich Nachricht von Dir erhalte, ich hoffe, dass ich hier nicht alleine sterben muss. Alles kreuzdumme und überflüssige Gedanken, weil ich auf nichts davon auch nur den geringsten Einfluss habe, und trotzdem bringen sie mich immer wieder dazu aufzustehen und weiter einen Schritt vor den anderen zu setzten. Hoffnung zwingt mich auf die Beine, treibt mich aus dem Haus und sorgt dafür, dass ich einen weiteren Tag ums Überleben kämpfe, wie eine Ratte in der Falle. Hoffnung lässt mich stundenlang in der Warteschlange vor der Wohlfahrtskantine ausharren, dicht gedrängt mit all den anderen Verdammten, die einfach nicht aufgeben können. Hoffnung bringt mich dazu jeden noch so widerlichen Fraß hinunterzuschlingen, den sie bei der Zuteilung für mich übrig haben. Hoffnung lässt mich zurückkehren in dieses morsche, vom Regen zerfressene Haus und erneut eine Nacht lang unruhig von vergangenen Zeiten träumen. Hoffnung lässt mich diesen Brief an Dich schreiben, obwohl ich nicht weiß, ob er Dich jemals erreichen wird. Bestimmt ist das fürchterlich naiv und dumm von mir, aber es ist ja auch naiv und dumm in dieser dunkelfeuchten Hölle am Leben zu hängen und trotzdem bin ich immer noch hier.
Geht es Dir gut, so hoch oben in den Bergen? Ist der Himmel dort so blau, wie Du es Dir erhofft hast? Kannst Du die Sonne sehen? Manchmal bekomme ich Panik bei dem Gedanken, dass ich sie nie mehr wiedersehen werde. Für immer Regen und Wolken wohin man schaut. Dann versuche ich mir vorzustellen, wie Du auf einem Gipfel stehst und die endlose Wolkendecke überblickst und meine Gedanken beruhigen sich wieder. Es ist gut, dass Du fortgegangen bist, Thomas. Hier unten gibt es keine Zukunft mehr. Du hast die richtige Entscheidung getroffen, auch wenn ich damals strikt dagegen war. Ich wollte Dich nicht verlieren! Als ich endlich begriffen habe wie egoistisch dieser Gedanke im Grunde war, konnte ich Dich auch in meinem Herzen ziehen lassen. Es tut mir leid, dass ich nicht früher dazu in der Lage war. Und wieder kann ich nur hoffen. Hoffen, dass du mir verzeihen kannst, dass ich versucht habe Dich aufzuhalten. So wie ich Dir verziehen habe, dass Du trotzdem davongelaufen bist. Es blieb Dir nichts anderes übrig, das verstehe ich jetzt.

© sybille lengauer