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Am Tag, als Gott zurück auf die Erde kam…

Am Tag, als Gott zurück auf die Erde kam, befand ich mich wie gewöhnlich auf dem Weg zur Auskunftei, ich hatte soeben ein Trinkpäckchen Kakao und ein Buttercroissant beim Bäcker erworben und war nun schnellen Schrittes unterwegs zum Büro, im flotten Zickzack durch die überfüllte Fußgängerzone, da begann plötzlich ein merkwürdiges Flüstern, ein Murmeln und Rauschen wie von gurgelndem Wasser, das sich von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Gruppe fortpflanzte und dabei anschwoll zu einer regelrechten Flut, die sich auftürmte und überschäumte und meine Aufmerksamkeit mit sich riss. Wilde Gerüchte brandeten an mein Ohr, sprachen von einer schrecklichen Naturkatastrophe, einem fürchterlichen Terroranschlag, einem missglückten Militärexperiment, sprachen von diesem und jenem, niemand schien etwas konkretes zu wissen, alles bestand aus Hörensagen und Vermutungen und nur eines schien von Gewissheit: etwas schlimmes war geschehen. Ich versuchte auf eigene Faust zu ergründen was vorgefallen war und gesellte mich zu einer immer größer werdenden Menschenmenge, die sich um das Schaufenster eines Elektrohandels drängte, der Fernseher in allen möglichen Größen und Formen verkaufte und ein ganzes Dutzend davon zu Demonstrationszwecken in seiner Auslage aufgestapelt und eingeschaltet hatte und so konnte ich, eingeklemmt zwischen die schwitzenden Leiber der anderen Schaulustigen, einen ersten Blick auf das Rote Auge Gottes erhaschen, das bedrohlich pulsierend über einem anonymen Häusermeer schwebte und die ganze Welt in Aufruhr versetzte. Die Filmaufnahmen entsprangen ganz offensichtlich ungeübten Laienhänden; Passanten, die gerade zufällig zugegen waren und das Schauspiel für die Nachwelt aufzeichneten, die Videos waren allesamt verwackelt und verschwommen, ich wußte nicht zu sagen aus welcher Stadt, nicht einmal aus welchem Land sie stammten und vermutete vorschnell, dass es sich um die USA handeln müsse, immerhin geschah in den Actionfilmen alles von Belang dort drüben, es kam mir also ganz logisch vor, dass dem auch in der Realität so sein müsse. Dann erkannte ich plötzlich den Kölner Dom und ein kalter Schauer jagte über meinen Rücken, der Schrecken war viel näher als erwartet, und auch wenn ich nicht wusste, um welchen Schrecken es sich bei diesem roten Ding im Himmel überhaupt handelte, gewann er durch die unerwartete Nähe an Intensität. Später an diesem Tag erfuhr ich, dass das Rote Auge Gottes über zahllosen Großstädten auf der ganzen Welt erschienen war, es handelte sich um puren Zufall, dass ich es ausgerechnet über Köln zum ersten Mal erblickte, doch an diesem spätsommerlichen Vormittag wusste ich das natürlich noch nicht, genausowenig, wie ich wusste, dass es sich bei diesem gewaltigen Objekt um unseren Herrn und Schöpfer handelte, der auf die Erde zurückgekehrt war, um sich an uns zu laben. Ich hätte wahrscheinlich lauthals aufgelacht, wenn mir jemand erzählt hätte, was ich soeben, mit an Beiläufigkeit grenzender Leichtigkeit, auf dieses Blatt Papier geschrieben habe: unser Herr und Schöpfer – dazu wollte mir damals nichts weiter einfallen als ein gelangweiltes Schulterzucken, ich war in etwa so religiös wie ein Türknauf. Das änderte sich natürlich, als Gottes Plagen über uns hereinbrachen, doch damit springe ich bereits zu weit in meiner Erzählung nach vorn, denn vor den Plagen kamen die Träume und die waren schlimm genug. An besagtem Tag Eins ahnte ich allerdings weder von Plagen noch Träumen, ich verstand nur, dass etwas im Himmel aufgetaucht war, das man mit Fug und Recht als Unbekanntes Flugobjekt bezeichnen konnte und in meine gruppendynamisch aufgeladene Beunruhigung mischte sich eine durchaus große Portion naiver Neugierde, ich brannte förmlich darauf zu erfahren, um was es sich bei diesem rätselhaften Ding handelte. Als ich mich schließlich von den Bildschirmen in der Auslage löste, um arg verspätet ins Büro zu eilen, begannen sich die Straßen bereits merklich zu leeren, die Leute strömten in Scharen nach Hause, um in der Sicherheit ihrer eigenen vier Wände das mysteriöse Geschehen weiter zu verfolgen; ich überlegte spontan, es ihnen gleich zu tun und die schnöde Arbeit ausfallen zu lassen, doch zu diesem Zeitpunkt waren meine Beine den gewohnten Weg bereits zu Ende gelaufen und hatten mich zuverlässig vor den Eingang des verschachtelten Bürokomplexes getragen, während meine Gedanken anderweitig beschäftigt waren; also folgte ich ihrem Beispiel und betrat fügsam das Gebäude. Der anschließende Arbeitstag verging einerseits turbulent und doch in höchstem Maße unproduktiv, ständig hingen wir in kleinen Grüppchen vor dem Radio und lauschten gebannt den neuesten Berichten, private Mobiltelefone vibrierten im Minutentakt, weil sich diverse Verwandte, Freunde und Bekannte über die neuesten verfügbaren Informationen austauschen wollten, mein Exmann rief sogar viermal hintereinander an, um mir sein besorgtes Herz auszuschütten; selbst die fleißigsten Vorzeigemitarbeiter waren nicht in der Lage sich auf das Tagesgeschäft zu konzentrieren, die Sensationsgier lähmte uns alle und ließ uns gleichzeitig zappelig und unruhig werden wie quirlige Kinder in einem Süsswarenladen. Das Ohr am Radio brachte uns allerdings keine sonderliche Erleuchtung, wechselnde Nachrichtensprecher stotterten im Grunde nur immer die gleichen, mit der Zeit langweilig werdenden Sätze von unerklärlichen Phänomenen, die sich offenbar weltweit zur gleichen Zeit ereigneten und jedweder logischen Erklärung spotteten, wobei ich persönlich felsenfest davon überzeugt war, dass es sich bei den fremdartigen Objekten um hochtechnisierte Raumschiffe handeln musste, Fortbewegungsmittel einer fremden Intelligenz, die über die unvorstellbar gigantische Entfernung des Weltraums den ersten Kontakt zu uns hergestellt hatte. Beim Gedanken an die unfassbare Ausdehnung des Universums erschauderte ich jedes Mal unwillkürlich und so etwas wie Ehrfurcht vor dem großen Können jener mysteriösen Fremden schlich sich in mein ahnungsloses Herz, das sich damals noch vor kindlicher Neugier förmlich überschlug. Heute weiß ich, dass Gott nicht den Tiefen des Alls entstammt, sondern einer benachbarten Dimension, die nur ein Wimpernschlag von unserer Heimatwelt trennt – und die für uns Sterbliche trotzdem unerreichbar weit entfernt ist, weil wir dort nicht existieren können; Gott ist auch nicht an unsere schnöden physikalischen Gesetze gebunden, die enormen Weiten des Weltraums bereiten ihm kein Kopfzerbrechen, denn Gott ist wahrlich allmächtig – zumindest in unserer Realitätsebene. Manchmal frage ich mich, ob es an jenem Ort, von dem er zu uns zurückgekehrt ist, noch weitere Wesen gibt, die so andersartig sind wie er, vielleicht ist er dort drüben nur einer von vielen und gar nichts besonderes – aber dieser Gedanke ist im Grunde obsolet, denn auf solche Fragen werde ich nie eine vernünftige Antwort erhalten. Wie dem auch sei, an jenem ersten Tag von Gottes Rückkehr war ich jedenfalls absolut davon überzeugt, dass wir, im Sinne von Menschheit, von Aliens aus dem All besucht worden waren und dass nun, aufgrund ihrer überlegenen Weisheit und intellektuellen Reife, ein neues, besseres Zeitalter anbrechen würde. Armut, Gebrechlichkeit, Schmerz, all diese unliebsamen Lasten würden sie von unseren Schultern nehmen und uns in den erlauchten Kreis der Weltraumreisenden erheben – so zumindest malte ich es mir freudig aus und auch wenn sich bisweilen der Hauch des Zweifels in meine, zugegeben recht utopische, Phantasie mischte, hielt ich doch den ganzen Tag weiter an ihr fest und verteidigte sie erbittert gegen meine pessimistischeren Kollegen, die schon begannen vom Untergang der Welt zu unken; erst als Nachts die Alpträume zum ersten Mal über mich hereinfielen und mich schweißgebadet aus dem Bett trieben, begann ich langsam die bittere Wahrheit zu begreifen. Schrecklich waren sie, diese Träume, schwindelerregend und erdrückend zugleich, das Rote Auge Gottes verfolgte mich unaufhörlich und blickte gnadenlos in meine Seele, um dort mit chirurgischer Präzision all die kleinen und größeren Verfehlungen zu inspizieren, die ich lieber weiterhin verborgen gehalten hätte. Ich versuchte mich gegen seinen brennenden Blick zu wehren, doch war ich hilflos der Übermacht ausgeliefert und als ich endlich schweißüberströmt aus dem Schlaf schreckte, war meine kindlich-naive Freude über den vermeintlich außerirdischen Besuch restlos verpufft. Sieben Nächte lang quälten uns diese Träume, egal ob Jung oder Alt, Reich oder Arm, Religiös oder Ungläubig, ein jeder musste es ertragen, im Schlaf von Gottes brennendem Blick seziert zu werden. Tagsüber versuchten wir alle einen Alltag aufrecht zu erhalten, der sich seit der Ankunft Gottes nur noch wie überflüssiger, völlig nutzloser Zeitvertreib anfühlte, wir schleppten uns zur Arbeit, erledigten die anfallenden Aufgaben, gingen anschließend nach Hause, aßen, tranken und versuchten so wenig wie möglich zu schlafen. Die unbequeme Frage, was denn nun genau passieren würde, wenn Gott genug in unsere Seelen geschaut hatte, um ein Urteil zu fällen, wurde immer wieder unter vorgehaltener Hand diskutiert, doch niemand wusste eine befriedigende Antwort, alles war pure, angstdurchsetzte Spekulation. Würde Gott uns bestrafen? Würde er eine neue Sintflut schicken, um die vielen Sünder von den wenigen Rechtschaffenen zu trennen? Zwei Arbeitskollegen reagierten schnell und investierten in hochseetaugliche Boote – ich sah darin keinen Sinn, denn ich ging davon aus, dass sich Gott, wenn er uns Sünder denn ersäufen wollte, nicht von irgendwelchen Booten aufhalten lassen würde. Es fiel mir erschreckend schwer, nicht in passiven Fatalismus zu verfallen, es war verführerisch einfach, die Hände in den Schoß zu legen und auf das vernichtende Gottesurteil zu warten, auch wenn mich die erwiesene Existenz Gottes in schreckliche Panikzustände trieb, denn ich hatte seit der Kindheit aufgehört zu glauben und selbst jetzt, wo ich jederzeit sein brennendes Auge über unseren Köpfen sehen konnte, wollte mein Verstand immer noch nach Ausreden suchen, warum dies unmöglich Gott sein konnte. Ich wollte es nicht wahrhaben, ich wollte es nicht glauben – wollte überhaupt nicht glauben – und war doch gezwungen, die physische Realität seiner Existenz anzuerkennen, schließlich sah ich ihn jeden Tag im Himmel und nachts in meinen Träumen, wieder und immer wieder, bis ich meinte verrückt zu werden. Sieben Nächte mussten wir alle Gottes stummen, unnachgiebigen Blick ertragen, in der achten Nacht sprach er schließlich zu uns, seine Stimme klang in meinen Gedanken mächtig wie ein Donnerschlag und ich schrie mein Entsetzen so laut heraus, dass ich schlagartig erwachte, doch seine Worte hallten überdeutlich in meinem Kopf wider und machten mich zittern, denn Gott hatte tief in meine Seele geschaut und was er dort gefunden hatte, erzürnte ihn; ich war schuldig, doch nicht nur ich, allesamt waren wir besudelt, es mangelte uns am rechten Glauben und das missfiel Gott zutiefst. Also schickte er uns die Plagen, um unseren Glauben zu stärken, er ließ Heuschrecken und Kröten auf die Erde herabregnen, schickte Erdbeben und grauenvolle Feuersbrünste, die sich durch die Städte und Landschaften fraßen, wie durch dünnes Papier, doch die schlimmste Strafe von allen – er nahm uns unsere ungeborenen Kinder. Ich wusste bis zu jenem Zeitpunkt nicht, dass ich im dritten Monat schwanger war, ich ahnte es noch nicht einmal, denn ich hatte zwei Jahren zuvor eine Hormonspirale einlegen lassen und kümmerte mich seither nicht um die oftmals ausbleibende Monatsblutung, immerhin war das eine ganz normale Reaktion des Körpers und außerdem war mein Sexualleben derart heruntergefahren, dass ich gar nicht an die Möglichkeit dachte, schwanger zu sein. Mein Entsetzen war daher unbeschreiblich, als ich eines Morgens in einer kleinen Blutlache erwachte und ganz ohne weitere Erklärung wusste, dass Gott mein ungeborenes Kind genommen hatte, es getötet hatte, noch bevor ich überhaupt wusste, dass es in mir keimte, noch bevor ich auch nur einen liebevollen Gedanken an das kleine Fünkchen Leben richten konnte, war es schon wieder verloschen. Gott nahm unsere ungeborenen Kinder, egal, wie weit sie entwickelt waren, hochschwangere Frauen erwachten im eigenen Blut und tasteten entsetzt nach den Babys in ihren Bäuchen, die sich nicht mehr regten, sondern still und tot im Fruchtwasser trieben und genau wie ich, wussten auch sie ohne weitere Erklärung, wer für diesen unbeschreiblichen Verlust verantwortlich war, der unsere Herzen bitter machte und unser Lachen stahl. In hilfloser Wut wandten sich viele von uns gegen Gott, verfluchten ihn und seine herzlose Tat, schrieen und drohten zum Himmel hinauf, doch es nützte uns nichts zu klagen und zu toben, denn Gott scherte sich nicht um unseren Zorn, er strafte uns nur weiter, schickte Wirbelstürme und Springfluten und tötete Menschen, wie es ihm gefiel und es gab nichts, was wir dagegen unternehmen konnten. Damals häuften sich die Selbstmorde, brave Bürger gingen morgens wie gewohnt zur Arbeit und stürzten sich mittags aus den Bürofenstern auf die Straße, manche stiegen auch klammheimlich in ihre Autos und fuhren gegen Brückenpfeiler oder stürzten sich in tiefe Schluchten, andere wieder tranken Unkrautvernichtungsmittel oder schlitzten sich die Pulsadern auf. Eine regelrechte Todeswelle schwappte über die Erde hinweg, zigtausende starben, entweder wegen der Plagen oder durch eigene Hand, wobei sich Gott weder um die einen, noch um die anderen kümmerte, unser Sterben war und ist ihm einerlei, ihn interessieren nur unsere unsterblichen Seelen, er ergötzt sich förmlich an unserem Entsetzen, straft und schikaniert uns, wie es ihm gefällt, bis unsere Herzen überquellen vor Angst und unsere Seelen geläutert und voller Glaube sind, denn davon ernährt er sich, ja, er ernährt sich von unserem Glauben! Gott schlürft unsere Gottesfurcht wie frische Austern aus dem Meer und frisst sich satt an unseren Ängsten; wie ein garstiges Raubtier steht er über uns im Himmel, rot und pulsierend wie eine zweite Sonne und das einzige, was uns bleibt, ist zu warten und zu hoffen, dass er eines Tages genug gefressen hat und zurückkehrt in seine eigene Dimension…

© sybille lengauer

Im Göttergarten

Veröffentlicht: September 12, 2020 in Kurzgeschichten
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Im Göttergarten
(Die Erleuchtung)

Hochsommer im Garten der Götter. Drückende Hitze liegt über dem heiligen Paradies, kein Grashalm regt sich in der windstillen Schwüle. Im Schatten einer hochgewachsenen Robinie sitzen zwei jugendliche Gottheiten auf einer hellblau gestrichenen Holzbank und trinken gekühlten Honigwein. Ein kleines Rotkehlchen flattert neugierig heran, um ihr aufkeimendes Gespräch zu belauschen.
„Ich sage dir, die Neue bringt es nicht.“
„Das sagst du doch immer.“
„Diesmal stimmt es aber.“
„Das sagst du auch immer.“
Das Rotkehlchen sträubt enttäuscht das Gefieder, es hat solche endlosen Diskussionen schon viel zu oft mit angehört. Gelangweilt putzt es seine Schwungfedern und fliegt dann rasch davon.
„Sie hat nicht das Zeug zum Propheten“, nörgelt der junge Elefantengott, skeptisch blickt er dem Rotkehlchen hinterher, das zwischen blühenden Mariendisteln verschwindet. Der lange Rüssel im dunkelgrauen Göttergesicht verleiht seinen Worten einen enervierend näselnden Klang. Sein Trinkkumpan, ein Elementargott mit flimmernder Haut und eisblauen Augen, zuckt nur mit den Achseln, er setzt das Glas an und trinkt. Es ist zu heiß, um sich entschlossen zu streiten.
„Ich meine, eine Erleuchtung auf dem Mars? Das ist doch lächerlich!“, ereifert sich der Elefantengott störrisch.
„Jetzt sei mal nicht so konservativ“, stichelt der Elementargott und seine Augen werden gehässig schmal.
„Ich bin doch nicht konservativ!“, trompetet sein Gefährte entrüstet, schwungvoll stellt er sein Glas auf der Bank ab und stemmt die massigen Arme in die Hüfte, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen.
„Auch das sagst du immer“, spottet der Elementargott und lacht schallend.

I
Mars, 11 August 2220. Seit drei Tagen sucht die Besatzung der Terraforming-Station Franquin I fieberhaft nach der verschollenen Bioingenieurin Jona Holt. Im Grunde scheint es unmöglich sich auf einer vollautomatisierten Terraforming-Station zu verstecken, doch Jona Holt kaschiert ihre Lebenszeichen und bleibt, trotz intensiver Bemühungen des Teams, spurlos verschwunden. Wie sie dieses Kunststück fertigbringt ist ihren Kollegen ein Rätsel, aber dass sie sich irgendwo auf der Franquin I verbirgt, steht unumstößlich fest, denn ihr Lieblingsmesser steckte bis zum Griff im Brustkorb des armen Doktor Mossil, als man dessen aufgequollenen Leichnam gestern Abend aus einem Abwasserbecken der Kläranlage zog. Gesäubert und sorgfältig vakuumiert wartet sein zerschundener Körper nun mit der unendlichen Geduld der Toten darauf, als erster Mensch der Geschichte im lebensfeindlichen Sand des Mars beerdigt zu werden.
*
„Schon irgendwie zynisch, oder?“ Jenetta Xing verharrt vor einer schwach beleuchteten Abzweigung und überprüft das Signal ihres Suchgerätes, konzentriert schiebt sie die Unterlippe nach vorn, atmet dabei laut durch die Nase. Das mattgraue Suchgerät vibriert nur schwach in ihrer Hand und liefert keine klare Anzeige. Die stämmige Technikerin runzelt unwillig die Stirn, sie fühlt sich unwohl in ihrer Haut, denn so tief dringt sie nur selten in den unterirdischen Bauch der Station vor. Sie entscheidet sich für den linken Gang und setzt sich zögerlich wieder in Bewegung. „Was meinst du?“, fragt Harry Yves ohne großes Interesse. Er unterdrückt ein Gähnen und trottet lustlos hinter Xings breitschultriger Silhouette her, seine Stimme klingt erschöpft und monoton. „Na, du weißt schon. Das alles eben!“, antwortet die leitende Technikerin, sie wirft ihrem jungen Kollegen einen bedeutungsschwangeren Seitenblick zu und hebt die Augenbrauen. „Er wollte doch unbedingt berühmt werden. Und jetzt ist er es.“ „Wer?“, fragt Harry Yves verwirrt. „Sag mal, merkst du noch was?“ Xings scharfer Tonfall lässt Harry zurückschrecken, er strauchelt über seine Füße und stolpert unbeholfen gegen die glatte Wand des Ganges. „Entschuldige, ich habe nicht aufgepasst“, murmelt er verlegen. „Das merke ich, danke für nichts“, blafft Jenetta Xing. Sie versetzt ihrem jungen Kollegen einen derben Knuff in die kurzen Rippen. „Aua!“ „Ich meine den alten Mossil. Er wollte doch immer eine bedeutende Entdeckung machen. Seinen Fußabdruck im Staub der Geschichte hinterlassen, wie er es nannte. Und jetzt ist er nicht nur der erste Mensch, der auf dem Mars beigesetzt wird, er ist auch der erste Mensch, der auf dem Mars ermordet wurde! Ein Platz in der Geschichte ist ihm sicher.“ „Achso, jaja.“, macht Harry Yves und reibt sich die schmerzenden Rippen. „Du Memme“, knurrt Jenetta Xing gereizt, sie überprüft erneut die Anzeige ihres Suchgerätes und setzt den Weg entschlossen fort. „Miststück“, flüstert Harry Yves leise, sodass seine Vorgesetzte es nicht hören kann. „Habt ihr die Abluftrohre in Sektion III überprüft?“ Die Stimme des Stationsleiters, Doe McGregor, schallt kalt aus der Kommunikationsanlage. „Selbstverständlich, Sir“, antwortet Harry Yves betont freundlich, doch heimlich rollt er mit den Augen. Er empfindet die Nachfragen des Stationsleiters als überflüssig, belässt es jedoch bei einer freundlichen Antwort. Die Stimmung auf der Station ist ohnehin schon angespannt genug. „Gut, ihr habt noch zwei Stunden, dann will ich eure Ärsche im Besprechungsraum sehen. Verstanden?“ „Verstanden, Sir“, antworten Xing und Yves wie aus einem Mund.
*
Im Koordinationszentrum der Franquin I zieht sich Doe McGregor entnervt das Headset vom kahlen Schädel. „Idioten“, knurrt er gereizt, sein Blick wandert ruhelos über die unzähligen Anzeigetafeln und flimmernden Bildschirme. „Wie bitte?“ Stationsarzt Thomas Sheldon hebt irritiert den Blick von seinem Bedienfeld, doch Doe McGregor wiegelt rasch ab. „Nicht du, dich meine ich nicht.“ „Die Leute tun ihr Bestes, Doe. Wir befinden uns in einer extremen Situation…“, beginnt Thomas Sheldon, doch wird er sogleich von McGregor unterbrochen, der abwehrend die Hände hebt. „Lass es, Tom. Ich weiß, in welcher Scheiße wir stecken, dazu brauche ich keine psychologische Analyse.“ „Das Team verlässt sich auf dich“, fährt Sheldon ungerührt fort. „Das Team kann mich mal!“, faucht McGregor aggressiv. Thomas Sheldons dunkelbraune Augen bohren sich in McGregors verkniffenes Gesicht, suchen dort nach Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs. „Sieh mich nicht so an. Es geht mir ausgezeichnet“, knurrt der Stationsleiter gereizt, Thomas Sheldon zuckt ergeben mit den Achseln. „Wie du meinst, Sir.“
*
„Es hat aufgehört zu bluten.“ Jona Holt zuckt zusammen und öffnet blinzelnd die Augen. Sie dreht sich aus der Seitenlage und stöhnt, als schneidender Schmerz ihren Unterleib durchfährt. „Nicht so hastig, Mädchen. Sonst wirst du wieder ohnmächtig.“ Jona nickt und wuchtet sich langsam in eine sitzende Position. Vorsichtig untersucht sie die notdürftig verklebte Wunde an ihrem Bauch. „Wie fühlst du dich?“ Jona neigt den Kopf, ein bescheidenes Lächeln umspielt ihre Lippen. „Es ging mir schon schlechter, Herr“, antwortet sie demütig. Ein plötzliches Geräusch lässt sie aufschrecken und ein weiterer Schmerzimpuls durchzuckt ihren mageren Körper. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie durch die Dunkelheit. Hält den Atem an. Horcht. „Keine Angst. Du bist hier sicher.“ „Ich habe keine Angst, Herr,“, versichert Jona mit zitternder Stimme und pochendem Herzen, „ich weiß, dass Du an meiner Seite bist.“ Das bedrohliche Geräusch verklingt und in der darauffolgenden Stille kann Jona nur ihr eigenes, gehetztes Atmen hören. Mühsam zwingt sie sich zu ruhigeren Atemzügen und langsam fließt die Panik aus ihr heraus. „Das hast du gut gemacht.“ „Danke, Herr.“
*
„Die ist durchgedreht. Ganz eindeutig. Übergeschnappt. Total übergeschnappt.“ Ynez Wozniak schaufelt enorme Portionen Kartoffelbrei zwischen ihre malmenden Kiefer und spuckt beim Sprechen kleine Breiklümpchen über den Tisch. Professor Myra Schwarz betrachtet die übergewichtige Ingenieurin mit unverhohlener Abscheu, lustlos stochert sie in ihrer Essensration und bleibt still. „Hysterischer Zusammenbruch. Marskoller. Irgendwas in der Art.“, plappert die Ingenieurin weiter, während sie mit großer Entschlossenheit über die synthetischen Fischstäbchen herfällt. „Ich wusste von Anfang an, dass mit der was nicht stimmt. Dieses ständige beten und dieser gestörte Blick. Wie sie es durch die psychologische Tauglichkeitsprüfung geschafft hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Hätte nie einen Fuß auf den Mars setzen dürfen, das Luder.“ „Dass du dabei noch essen kannst!“, entfährt es Professor Schwarz, angewidert schiebt sie den vollen Teller von sich. „Isst du das noch?“, entgegnet Ynez Wozniak ungerührt, ihr Blick fixiert gierig die erkaltende Nahrung. „Bitte. Bedien dich.“ Die Wissenschaftlerin versetzt dem Teller einen Stoß, Wozniak fängt ihn geschickt mit der linken Hand und bohrt sofort ihren Löffel in die Portion. „Reisfleisch. Lecker!“, entfährt es ihr mit Wonne, Myra Schwarz verdreht entnervt die Augen und erhebt sich vom Tisch. „Warte, du hast mir noch gar nichts von der Obduktion erzählt!“, bettelt die Ingenieurin mit vollem Mund, doch Professor Schwarz schüttelt stumm den Kopf. Mit gestrafften Schultern verlässt sie den kleinen Speisesaal. „Man kann sich auch anstellen!“, brüllt Ynez Wozniak hinter ihr her, Myra Schwarz knallt absichtlich mit der Tür.

II
„Bericht!“ Im taghell erleuchteten Besprechungsraum wandert Stationsleiter Doe McGregor ungeduldig vor dem ovalen Konferenztisch auf und ab, er hat die Arme hinter dem Rücken verschränkt, seine Halssehnen treten stark hervor, die Kiefermuskeln arbeiten. Die Techniker Xing und Yves sitzen wie Schulkinder nebeneinander und verfolgen nervös jeden seiner Schritte. „Es gelingt uns nicht, sie aufzuspüren, Sir.“ Jenetta Xing kneift die Augen zusammen und massiert energisch ihren schmerzenden Nasenrücken. „Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.“ „Marsboden“, korrigiert Harry Yves leise. „Halt’s Maul“, zischt Jenetta Xing gereizt. „Ruhe!“, fährt Doe McGregor zornig dazwischen. Er setzt sich an das Kopfende des Tisches und lässt die Handflächen wuchtig auf die Tischplatte knallen. „So kann das nicht weitergehen!“ „Haben Sie Rückmeldung von der Erde erhalten, Sir?“, fragt Jenetta Xing vorsichtig, sie ist jeden Moment darauf gefasst von McGregor angeschrien zu werden und lehnt sich vorsorglich im Sessel zurück. „Negativ“, knurrt der Stationsleiter nur, sein Gesicht drückt große Sorge aus, in seinen Augen glänzt eine Hilflosigkeit, die Jenetta Xing zutiefst beunruhigt. „Solange die Station weiterläuft, ist es der Firma scheißegal was hier passiert. Holt ist unser Problem, nicht deren. Wenn sie anfängt die Maschinen zu sabotieren, dann werden die reagieren. Menschen sind ersetzbar. Wir sind ersetzbar.“ McGregor merkt, dass er zu viel gesagt hat, er räuspert sich verlegen und überspielt den Moment mit aufgesetzter Wut. „Das muss, verdammtnochmal, ein Ende haben!“, brüllt er lauthals, Harry Yves schreckt entsetzt zurück, Jenetta Xing zuckt mit keiner Wimper. „Wir könnten den Seeker auf sie ansetzen, Sir.“, schlägt sie mit ruhiger Stimme vor. „Wir programmieren ihn auf Holts Wasserschwingung, statten ihn mit einem Explosionskörper aus und wenn er sie gefunden hat… Bumm.“ Die Technikerin untermalt das Geräusch mit einer entsprechenden Geste und gestattet sich ein kleines Lächeln. „Wir können keine Explosion riskieren, wenn wir nicht wissen, wo sie sich aufhält. Im schlimmsten Fall jagen wir die Station in die Luft.“, widerspricht Harry Yves, erschrocken von seiner eigenen Courage klappt er den Mund wieder zu und erbleicht. „Er hat recht.“ McGregor nickt und zieht ein langes Gesicht, seine Wut ist verraucht, zusammengesunken sitzt er am Kopfende des Tisches. „Dann eben keine Explosion. Ein Ortungssignal würde genügen. Dann schicken wir bewaffnete Workies los und machen sie fertig.“ Doe McGregor denkt mit gerunzelter Stirn über Xings Vorschlag nach. „Einen Versuch ist es wert.“
*
Stille. Dunkelheit. Kaum hörbare Atemzüge. Jona Holt kauert in der Finsternis ihres Verstecks und spürt dem bittersüßen Schmerz in ihrem Herzen nach. Ein bedrückendes, unaufhörliches Schaben hat ihren Herzschlag ersetzt, tiefschwarze Traurigkeit pulst kalt durch ihre Brust. Voller Scham denkt sie an ihre letzte Begegnung mit Eugene Mossil zurück. „Ich brauche deine Liebe nicht“, sagt er in ihren Gedanken wieder und immer wieder und ein Zittern und Schluchzen durchläuft Jonas Körper. Die Schnittwunde an ihrem Bauch beginnt zu toben, doch Jona kann sich nicht beruhigen. Die Bilder des blutigen Kampfes flackern gnadenlos durch ihren Kopf. Das Messer, das sie erst gegen sich selbst richten wollte. Der grelle Schmerz, als sie sich damit verletzt. Und mitten hinein in diesen Schmerz bricht Eugenes abfälliges Lachen. Sein gehässiges, schadenfrohes Lachen, dem sie in ihrer rasenden Wut ein brutales Ende bereitet. Sein erstauntes Gesicht, die Lippen zu einen stummen O geformt. Seine weit aufgerissen, meerblauen Augen. Das Messer, tief in seiner Brust. „Du musst loslassen, Jona.“ „Es tut mir leid, Herr“, wimmert Holt verzweifelt. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ „Aber ich bin so schwach!“ Jona fühlt ihre Augen überfließen, beschämt wischt sie die heißen Tränen aus ihrem Gesicht. „Entschuldige“, piepst sie kaum hörbar. „Es wird alles gut, Jona.“

III
„Kannst du in meinen Raum kommen?“
„Ich habe zu tun.“
„Es ist wichtig, Myra.“
„Ich bin beschäftigt. Hat das nicht Zeit?“
„Es geht um McGregor.“
Professor Schwarz hebt irritiert den Blick von den Kabeleingeweiden der Wassersuchdrohne, in voller Schutzkleidung kniet sie über dem dekonstruierten Gerät. Irritiert starrt sie auf das dunkle Quadrat der Kommunikationsanlage, das in die gegenüberliegende Wand eingelassen ist. „Ich überarbeite gerade den Seeker und kann die Arbeit nicht unterbrechen. Ich bin im Reinraum“, sagt die Wissenschaftlerin mit fester Stimme, dann wendet sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Inneren der Maschine zu. „Ich komme zu dir.“ Thomas Sheldon beendet den privaten Sprachkanal und macht sich unverzüglich auf den Weg. Als er Professor Schwarz wenige Minuten später, getrennt durch eine dünne Plexiglasscheibe, gegenübersteht, ringt er umständlich um die passenden Worte. „Ich…ich mache mir Sorgen, Myra.“, beginnt er verlegen, dann hält er inne und wischt nervös über einen winzigen Schmutzfleck am Rand der Scheibe. Im Reinraum zuckt Myra Schwarz desinteressiert mit den Schultern. „Wir alle machen uns Sorgen, Tom.“, antwortet sie gleichgültig. „Nein, so meine ich es nicht.“ Thomas Sheldon windet sich sichtlich, doch Myra Schwarz ist nicht gewillt, ihm das Gespräch zu erleichtern. Routiniert verbindet sie die Kabel im Bauch der Drohne und lässt Sheldon draußen schmoren. „Ich glaube, dass er dem Druck nicht gewachsen ist“, bricht es schließlich aus dem Stationsarzt heraus. „Aha“, macht Myra Schwarz hinter der Scheibe. „Er schreit noch mehr als sonst, ist extrem reizbar, zeigt paranoide Züge. Und seine Biowerte sind höchst bedenklich. Ich meine, wir sollten die Firma kontaktieren.“ „Wer ist wir, hast du einen Zwerg in deiner Tasche?“, ätzt Myra Schwarz und würdigt den Stationsarzt keines Blickes. „Du bist Zweite Stationsleiterin, Myra!“, entfährt es Thomas Sheldon verärgert. „Und du bist der verdammte Arzt dieser Station. Wenn McGregor die Nerven verliert, ist es an dir, die Notbremse zu ziehen.“, faucht die Wissenschaftlerin unter ihrem Gesichtsschutz hervor. „Es war ein Fehler mit dir zu sprechen.“ Sheldons Stimme ist plötzlich sehr kalt, brüsk dreht er sich von der Plexiglasscheibe fort. „Warte, Tom.“ Myra Schwarz seufz tief und wendet sich zum ersten Mal direkt an ihr Gegenüber. „Ich habe es nicht so gemeint. Entschuldige.“ Thomas Sheldon verharrt mit dem Rücken zur Scheibe, dann dreht er sich plötzlich zu Schwarz um und fixiert die Augen in ihrem blassen Gesicht. „Du wirst mir also helfen?“, fragt er und drückt dabei seine Hände so fest gegeneinander, dass die Fingerspitzen weiß hervortreten. „Ja“, antwortet Schwarz mit der Andeutung eines Nickens, dann beugt sie sich wieder zur Maschine.
*
Im Koordinationszentrum der Terraforming-Station starrt Doe McGregor ausdruckslos den Überwachungsmonitor an, über den er das Gespräch heimlich mitverfolgt hat. Reglos wie eine Statue hockt er im Kommandostuhl und nur das leise Knirschen seiner Zähne verrät seine aufgewühlten Gefühle. Lange sitzt er so da und glotzt auf den Monitor, während um ihn herum die unterschiedlichen Anzeigetafeln blinken und flimmern. Schließlich durchläuft ein Schaudern seinen Körper, ruckartig taucht er aus der Erstarrung auf. Wie in Trance betätigt er einige Regler an der Kommunikationssteuerung. „Wozniak, Xing, Yves. In den Besprechungsraum. Sofort.“, bellt er rau, dann beendet er die Verbindung. „Bastarde“, entfährt es ihm leise.

IV
„Hey, mein Kleiner. Hast du eine Ahnung, was der Boss von uns will?“ Ynez Wozniak rückt mit ihrem Stuhl aufdringlich nahe an den jungen Harry Yves heran. „Nicht die geringste, Ma’am“, antwortet Yves und rückt seinen Stuhl etwas weiter von ihrer feisten Gestalt fort. Jenetta Xing beobachtet das Schauspiel und zieht entnervt eine Augenbraue nach oben. „Könnt ihr mit dem Unfug aufhören?“, fragt sie schließlich, als Harry auf seinem Stuhl das Gleichgewicht verliert und plump zu Boden fällt. Ynez Wozniak lacht dreckig. „Ich kann seinen kleinen Alabasterbäckchen einfach nicht widerstehen.“, frotzelt sie mit breitem Grinsen. „Werd erwachsen“, blafft Xing ungerührt. Wozniak setzt zu einer gesalzenen Antwort an, doch Doe McGregor betritt den Besprechungsraum und sie verstummt abrupt. Drei Augenpaare richten sich erwartungsvoll auf den Stationsleiter, der schmallippig im Raum steht und die Arme vor der Brust verschränkt. „Die Situation hat sich geändert,“, beginnt er schließlich mit dunkler Stimme, „Holt arbeitet nicht alleine. Wir haben es mit einer Meuterei zu tun.“ „Meuterei, Sir?“, entfährt es Harry Yves erschrocken. „Sei still“, flüstert Jenetta Xing gereizt. McGregor mustert ihr breites Gesicht mit steinerner Miene. „Schwarz und Sheldon stecken mit ihr unter einer Decke.“, sagt er, dann lässt er sich schwerfällig in einen freien Stuhl sinken. Ynez Wozniak öffnet den Mund und schließt ihn wieder. „Sollen wir die Firma kontaktieren, Sir?“, fragt Xing schließlich in die angespannte Stille hinein. „Auf keinen Fall“, wehrt McGregor ab. „Das ist eine interne Angelegenheit.“ „Verstanden, Sir.“ Xing nickt und tauscht einen vielsagenden Blick mit Harry Yves, der nichts versteht und ratlos blinzelt. „Schwarz arbeitet am Seeker,“, überlegt Ynez Wozniak laut, „wenn sie die Mission sabotiert, finden wir das Miststück in tausend Jahren nicht.“ „Ich werde mich darum kümmern“, knurrt Jenetta Xing und es klingt, als habe sie bereits ein Grab für Myra Schwarz geschaufelt.
*
„Wach auf.“ Jona Holt fährt erschrocken aus unruhigem Schlummer und stöhnt leise auf. Die Wunde an ihrem Bauch pocht unangenehm, doch der schreckliche Durst, der sie schon vor dem Einschlafen quälte, ist bedeutend schlimmer als die Verletzung. „Steh auf.“ Mühsam stemmt sich Jona an einer Wand in die Höhe, steht schließlich, schwer atmend und verschwitzt in der Dunkelheit und zittert am ganzen Körper. „Geh los.“ Jona versucht zaghaft einen Schritt vorwärts, doch ihre Beine fühlen sich an, als bestünden sie aus Gummi und sie hat kein Gespür in den Füßen. „Ich kann nicht, Herr!“, keucht sie verzweifelt. „Du musst, Jona.“ „Warum, Herr? Warum kann ich nicht einfach liegenbleiben und endlich sterben?“ Jona möchte weinen, doch sie hat keine Tränen mehr. Erschöpft lehnt sie an der Wand ihres Verstecks und wimmert. „Bald ist es soweit, Jona. Aber vorher habe ich noch eine Aufgabe für dich.“ Jona schluckt trocken und nickt, sie nimmt all ihre Kraft zusammen und kämpft sich langsam vorwärts.

V
„Willst du sie wirklich umbringen?“ Harry Yves bemüht sich redlich mit der aufgebrachten Jenetta Xing Schritt zu halten, die, bis auf die Zähne bewaffnet, durch die Gänge der oberen Stationsebene stapft. „Wenn es sein muss“, antwortet Xing und beschleunigt das Tempo. „Jetzt renn’ doch nicht so!“, keucht Harry Yves, doch die Technikerin ignoriert sein Gejammer. Verzweifelt greift Yves nach ihrer breiten Schulter und hält seine Vorgesetzte krampfhaft fest. „Jenetta, bitte!“ Xing dreht sich zu dem jungen Techniker um und fixiert ihn mit eiskalten Augen. Harry Yves lässt erschrocken ihre Schulter los und tritt einen großen Schritt zurück. „Verzeihung, Ma’am“, haucht er kleinlaut. „Jetzt hör’ mal zu, Bürschchen. Das hier ist eine brandgefährliche Situation, wir stecken bis zum Hals in der Scheiße. Wir könnten ALLE draufgehen, kapierst du das nicht?“ „Aber…“ „Kein aber, Junge!“ Jenetta Xing dreht auf dem Absatz um und rast davon, Harry Yves steht kreidebleich im Gang und zittert unkontrolliert. Zum ersten Mal fühlt er sich unfassbar weit von zuhause entfernt und mutterseelenallein. Tausend unsichtbare Augen scheinen ihn aus allen Winkeln zu beobachten, ein klammes Band der Angst schlingt sich um sein wild galoppierendes Herz. „Warte auf mich!“, brüllt er hysterisch, dann stürmt er mit rudernden Armen hinter Jenetta Xing her.
*
„Hallo Thomas.“
Thomas Sheldon fährt erschrocken vom Mikroskop zurück, er hat nicht gehört, dass McGregor die Krankenstation betreten hat. Der Stationsleiter steht direkt hinter Sheldon und lächelt unergründlich. „Was ist los, Doe?“, fragt Doktor Sheldon verunsichert, McGregor wertet das Zittern in seiner Stimme als letzten Beweis für seine Schuld. „Das habt ihr euch schön ausgedacht, nicht wahr?“, fragt er grinsend, „Erst das Verschwinden von Holt, dann der Mord an Mossil und schließlich, zum krönenden Abschluss – mein Abschuss. Habt euch prächtig amüsiert, nicht wahr?“ „Was faselst du da?“, nervös versucht Thomas Sheldon Abstand zwischen sich und dem feixenden Stationsleiter zu schaffen, doch der folgt ihm mit einem Brennen im Blick, das so heiß ist, wie der Zorn Gottes. „Du elender Wichser“, knurrt McGregor, bevor er sich brutal auf den entsetzten Stationsarzt stürzt.
*
Ynez Wozniak hat ausgesprochen schlechte Laune. Grummelnd schleppt sie ihre sperrige Einsatzausrüstung zur Andockrampe der Franquin I und hadert mit sich und McGregors Befehlen. Sie soll den experimentellen Sicherheitsschild aktivieren, der von Doktor Mossil eigens für die Station entwickelt wurde, um Raumschiffe an Start oder Landung zu hindern. Es handelt sich um eine diffizile Aufgabe, die nur im Außeneinsatz zu bewältigen ist. „Warum immer ich“, grollt Wozniak beleidigt. Viel zu spät kommt ihr in den Sinn ein Workie zu benutzen, um die schwere Ausrüstung zu tragen. „Verdammte Scheiße.“ Die Ingenieurin flucht lautstark über ihre eigene Dummheit, grunzend lässt sie die Panzerplatten zu Boden fallen. „Du da, komm her“, bellt sie aggressiv, eine Arbeitsdrohne verlässt ihren Platz und gleitet zielstrebig auf sie zu. „Heb das auf“, befielt Wozniak barsch. Die Drohne hebt die Ausrüstung mühelos vom Boden und folgt Wozniak, die nun mit deutlich besserer Laune zur Andockrampe stolziert.
*
„Bitte nicht, Herr.“ Jona Holt steht bebend vor einem Schrank voller Explosionskörper, den sie soeben mit einem Brecheisen aufgestemmt hat. Die kleinen, zerstörerischen Kapseln ruhen unscheinbar in ihren Kokons, Jona schaut mit weit aufgerissenen Augen auf ihre glänzenden Hüllen, ein unkontrollierbares Zucken läuft über ihr hageres Gesicht. „Es gibt keinen anderen Weg, Jona.“ „Ich weiß, Herr“, haucht Jona, sie greift zu einer halbvollen Wasserflasche, die sie vor einer halben Stunde aus dem menschenleeren Speisesaal gestohlen hat und trinkt einen vorsichtigen Schluck. Langsam verschließt sie die Öffnung der Flasche, um Zeit zu gewinnen. Dann steht sie still vor dem aufgebrochenen Schrank und wiegt ihren Oberkörper langsam vor und zurück. Ihre Gedanken treiben davon, die Sekunden zerrinnen zu Minuten. „Die Zeit wird knapp, Jona.“ Holt fährt erschrocken aus ihrer mentalen Abwesenheit und stopft hektisch Sprengstoffkapseln in die Taschen ihrer Jacke.

VI
Im Reinraum der Terraforming-Station stößt Myra Schwarz einen erlösten Seufzer zur keimfreien Zimmerdecke empor. Sie hat die komplizierte Arbeit am Seeker erfolgreich beendet, die Wassersuchdrohne ist nun auf Jona Holts Wasserschwingung programmiert und liegt einsatzbereit zu Füßen der Wissenschaftlerin. Myra Schwarz denkt gerade darüber nach, sich zur Belohnung eine ausgedehnte Schalldusche zu gönnen, als Jenetta Xing wie ein Wirbelsturm zur Tür hereinpoltert. „Sind Sie wahnsinnig? Das ist ein Reinraum!“, keift Myra Schwarz erbost, bevor sie erkennt, dass eine Pistole auf ihren Kopf gerichtet ist. „Das ist mir sowas von egal“, schreit Jenetta Xing und feuert. Der Schuss verfehlt Professor Schwarz nur um Haaresbreite, kreischend sucht diese in der sterilen Ordnung des Reinraums nach Deckung. Ein Lasermesser findet wie von selbst den Weg in ihre Hand, Myra Schwarz fasst im Bruchteil einer Sekunde einen Entschluss und stürzt sich brüllend auf ihre Gegnerin. Jenetta Xing zielt und schießt erneut, tödlich getroffen taumelt Myra Schwarz in ihre Arme. „Verdammt“, keucht Jenetta Xing, als das Lasermesser tief durch ihre Eingeweide schneidet, dann bricht sie stöhnend über Myra Schwarz zusammen. „Was ist passiert?“ Harry Yves trampelt unbeholfen in die blutige Szenerie, er starrt schaudernd von Schwarz Leiche zu Xings fürchterlicher Verletzung und würgt trocken. „Kotz mir hier ja nicht alles voll.“, knurrt Xing gereizt, Blut quillt dunkelrot aus ihrem Mund, drohend richtet sie die Waffe auf den jungen Techniker. Harry Yves quiekt entsetzt und stürmt aus dem Reinraum.
*
„Ruhe in Frieden, alter Freund.“ Doe McGregor hockt zusammengesunken neben dem erschlagenen Leichnam des Stationsarztes, die rasende Wut ist aus seinen Muskeln gewichen und bleierne Müdigkeit ist an ihre Stelle getreten. Mit leeren Augen blickt er auf den blutverschmierten Körper, der seltsam verdreht und bis zur Unkenntlichkeit entstellt auf dem kalten Fliesenboden der Krankenstation liegt. Ein herzergreifendes Schluchzen bricht aus McGregors Kehle, dann beginnt er plötzlich übernervös zu lachen. „Du machst mir kein schlechtes Gewissen mehr!“, kichert er unbeherrscht, während dicke Tränen aus seinen Augen schießen.
*

VII
„Das ist nicht passiert, das ist alles nicht passiert!“ Harry Yves taumelt benommen zum Kommandozentrum der Station, in seinem Kopf herrscht ein heilloses Durcheinander, panisch kennt er nur noch ein einziges Ziel. Harry Yves will nach Hause telefonieren. Atemlos stürzt er durch die Gänge der Station, die ihm plötzlich klaustrophobisch eng erscheinen. Erst als er die stählerne Tür zum Kommandozentrum öffnet, fühlt er einen Hauch von Sicherheit. Hastig macht er sich an der Hauptschalttafel zu schaffen, mit schwitzigen Fingern stellt er eine Schnellverbindung zur Erde her. „Franquin I ruft Home-Station, hören Sie mich?“ Harry Yves wartet quälende Sekunden auf Antwort. „Hier Home-Station. Identifizieren Sie sich.“, quäkt es aus der Anlage. Eine Woge der Erleichterung rollt über den jungen Techniker hinweg, befreit sinkt er im bequemen Kommandostuhl zurück und atmet durch. „Bitte, Herr. Ich kann das nicht.“ Harry Yves erstarrt zur Salzsäule, reglos sitzt er vor der Schalttafel und wagt es nicht, sich umzudrehen. In seinem Rücken steht Jona Holt, zitternd hält sie das Brecheisen über Harry Yves lockigen Hinterkopf. „Es gibt keine andere Möglichkeit.“ „Er ist doch noch ein Kind!“ „Du hast keine andere Wahl, Jona.“ Wie in Zeitlupe dreht Yves sich zu Jona Holt um. Sieht, wie ihr zuckender Mund bettelnde Worte spricht. Hört, wie sich ihre Stimme verändert, wenn sie antwortet. „Oh Gott“, wispert Harry Yves bestürzt, da kracht das Brecheisen wuchtig auf seinen Schädel.
*
„Oh Gott“, entfährt es Ynez Wozniak, als ihre Füße harten Marsboden berühren. Die feiste Ingenieurin verabscheut Außeneinsätze zutiefst und ihre Abneigung wächst mit jedem Schritt, der sie weiter von der Sicherheit der Andockrampe entfernt. Schnaufend arbeitet sich die Ingenieurin in der dünnen Atmosphäre voran, hat den Abschluss ihres Auftrages fest in Gedanken, um sich von einer lebensfeindlichen Realität abzulenken, von der sie nur ihr gepanzerter Einsatzanzug schütz, der sich jetzt, in der absoluten Einsamkeit des Mars, plötzlich anfühlt wie eine dünne, verletzliche Seidenhaut.
*
Im Kommandozentrum kniet Jona Holt weinend neben der Leiche des jungen Technikers, die zusammengesunken im Kommandostuhl hängt. Eine grellrote Fontäne sprudelt munter aus Harry Yves Schädel, in seinen Augen liegt noch immer ein Ausdruck tiefster Verwirrung. Mit bebenden Schultern und gesenktem Kopf betet Jona zu Gott: „…und erlöse uns von dem Bösen. Amen.“ „Du hast richtig gehandelt, Jona.“ Jona Holt schluchzt laut, das Brecheisen gleitet endlich aus ihrer verkrampften Hand und fällt klirrend zu Boden. „Es ist bald vorbei.“ „Danke, Herr.“ Jona gibt sich einen Ruck, sie steht auf und zieht Harry Yves Körper vorsichtig aus dem Kommandostuhl, dann nimmt sie selbst Platz, wobei sie darauf achtet, sich nicht in die Blutflecken zu setzten. „Gib den Code ein.“ Jona tippt eine lange Zahlenkolonne in das Bedienfeld der Hauptschaltanlage. Der Computer der Station reagiert und erkennt ihren Code an. Jona starrt gebannt auf das Bedienfeld, dann läuft ein erneuter Ruck durch ihren Körper und sie gibt konzentriert Befehle ein, um das atomare Kernspaltungsprogramm der Station zu überlasten. Die Anzeigetafeln im Kommandozentrum beginnen hektisch zu blinken, als langsam eine Kettenreaktion in Gang kommt, die nicht mehr zu stoppen ist.
*
„Das hätten wir“, murmelt Ynez Wozniak, erleichtert tritt sie vom externen Bedienfeld zurück, in fünfzehn Minuten wird Doktor Mossils experimenteller Schutzschild automatisch aktiviert. Zeit genug für Wozniak, um wohlbehalten zurück zur Andockrampe zu gelangen. Zufrieden macht sie sich auf den Weg. Ein plötzliches Flimmern des Visiers lässt sie irritiert innehalten. Jona Holts ausgemergeltes Gesicht taucht unerwartet auf dem eingebauten Bildschirm auf. „Was zur Hölle?“, entfährt es Wozniak, sie bleibt wie angewurzelt stehen und starrt fassungslos auf den Bildschirm. „Wir haben gedacht, wir seien die Krone der Schöpfung und doch sind wir nur Staub, der von Gottes Atem durch die Unendlichkeit getrieben wird. Wir haben gedacht, es sei nicht genug uns die Erde untertan zu machen, doch unsere Hoffart wird unser Untergang sein. Ein Terraforming des Mars ist eine Schändung des Werk Gottes!“ Ynez Wozniak stiert mit offenem Mund den Bildschirm an. „Ich rufe die wahren Gläubigen auf, bitte, überdenkt eure Handlungsweise! Geht in euch, Brüder und Schwestern, geht in euch und bereut euren Hochmut. Möge Gott euch beschützen, so wie er mich beschützt hat.“ „Verdammt!“, schreit Wozniak, endlich löst sie sich aus der Erstarrung und rennt los.
*
„Was bleibt noch zu tun, Herr?“ Jona Holt hat die Universalverbindung zur Erde beendet, nun lehnt sie erschöpft im Kommandostuhl, ihre Augenlider flattern, ein dünner Schweißfilm benetzt ihr kalkweißes Gesicht. „Ein letzter Funke noch, mein Kind.“ Jona lächelt, mit feierlicher Miene zieht sie einen Explosionskörper aus ihrer Jackentasche. „Du elendes Miststück!“ Doe McGregor stürmt brüllend ins Kommandozentrum, Jona Holt dreht sich nicht einmal zu ihm um. Entschlossen löst sie den Sicherungsstift des Explosionskörpers und beginnt zu beten. „Nein, nein, nein!“, kreischt McGregor, schlitternd kommt er neben dem Kommandostuhl zu Stehen, mit beiden Fäusten drischt er wahllos auf Jona ein, bis er von einer heftigen Explosion in Stücke gerissen wird.
*
„Nein, nein, nein!“ Ynez Wozniak rennt fluchend auf die Andockrampe zu, als die Explosion im Kommandozentrum die Terraforming-Station erschüttert. „Das darf nicht wahr sein!“, brüllt Wozniak und beschleunigt ihren Lauf. Keuchend stürzt sie in die Andockrampe und drückt den Schalter für die Dekompression. Das Außenschott schließt automatisch, zischend fließt Luft in den hell erleuchteten Raum. Wozniak wartet nicht auf das Sicherheitssignal, resolut reißt sie sich den Einsatzanzug vom Leib und stürmt ins Innere der Station, kaum dass sich die internen Schotts geöffnet haben. Laut tönende Warnsirenen empfangen sie, die Ingenieurin schlägt entsetzt ihre Hände vor die Ohren. „Was passiert hier?“, schreit sie in das tosende Chaos hinein. Voller Angst stürmt sie zu einer Anzeigetafel, die in eine nahe gelegene Wand eingelassen ist. Wozniak fragt den Zustand der Station ab und erbleicht. „Scheiße“, sagt sie und ein Schatten der Erkenntnis huscht über ihr fleischiges Gesicht, dann zerfetzt eine gewaltige Atomexplosion die Terraforming-Station und reißt einen tiefen Krater in das Antlitz des Mars.

Im Garten der Götter wendet sich der jugendliche Elefantengott sichtlich verblüfft an seinen grinsenden Gefährten. „Ich muss schon sagen, ich bin beeindruckt“, gesteht er und nippt geziert an seinem Getränk. Ein sanfter Windhauch flüstert in den Zweigen der Robinie und lässt spielerisch einige Sonnenstrahlen durch die Blätter tanzen. „Warte ab, das Beste kommt noch“, sagt der Elementargott augenzwinkernd.
„Weißt du mehr, als ich weiß?“
„Sagen wir einfach, ich habe da so ein Gefühl.“
„Möchtest du dieses Gefühl ein wenig konkretisieren oder lässt du mich weiter zappeln?“, quengelt der Elefantengott ungeduldig.
„Ich sage nur: Religionskrieg.“ Der Elementargott hebt sein Glas und prostet den treibenden Wolken im strahlend blauen Himmel zu.
„Wow“, haucht der Elefantengott ehrfürchtig und seine Augen glänzen.

© sybille lengauer

The Frozen Ones

Dem Anfang einer jeden Geschichte liegt ein gewisser Zauber inne, der sich dem schreibenden, wie auch dem lesenden Individuum auf unterschiedliche Weise offenbart. Lässt sich der Lesende ab dem Genuss des ersten Satzes auf ein unbekanntes Abenteuer ein, oder läuft er Gefahr, sich über die nächsten Seiten zu Tode zu langweilen? Birgt die Geschichte den Impuls für neue Ideen, oder bietet sie Stoff für apokalyptische Alpträume? Manchmal ahnt man schon nach dem ersten Satz, worauf man sich bei der betreffenden Geschichte einlassen wird, zuweilen ist man nach dem ersten Kapitel noch nicht klüger geworden. Für den Schreibenden hingegen ist es das blanke Blatt Papier, welches magische Möglichkeiten in sich birgt. Womit soll man die Leere füllen, die sich bis zur Unendlichkeit hin auszudehnen scheint? Wie ist eine Geschichte zu beginnen, die sich vielleicht erst nebulös vor dem geistigen Auge zu entfalten beginnt? Legt man den Fokus auf ein kleines Detail, einen kurzen Satz, eine spezielle Geste oder beginnt man mit einem furiosen Eröffnungstanz, der mitten hineinführt, in die Geschichte?

Beginnen wir mit einem langgezogenen Warteraum, an dessen, mit vergilbter Raufasertapete tapezierten Wänden hunderte Fotos, Poster, Urkunden und Postkarten hängen. Die blendend grelle Neonbeleuchtung und der kotzgrüne PVC-Boden verleihen dem Warteraum jene depressive Grundstimmung, die rational denkende Menschen dazu verleiten kann, Bilder von sentimental blickenden Kätzchen oder drollig in Pose gesetzten Kleinkindern aufzuhängen und so entsteht, im Lauf der trübseligen Jahre, eine spürbar toxische Atmosphäre aus Traurigkeit und Kitsch, die selbst abgehärtete Büropflanzen in den Suizid treiben kann. Nahe der dunkelbraun lackierten Eingangstüre befindet sich die Karikatur einer Rezeption, die unter Aktenbergen und verwelkten Topfpflanzen zu verschwinden droht. Irgendwo in diesem chaotischen Zettelwald klingelt ein Telefon, doch niemand ist da, sich darum zu kümmern.
Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun auf jene Gestalten, die auf bequem aussehenden Sesseln sitzen und den Anschein erwecken, als würden sie sich schon eine geraume Weile im Warteraum befinden und, nun, warten. So unterschiedlich die drei Personen auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild sein mögen, ihr Ausdruck ist nach den gemeinsamen Stunden im Warteraum zu einer traurigen Einheit verschmolzen. Sie alle machen lange Gesichter und starren mit diesem speziellen Blick vor sich hin, der sich in die Augen all derer stiehlt, die im bittersüßen Honigtopf der Hoffnungslosigkeit kleben geblieben sind.
Werfen wir einen genaueren Blick auf sie. Ein älterer Herr, dessen faltenumkränzte Stirnglatze das lieblose Neonlicht spiegelt, sitzt eingekeilt zwischen einem jungen, unscheinbar wirkenden Mädchen mit Brille und einer dicklichen Matrone, die manchmal missbilligend schnaubt, sich ansonsten aber mit ihren Reaktionen ebenso zurückhält, wie die anderen. In regelmässigen Abständen streckt der alte Herr das linke oder rechte Bein vor, um sich ein wenig Linderung in seiner schmerzenden Hüfte zu verschaffen. Ab und an leckt das junge Mädchen geistesabwesend über eine aufgesprungene Stelle an seiner Unterlippe. Alle sitzen und starren, niemand interessiert sich für das verdammte Telefon.
Zeit vergeht. Und wie, sie anders zu beschreiben, als zähflüssig und träge dahinfliessend, in diesem bedrückend öden Warteraum, der jegliche Vitalität aus einem unschuldigen Menschen zu saugen vermag, wie ein grausamer Vampir, der hinterlistig im Schatten lauert und dessen staubgrauer Umhang nach verlorenen Akten und herzloser Verwaltung müffelt. Sekunden fallen wie schwere Regentropfen aus einer laut tickenden Wanduhr, Minuten verschwimmen zu farblosen Pfützen auf dem hässlichen PVC-Boden und versickern schließlich im riesigen Ozean der Ereignislosigkeit. Und immer noch, ist nichts passiert. Und was soll auch schon passieren, in diesem trostlosen Warteraum? Die drei Gestalten sitzen und warten, die Wanduhr wirft ihnen gnadenlos Sekunden vor die Füße, manchmal klingelt das verborgene Telefon. Um diese schreckliche Eintönigkeit zu zerreissen, müsste schon jemand die Stimme erheben…

„Wie lange soll man hier eigentlich noch warten?“, blafft die mollige Matrone in das erdrückende Schweigen hinein. „Das habe ich mich auch gefragt!“, entfährt es dem älteren Herrn erleichtert, er rutscht unwillkürlich auf seinem Sessel nach vorn, um sich seiner Gesprächspartnerin zuzuwenden. „Es ist eine Unverschämtheit!“, echauffiert sich diese, „Ich bin schon seit mindestens fünf Stunden tot und sitze immer noch hier!“ Sie produziert ein hellblaues Stofftaschentuch aus ihrer voluminösen Handtasche, um sich lautstark die Nase zu putzen. „Eine Ungeheuerlichkeit.“, versichert der ältere Herr, eifrig nickend. „Man hat schließlich Termine.“, setzt er gewichtig hinzu. Die Matrone antwortet mit einem trompetenden Schnäuzen. „Das ist unüblich. Sehr unüblich!“, stößt sie mit zorniger Bestimmtheit hervor, während sie das zerknitterte Stofftaschentuch wieder in ihrer Handtasche verschwinden lässt. „Normalerweise wartet man nicht so lange.“ Der alte Herr nickt erneut eifrig. Leise ächzend wendet er sich nach dem unscheinbaren Mädchen um, das still zu seiner Linken sitzt. „Ist das Ihre erste Re-Inkarnation, wertes Fräulein?“, fragt er in gönnerhaftem Ton, doch das Mädchen schüttelt nur abweisend den Kopf, es scheint nicht an einem Gespräch interessiert zu sein. „Ach so, aha.“, macht der ältere Herr etwas enttäuscht. „Es ist eine Unverschämtheit!“, wiederholt die Matrone entrüstet. Dies ist ein guter Augenblick, um Bewegung in sich und die leidige Angelegenheit zu bringen und so erhebt sie sich mit entschlossenem Grunzen aus ihrem Sessel. Breitbeinig stapft sie zur verlassenen Rezeption, um dort ungeduldig das zitternde Doppelkinn nach vorn zu recken und missbilligend auf die Berge aus Akten und losem Papier zu starren. Auch der alte Herr kommt endlich auf die Beine, entschlossen strafft er die schmalen Schultern. Seine kerzengerade Haltung kann beinahe darüber hinwegtäuschen, wie schmal seine Handgelenke, wie dünn seine knochigen Beine sind. „Nun denn!“, stößt er undefiniert hervor. Er fährt erschrocken zusammen, als in diesem Moment das Telefon erneut klingelt. „Wo ist es nur, wo ist es nur?“, stößt die feiste Matrone aufgeregt hervor, während sie hohe Aktenstapel auf der Suche nach dem Telefon durchwühlt. Im Nu ist der Boden vor der Rezeption mit losen Blättern übersäht, dutzende Bögen eng bedruckten Papiers fallen wild durcheinander. „Aha!“, triumphierend zieht die Matrone ein altes Wählscheibentelefon aus dem Chaos, in einer fließenden Bewegung hebt sie den Hörer ab und blafft ein herrisches: „Ja, wer ist da?“ durch die Leitung. Gespannt presst sie den Hörer ans Ohr, doch ihre Gesichtsfarbe wechselt rasch von aufgeregtem dunkelrot zu enttäuschtem blassrosa. „Einfach aufgelegt.“, stößt sie resigniert hervor. „Was kann das bedeuten?“, fragt der ältere Herr, der sich bei all der Aufregung lieber wieder hingesetzt hat. „Wir kommen nicht weiter.“, flüstert eine leise Mädchenstimme neben ihm. „Wie bitte?“, fragt der alte Herr, obwohl er nicht sicher ist ob er verstehen möchte, was soeben zu ihm gesagt wurde. „Wir kommen nicht weiter.“, wiederholt das junge Mädchen nun lauter, zum ersten Mal blickt es dem alten Mann direkt in die Augen und eine Woge grenzenloser Traurigkeit schwemmt seine aufgescheuchten Gedanken fort. Er sinkt im Sessel zurück, wird ganz still und beginnt leicht zu zittern. „Was heißt das, wir kommen nicht weiter?“, schreit die Matrone, sie wirft das Telefon achtlos zurück in das Zettelchaos und schießt wie eine zornige Tarantel hinter der zerwühlten Rezeption hervor. „Was weißt du, was ich nicht weiß?“, zischt sie aggressiv. Das Mädchen wendet den Blick vom alten Herrn zur aufgebrachten Furie. „Du weißt es genauso wie ich. Du willst dich nur nicht erinnern.“ „Ich? Ich?! Was weiß ich?!“, japst die Matrone mit schriller Stimme, ihre Augen sind weit aufgerissen, an ihrem Hals tritt eine dicke Ader hervor. „Die Kryostase.“, haucht der alte Herr, er ist kreideweiß geworden und in seinen Augen sammeln sich Tränen. Das Mädchen nickt und schweigt. „Kryostase? Welche Kryostase?“ Nun ist es an der Matrone, zitternd in einen der Sessel zu sinken. Schwer atmend sucht sie das zerknitterte Stofftaschentuch aus ihrer enormen Handtasche, dann hält sie jäh in der Bewegung inne und starrt mit erinnerungsfernem Blick vor sich hin. „ Ich habe mich einfrieren lassen!“, erinnert sie sich fassungslos. Ein Schauer der Erkenntnis läuft eiskalt über ihren fleischigen Rücken. „Wir sind nicht richtig tot. Wir können nicht weiter.“, flüstert der alte Herr in ihren entsetzten Gedankengang hinein und das Mädchen nickt wieder stumm. „Wie konnte ich das nur tun?“, fragt er mit Bestürzung in der Stimme. „Du konntest dich nicht an das Danach erinnern. Du hattest Angst vor dem Sterben.“, antwortet das Mädchen ruhig. „Warum kannst du dich dann erinnern?“, hakt die Matrone geistesgegenwärtig nach und ihre Augen werden misstrauisch schmal. Sie umklammert ihre Handtasche wie einen schützenden Schild, um sich gegen die bittere Realität zu wappnen und schiebt das Doppelkinn drohend vor. „Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil meine Eltern mich zu der Behandlung gezwungen haben. Aber das ist nur eine Vermutung.“, antwortet das Mädchen ehrlich. „Und was passiert jetzt?“ Es ist der alte Herr, der diese, alles entscheidende Frage stellt. Bleich und in sich zusammengesunken sitzt er unter einer großformatigen Postkarte, die einen orangen Frosch abbildet, der sich tapfer an ein geflochtenes Seil klammert. „Nicht hängen lassen.“ steht in bunten Blockbuchstaben über seinen glubschenden Froschaugen und es gleicht einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dass der alte Mann diesen schweren Moment der Ratlosigkeit unter einer solchen Postkarte erleiden muss. „Jetzt warten wir.“, antwortet das Mädchen und lehnt sich demonstrativ in seinem Sessel zurück. „Eines Tages wird mein Körper entweder erfolgreich wiederbelebt, dann kann ich zurück zur Erde. Oder er stirbt endgültig, dann kann ich weiter in die nächste Emanation. Bis dahin sitze ich hier fest, in diesem abscheulichen Warteraum.“ „Großer Gott!“, entfährt es der dicklichen Matrone, und der alte Herr stöhnt gequält auf. „Was hat Gott damit zu tun?“, fragt das Mädchen schnippisch, es verschränkt die Arme vor seiner schmalen Brust und starrt zornig an die gegenüberliegende Wand. Der Matrone entfährt ein missbilligendes Schnauben, doch es will ihr kein passender Konter einfallen und so verfällt auch sie in mürrisches Schweigen. Eine, alles erdrückende Stille breitet sich zwischen den Wartenden aus, nur zerrissen durch das gnadenlose Ticken der Wanduhr. Und so endet diese Geschichte schließlich, genau da, wo sie ihren Anfang genommen hat. Im trostlosen Warteraum der verlorenen Seelen.

© sybille lengauer

Dezember-Kain
(Snippet)

Es war einer jener eintönig grauen Dezembertage, die in ihrer feuchtkalten Gleichmäßigkeit den vorangegangenen Tagen des Novembers täuschend ähneln und sich nahtlos aneinanderreihen, bis sie zu dröger Beliebigkeit verkommen. Von frostkaltem Tau bedeckt lagen die Felder, still und verlassen, unter einem dicht verhangenen Winterhimmel. Ihre rostbraun verfärbten Blätter lautlos von sich werfend, reckte sich eine einsame Stieleiche über die endlosen Reihen von verblühtem Ölrettich hinweg und nur der hallende Flügelschlag einer auffliegenden Ringeltaube jagte für einen kurzen Moment ein Gefühl von Lebendigkeit über die glanzlose Szenerie. Nichts hätte das gelangweilte Auge des Betrachters dazu veranlasst, in dieser tristen Ackerlandschaft den Schauplatz einer Bluttat zu vermuten und doch lag er da, am Feldrand, zwischen umgeknickten Halmen und aufgewühltem Laub. Der Sterbende. Mein Bruder. Lag da und dampfte in der Kälte des Morgens, während das Leben in warmen Strömen aus ihm pulste und in der schwarzen Erde verrann, in die sich seine Hände gruben. Aus weit aufgerissenen Augen versuchte er meinen Blick einzufangen und eine Antwort auf die Frage zu erzwingen, die er zu stellen nicht mehr in der Lage war. Sein anklagendes „Warum?“ hing unausgesprochen zwischen uns und ich verweigerte ihm die Gnade einer Antwort mit stummer Entschlossenheit. Breitbeinig stand ich über ihm, die Arme überkreuzt und die Seele fest verschlossen, erwartete ich seinen letzten Atemzug, doch er machte es mir nicht leicht, hatte es mir niemals leicht gemacht und so wartete ich lange, bis er einen letzten, angestrengten Seufzer tat, der sich im schmutzigen Weiß des Himmels auflöste und verlor. Ich sah jener kleinen Atemwolke hinterher und gedachte der fragilen Flüchtigkeit der Dinge, als plötzlich hoch über meinem Kopf der jammernde Ruf eines Raben erscholl, der in meinen Ohren klang wie der vorwurfsvolle Schrei Gottes. Ich zuckte zusammen und schaute angestrengt nach oben, doch gab es dort nichts anderes zu sehen, als niederdrückende Wolkenberge, die sich grau in grau übereinander schoben und nichts zu hören, als mein eigenes, schnaufendes Atmen. Die Stille kehrte zurück auf die verlassenen Felder und mit ihr kroch feuchte Einsamkeit in meine klammen Glieder. Ich warf einen letzten Blick auf meinen Bruder, der erschlagen am Rand des Feldes lag, blutüberströmt und reglos auf der feuchten, kalten Erde. Dann drehte ich mich um und ging den gewundenen Feldweg zurück nach Hause. Der Rabe war fortgeflogen. Gott schwieg.

© sybille lengauer

P1030299

Die Valentinskarte
(Das große Seufzen)

„Das ist ein klarer Fall von Stalking, Luise!“
„Ach, Liebling.“
„Hör mir auf mit deinem ‚Ach, Liebling‘. Er war vor unserer Haustür! Verstehst du nicht, was das bedeutet?“
„Es bedeutet gar nichts. Er ist erst acht, Liebling.“
„Er ist ein verdammter Labormutant, es interessiert mich nicht, wie alt er ist.“
„Frederick!“
„Ach, wenn es doch wahr ist.“
Missmutig lässt Fred ein rosarotes Kuvert auf den Wohnzimmertisch fallen. Eine bunt glitzernde Karte rutscht ein kleines Stück heraus, zornig versetzt er ihr einen Stoß mit dem Zeigefinger. Unter dem tadelnden Blick seiner Ehefrau sinkt er in seinen Lieblingssessel, die Hitze der Auseinandersetzung lässt ihn kurzatmig schnaufen. Fred wiegt ein paar Kilo zuviel, doch es mangelt ihm an jener vielgerühmten Gutmütigkeit, die man gemeinhin rundlichen, rotbackigen Weihnachtsmann-Gestalten wie der seinen unterstellen mag. Frederick Siebert ist unter den geröteten Wangen und dem wallenden Rauschebart ein miesepetriger Geselle. „Ich wünsche nicht, dass er sich vor unserem Haus herumtreibt.“ knurrt er gereizt und verschränkt demonstrativ die massigen Arme vor der Brust. „Das kannst du ihm nicht verbieten, Liebling.“ sagt Luise und es klingt wie ein langes Seufzen. Auch wenn sich unter ihrer mausgrauen Erscheinung ein weiches Herz verbirgt, Luises Wortschatz ist schnell erschöpft. „Und wie ich das kann. Du wirst schon sehen.“ schnaubt Fred, dann wendet er sich beleidigt dem Fernseher zu.
„Ach, Liebling.“ seufzt Luise Siebert.

*

„Karsten, kommst du bitte mal her?“
„Gleich, Mama!“
„Sofort, Karsten!“
„Ja-ha, Mama.“
In einer typisch deutschen Einbauküche, die in ihrer monotonen Einfallslosigkeit jedem beliebigen Billigkatalog entsprungen sein könnte, wartet Karstens Mutter am überladenen Küchentisch. Ärgerlich beobachtet sie einige Fruchtfliegen, die in chaotischen Bahnen über runzligen Äpfeln im Obstkorb kreisen. Da ein herbeizitierendes „Sofort“ von Kindern und Erwachsenen unterschiedlich aufgefasst werden kann, wartet Rita Schwalmbach fast zwei Minuten, bis Karstens dunkler Wuschelkopf endlich in der Küchentür erscheint. „Was’nlos, Mama?“ fragt der Junge mit dem freundlichen Allerweltsgesicht. „Setz dich, Karsten.“ fordert Frau Schwalmbach in bemüht neutralem Tonfall und deutet auf den freien Stuhl neben sich. „Bin ich in Schmierigkeiten, Mama?“ Karsten weiß um die belustigende Wirkung seines Sprachfehlers. Der Junge beobachtet das Gesicht seiner Mutter genau und findet ein Lächeln, das sie nicht unterdrücken kann. Erleichtert setzt er sich zu ihr an den Tisch. „Deine Lehrerin hat angerufen, sie bittet mich zu einem Gespräch in die Schule. Hast du mir etwas zu sagen, Karsten?“ Die Mutter beobachtet das Gesicht ihres Sohnes genau und findet Schuldbewusstsein, das er nicht verbergen kann. Rita Schwalmbach lehnt sich aufmerksam nach vorn. Karsten rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her, sein rundliches Gesicht ist ganz blass geworden. „Keine Ahnung, Mama.“ „Wirklich? Du hast keine Idee?“ fragt seine Mutter mit schmalen Augen. Der Junge schrumpft unter ihrem bohrenden Blick in sich zusammen, bis er vom Stuhl zu rutschen droht. „Setz dich ordentlich hin!“ mahnt Rita Schwalmbach gereizt. Karsten ruckelt sich auf dem Stuhl zurecht, er zieht den Kopf zwischen die Schultern und schweigt mit hochroten Ohren. „Ich erfahre es sowieso morgen Nachmittag.“ setzt ihm die Mutter mit drohendem Tonfall zu. „Also sag es mir lieber jetzt gleich.“ „Ich hab gar nichts gemacht! Wirklich!“ entfährt es Karsten schrill, dann versinkt er wieder in schmollendem Schweigen. Rita Schwalmbach lässt ihren Sohn noch ein wenig unter ihrem strengen Mutterblick schmoren, dann bricht sie verärgert ab. „Wie du meinst. Geh jetzt auf dein Zimmer.“ Karsten lässt sich aufatmend vom Stuhl gleiten und ist schon fast bei der Tür hinaus, als seine Mutter noch einmal das Wort an ihn richtet.
„Und Karsten?“
„Ja, Mama?“
„Medienverbot, bis ich weiß, was du ausgefressen hast.“
„Oh, Mann.“ seufzt Karsten.

*
„Guten Tag, Frau Schwalmbach.“
„Guten Tag, Frau Overberg.“
„Schön, dass Sie es einrichten konnten.“
„Natürlich, worum geht es?“
„Bitte, nehmen Sie Platz.“
Rita Schwalmbach folgt der freundlichen Aufforderung, Karstens Lehrerin deutet auf eine Wasserflasche und zwei Gläser, die auf dem Lehrerpult bereitstehen. „Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?“ fragt die junge Frau mit unsicherem Lächeln. „Nein, Danke. Vielen Dank.“ lehnt Rita Schwalmbach ab, sie lässt ihrerseits ein kurzes, nervöses Lächeln aufblitzen und hält sich an ihrer Handtasche fest. „Nun…“ Frau Overberg räuspert sich und sucht nach den passenden Worten. Sie sitzt steif hinter dem Lehrerpult, ihr Blick wandert unruhig zwischen der Wasserflasche und Rita Schwalmbachs fragendem Gesicht hin und her. Es scheint ihr nicht leicht zu fallen, einen Einstieg in das Gespräch zu finden und so schenkt sie sich ein Glas Wasser ein, um noch etwas Zeit zu gewinnen. „Es geht um eine Beschwerde. Die Angelegenheit ist unserer Schule sehr unangenehm, deshalb wollte ich Sie lieber persönlich sprechen…“ stolpert sie in ihrem Anliegen voran. „Was hat Karsten angestellt?“ unterbricht Rita Schwalmbach, die nun ernstlich besorgt ist. „Er hat eine Valentinskarte an seine Turnlehrerin, Frau Siebert, geschrieben.“ sagt Frau Overberg und schlägt die Augen nieder. Rita Schwalmbach schüttelt den Kopf und fährt sich dann verärgert mit der Hand durch die Frisur. „Ja und? Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass ich mir extra Freigenommen habe, nur weil mein Sohn eine Valentinskarte an seine Turnlehrerin geschrieben hat, oder?“ „Frau Siebert ist eine Anhängerin der fundamentalistischen Bewegung. Ihr Mann ist erster Vorsitzender im Verein ‚Natürlich gegen Gene-Splicing‘. Er hat beim Direktor eine schriftliche Beschwerde wegen Stalking und Hausfriedensbruch eingereicht.“ Die Worte der jungen Lehrerin fallen wie schwere Steine auf das unselige Gespräch. Rita Schwalmbach reißt die Augen auf und lehnt sich betroffen in ihrem Stuhl zurück. „Oh.“ sagt sie nur und ihre Stimme klingt merkwürdig hohl. Dann herrscht Stille. „Er kann doch gar nichts dafür.“ murmelt sie schließlich nach einer Minute des Schweigens, mehr zu sich selbst, als zur Lehrerin. Die nickt auch nur verständnisvoll und bleibt weiterhin still. „Es war eine Wahrscheinlichkeit von 80%. Wissen Sie, was das bedeutet? Er Schwerbehindert und ich Alleinerziehend? Er ist doch genauso ein Mensch wie alle anderen!“ Rita Schwalmbach bricht ab, sie ist den Tränen nahe. „Es tut mir leid.“ flüstert Karstens Lehrerin, doch seine Mutter schnaubt nur abwehrend, sie blinzelt die aufsteigenden Tränen weg und erhebt sich schroff. Unter ihrem eisigen Blick versinkt die junge Lehrerin beschämt hinter dem Pult. „Ich werde mit Karsten sprechen.“ sagt Rita Schwalmbach und ihre Stimme klingt hart wie Stein. „Danke, Frau Schwalmbach.“ seufzt Frau Overberg.

© sybille lengauer