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Sand

Veröffentlicht: April 18, 2019 in Kurzgeschichten
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Sand. Allgegenwärtiger Sand. Kaum ein Grashalm, der sich hinter schützenden Felsbrocken regt. Keine Bäume, nur ein paar wenige, verkrüppelte Sträucher, die zäh dem heißen Wind trotzen.
Stille. Undurchdringliche Stille. Kein Bussard ruft, keine Maus raschelt durch das spärliche Gras, nicht einmal eine Eidechse gleitet über die kochend heißen Steine.
Hitze. Lähmende Hitze. Kein Fleckchen Erde, das nicht ausgezehrt wäre von der sengenden Glut, die selbst das letzte bisschen Feuchtigkeit aus dem Land herausbrennt.
Die Ruinen der zerstörten Großstadt ähneln einem bizarren Gebirge, das sich einsam aus der öden Landschaft erhebt. Wie Stümpfe abgebrochener Zähne ragen die Reste der Wolkenkratzer in den stahlblauen Himmel. Starren blicklos in eine flimmernde Weite, die unerbittlich zurückstarrt, ohne jemals zu blinzeln. Aufgeplatzte Betonstraßen, in denen die Wracks von tausenden Autos vom stetigen Wind geschleift werden, führen schnurgerade durch die zerstörten Häuserschluchten. Sanddünen wachsen an den verfallenen Gebäuden empor. Flirrender Staub tanzt durch verlassene Räume, bildet überall zentimeterdicke Schichten, wo er vom heißen Atem der Wüste hingetrieben wird. Doch tief, tief unten, in den Eingeweiden der zerstörten Stadt, in den alten U-Bahn-Schächten, die noch nicht eingestürzt sind, in der verrottenden Kanalisation, die nun niemand mehr benötigt, sickert ein wenig Wasser aus verborgenen Ritzen. Farblose Pflanzen gedeihen hier, geschützt vor den tödlichen Strahlen der Sonne. Ziehen ihre Nährstoffe aus den Fadengeflechten der widerstandsfähigen Pilze, an deren Zyklus sie sich angepasst haben. Sie bilden einen schier undurchdringlichen Dschungel aus rankenden Stielen und dornharten Blättern, die bleich in der Düsternis übereinander wuchern. Fluoreszierende Schleimpilze ziehen sich über die feuchten Wände, tauchen die Szenerie in zartgrünes Licht. Tiere existieren hier. Blasse, kleine Geschöpfe, die sich zäh von dem ernähren, was die Unterwelt zu bieten hat. Winzige Leuchtameisen bestäuben die zahllosen Blüten, angelockt durch deren süßlichen Duft. Haarlose Nagetiere bauen ihre kugelrunden Nester in den Wurzeln der Pflanzen. Werden belauert von züngelnden Schlagen, die sich leise durch die unterirdische Welt winden.
Leona ist auf der Suche nach diesen Orten. Sie kennt die spärlichen Anzeichen an der Oberfläche, die auf diese verborgenen Lebensräume hinweisen. Dick eingemummt in ihren verdreckten Schutzanzug, die empfindlichen Augen durch schwarze Brillengläser geschützt, eine Atemschutzmaske mit notdürftig geflickten Filtern über Nase und Mund, auf dem Rücken ein riesiger Rucksack, so zieht sie durch die trostlosen Straßen der ehemaligen Großstadt, immer auf der Suche nach einem geheimen Hort des Lebens, der sie für ein paar Wochen erhalten kann. Immer unterwegs. Immer allein. Leona weiß um die sensible Balance der wenigen, verbliebenen Oasen. Sie bleibt nie lange an einem Fleck, zieht immer weiter durch die menschenleeren Ruinenstädte und kehrt erst nach Jahren wieder zu einem unterirdischen Wald zurück, in dem sie schon einmal gewesen ist. Seit dreiundzwanzig Jahren folgt sie diesem Rhythmus. Überlebt in der unwirtlichen Einöde, die einst ein blühendes Zuhause der menschlichen Kultur war.
„Hör auf damit.“ brummt sie gereizt.
„Womit soll ich aufhören, ich mach doch gar nichts.“
„Du summst.“
„Ich summe nicht.“
„Du summst die ganze Zeit, verdammt.“
„Könnte an deinen ungewaschenen Ohren liegen, dass du ein Summen hörst. Ich bin es jedenfalls nicht.“
„Du kannst mich mal.“
Leona klettert auf einen rostigen Laternenmast, der sich einsam über eine sanft gewellte Sandfläche erhebt, die vor langer Zeit ein ausgedehnter Park war. Sie holt ein Fernglas aus der Brusttasche ihres Anzugs, späht angestrengt in alle Richtungen. Redet dabei unablässig mit sich selbst.
„Du gehst mir heute schon den ganzen Tag lang auf die Nerven.“
„Was kann ich dafür, dass du mit dem falschen Fuß aufgestanden bist?“
„Ich bin gar nicht aufgestanden, falls du das vergessen hast. Wir sind die ganze Nacht lang gewandert, weil du unbedingt dieses blöde Viertel erreichen wolltest.“
„Wir werden hier eine Oase finden. Glaub mir einfach.“
„Glauben kann ich Gott. Dir kann ich maximal vertrauen und dazu bin ich im Moment nicht in der Stimmung. Hier ist nur beschissener Sand.“
„Schau genauer hin. Da, Richtung Nordost.“
Leona kneift die Augen zusammen. Starrt angestrengt durch das Fernglas. Sieht nur Sand und verlockend wabernde Trugbilder von Ozeanen, die nicht existieren. Gereizt verlagert sie ihr Gewicht, um besser auf dem Laternenmast Halt zu finden.
„Ich sehe nichts.“
„Die dunklen Flecken?“
„Da sind keine dunklen Flecken.“
„Ich schwöre dir, da sind welche.“
„Und ich schwöre dir, wenn du dich irrst…“
Sie lässt ihre Drohung unausgesprochen verklingen. Steckt das Fernglas weg und klettert, schwer atmend, vom Laternenmast herunter. Schimpfend macht sich auf den Weg nach Nordosten. Trottet langsam über den brennend heißen Sand, achtet auf verborgene Löcher und tückische Stolperfallen. Leona kennt die unzähligen Gefahren der Ruinen. Kennt den tückischen Treibsand, die unberechenbaren Abgründe und die alles erstickenden Staubstürme, die in der verlorenen Stadt herrschen. Sie lässt sich Zeit. Nimmt lieber einen Umweg in Kauf, als ein Risiko einzugehen. Wägt sorgsam ab, bevor sie sich auf ein Wagnis einlässt. Leona überlebt.
„Du machst es schon wieder.“
„Was?“
„Summen.“
„Ich summe nicht.“
„Ich kann es aber hören!“
„Du hörst, was du hören willst, meine Liebe.“
„Meine-Liebe mich nicht.“
„Vielleicht sollten wir eine Rast einlegen, du bist wirklich überreizt.“
„Ich bin nicht überreizt, ich bin nur müde. Und durstig. Und hungrig.“
„Das bin ich auch.“
„Gut, dann eben eine Rast.“
Leona hält mürrisch an einer zerstörten Brücke, lässt sich im Schatten der verfallenen Betonkonstruktion nieder. Sie holt einen Trinkbeutel aus ihrem Rucksack, steckt das dünne Röhrchen unter die Atemmaske und trinkt. Dann setzt sie das Röhrchen ab und seufzt erleichtert.
„Hier, jetzt du.“
„Danke.“
Leona trinkt erneut. Verstaut den Lederbeutel dann wieder sorgsam an seinem Platz. Etwas Trockenfleisch findet seinen Weg in ihren Mund. Sie kaut die zähen Stückchen stumm. Starrt vor sich hin und ruht die erschöpften Muskeln aus.
„Sollen wir schlafen?“
„Ich weiß nicht. Dann verlieren wir noch mehr Zeit.“
„Aber du bist müde. Und ich kann auch schon kaum die Augen offen halten.“
„Du hast ja recht.“
Leona kriecht in eine Ecke, in der sie vor Sonne und Wind geschützt ist, rollt sich neben dem Rucksack zusammen und schließt erschöpft die Augen. Fällt augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem sie eine halbe Stunde später benommen erwacht. Noch einmal holt sie den Trinkbeutel hervor, saugt vorsichtig einen Schluck der kostbaren Flüssigkeit ein, dann macht sie sich erneut auf den Weg. Summt dabei leise eine traurige Melodie.

Langsam kommt die Dämmerung. Die Sonne versinkt hinter dem flimmernden Horizont, taucht die Welt in rötlichen Schimmer. Versetzt den Himmel in einen brennenden Farbenrausch. Die verlassenen Ruinen werfen lange Schatten, die wie dunkle Geister über der Szenerie liegen. Leona steht auf dem niedrigen Dach eines ehemaligen Autohauses, blickt in eine tiefe Senke und mustert wachsam die dunklen Flecken, die sich darin gebildet haben. Sie hat kein Auge übrig für das farbenprächtige Schauspiel der abendlichen Wüste.
„Das könnte etwas sein.“
„Habe ich dir doch gesagt.“
„Du sagst viel, wenn der Tag lang ist.“
Sie kniet nieder, starrt aufmerksam in die Senke.
„Wir sollten ein Lager aufschlagen und uns morgen abseilen.“
„In Ordnung.“
Leona übernachtet im Autohaus. Sie bringt sorgsam vier Taufänger in Position, die den feuchten Hauch des Morgens in kleinen Fläschchen konservieren, sucht einen verstaubten Wagen aus, der geräumig und bequem erscheint und bettet sich darin zur Ruhe. Erleichtert legt sie Brille und Atemschutzmaske ab, reibt über die aufgeraute, juckende Haut ihres Gesichts. Sie öffnet den Schutzanzug, kriecht ächzend heraus und rümpft die Nase, als der scharfe Geruch ihres ungewaschenen Körpers das Wageninnere flutet. Vor dem Schlafen isst sie noch ein wenig Trockenfleisch, trinkt zwei kleine Schlucke Wasser. Die Vorräte sind knapp. „Schlaf gut.“ sagt sie, rollt sich auf der Rückbank des Autos ein und träumt vom Geräusch des Regens. Träumt, bis sich die ersten Sonnenstrahlen durch die trostlosen Ruinen zwängen und von einem neuen Tag in der unendlichen Wüste künden.

„Sieht verdammt gut aus.“ Leona hängt an einem Seil, das sie sorgsam an einer Hausmauer verankert hat. Vorsichtig setzt sie ihre Schritte, trägt breite, ovale Schneeschuhe, die ihr Gewicht besser auf dem tückisch rutschenden Sand verteilen. Immer wieder sieht sie sich prüfend nach den dunklen Flecken um, während sie weiter in die Senke hinabsteigt. An einer besonders dunklen Stelle hält sie an, nimmt etwas Sand zwischen die Finger und zerreibt ihn. „Volltreffer.“ Leona nickt bestätigend zum Rand der Senke hin, verstaut etwas von dem Sand in einer kleinen Dose. Dreht sich dann langsam um und folgt konzentriert den flachen Spuren, die sie bei ihrem Hinweg ausgetreten hat. Sand rieselt unter ihren Füßen, rieselt an ihr vorbei in den tief gelegenen Grund der Senke, der wie ein großer Trichter alles verschluckt, was in ihm landet. Leona atmet erleichtert auf, als sie wieder festen Boden unter sich spürt. Sie legt die Schuhe ab, löst das Seil und begibt sich zurück in den Schatten des Autohauses, in dem sie ihre restliche Ausrüstung zurückgelassen hat. Der dunkle Sand aus der Senke, den sie nun ohne Schutzhandschuhe berühren kann, fühlt sich ölig und feucht an. Leona brummt zufrieden und setzt sich auf den sandigen Boden des Autohauses. An einem Stück Trockenfleisch kauend, studiert sie eine stark zerknitterte Karte.
„Es ist mit Sicherheit kein U-Bahn-Tunnel.“ stellt sie schließlich fest.
„Vielleicht eine Tiefgarage?“
„Ich weiß nicht, könnte sein.“
„Wir sollten diese beiden Häuser überprüfen. Hier und hier drüben. Vielleicht finden wir einen Eingang.“
„Was ist mit diesem Gebäude?“
„Ich weiß nicht, sieht aus wie ein normales Wohnhaus. Das können wir uns zum Schluss vornehmen.“
„Gut, einverstanden.“
Leona packt sorgfältig ihre Habe ein. Alles hat seinen bestimmten Platz im Rucksack, wird ordentlich zusammengelegt und verstaut. Als sie fertig ist, erzählen nur noch der verwischte Staub und ein paar Spuren im allgegenwärtigen Sand von ihrer Anwesenheit. Hinter der kaputten Eingangstür des Autohauses bleibt sie noch einmal im Schatten stehen.
„Sollen wir eine Münze werfen, mit welchem wir beginnen?“
„Klar.“
Gutmütig lächelnd fasst Leona unter ihren Schutzanzug, holt eine in Draht gefasste Münze hervor, die an einem Lederband baumelt. „Kopf ist Nord, Zahl ist Süd.“ sagt sie, wirbelt das Band und wirft die Kette in die Luft. Die Münze fliegt hoch und landet im Sand zu ihren Füßen.
„Zahl.“
„Süden also.“
„Dann lass uns gehen.“
Leona blickt nicht zurück, als sie den Schatten des Autohauses verlässt und sich auf den Weg zu der hoch aufragenden Ruine macht. Besonnen umkreist sie das verfallene Gebäude, sucht nach Schwachstellen in der Architektur, die ihr zum Verhängnis werden könnten.
„Hier steht ‚Marriott‘ dran, ich glaube, das war einmal ein Hotel.“
„Sieht ganz gut aus.“
„Das sagst du immer. Und zehn Minuten später muss ich dir wieder das Leben retten.“
„Ich bitte dich, wer hat dich neulich aus dieser Grube gezogen?“
„Fang nicht wieder mit der elenden Grube an.“
Mit sich selbst streitend, betritt Leona das Gebäude durch die breite, zerbrochene Eingangstür. Staubwolken wirbeln auf, feine Sandkörnchen legen sich auf ihren Schutzanzug. Leona stellt den riesigen Rucksack neben der Eingangstür ab und sieht sich wachsam in der großen Eingangshalle um. Ihr Blick sucht lange die fleckige Decke ab, dann prüft sie eingehend den, mit einer dicken Sandschicht bedeckten, Boden. „Sieht nicht so aus, als würde hier etwas in der nächsten Zeit nachgeben.“ stellt sie schließlich fest. Zufrieden grunzend hält sie nach einem Fahrstuhlschacht Ausschau, der ihr den Abstieg in die unteren Etagen ermöglicht. Findet ihn am anderen Ende der geräumigen Eingangshalle. Ihr Weg führt vorbei an ausgebleichten Skeletten, die eng umschlungen auf dem sandigen Boden liegen, einsam an verstaubten Tischen sitzen oder zusammengesunken in den Ecken zerschlissener Sofas kauern. Leona beachtet die Toten nicht. Tritt achtlos über sie hinweg und steuert auf die Fahrstühle zu. Sie übersieht die verdächtige Delle im Boden, konzentriert sich zu sehr auf das Ziel vor ihren Augen. Krachend gibt der Untergrund nach und Leona stürzt mit einem überraschten Aufschrei in die Tiefe.

„Verdammt.“
„Geht es dir gut?“
„Ich weiß nicht. Und dir?“
„Keine Ahnung.“
Leona liegt benommen auf den Überresten eines zerbrochenen Holzregals, das ihren Sturz etwas abgemildert hat. Vorsichtig prüft sie ihre Extremitäten, erforscht den Körper nach Anzeichen einer Verletzung. Als kein greller Schmerzimpuls auf ihre Versuche antwortet, setzt sie sich ächzend auf und hustet.
„Das war ja wieder eine Spitzenleistung.“
„Du hättest es genauso gut sehen können.“
„Klar, schieb es nur wieder auf mich.“
„Ach, wir sind beide Idioten.“
Der Zorn hilft ihr auf die Beine. Schwankend steht sie in der Dunkelheit, sieht verstimmt nach oben zu dem Loch, das in der Decke klafft. „Zumindest ist der Fahrstuhlschacht nicht weit entfernt.“ stellt sie nüchtern fest. Leona zieht eine kleine Stabtaschenlampe aus einer Tasche ihres Anzuges und leuchtet durch den Raum.
„Wow.“
„Oh mein Gott.“
„Sieh dir das an!“
„Konserven!“
Leona ist in einem Vorratslager des ehemaligen Hotels gelandet. Mit großen Augen blickt sie auf lange Reihen von Regalen, die gefüllt sind mit Konservendosen und Plastikverpackungen. Nach dreiundzwanzig Jahren sind viele Waren verdorben, aber Leona weiß, dass manche Produkte eine Ewigkeit halten. Andächtig bleibt sie vor einer Schachtel mit Honiggläsern stehen. „Wow.“ haucht sie wieder. Reißt das Plastik von der Verpackung, reißt den darunterliegenden Karton in Stücke, nimmt ein Glas heraus und öffnet andächtig den Deckel. Der Geruch von Honig erfüllt das alte Lager. „Ich zuerst.“ quengelt sie und hält das Glas in der ausgestreckten Hand. „Nein, ich.“ „Es ist genug für uns beide da.“ „Dann kannst du mir ja den Vortritt lassen.“ „Wieso bist du immer zuerst an der Reihe!“ „Das ist doch gar nicht wahr.“ „Natürlich ist es wahr, du denkst immer nur an dich!“ Wütend fährt Leona herum und lässt dabei das Glas auf den Boden fallen. „Sieh dir an, was du angerichtet hast!“ schreit Leona und deutet zornig auf die Scherben. Sie reißt sich die Atemschutzmaske vom Gesicht, versetzt sich selbst eine schallende Ohrfeige. „Du egoistisches Miststück!“ Leona schlägt sich erneut, schlägt hart zu und faucht dabei böse. „Ich hasse dich!“ kreischt sie und torkelt gegen das Regal. Weinend bricht sie zusammen, bleibt verkrümmt sitzen und schüttelt verzweifelt den Kopf. Lange sitzt sie so da, stiert vor sich hin und blutet aus der Nase. Als sie endlich wieder aufsteht, geht sie stumm zu dem Karton zurück, nimmt ein neues Glas heraus, dreht den Verschluss mit einem kräftigen Ruck auf und verschlingt gierig den kristallisierten Honig. Tränen laufen über ihr schmutziges Gesicht. Der ungewohnt süße Geschmack fühlt sich erst widerlich an. Dann jagt der reichhaltige Zucker ein Schaudern über ihren Körper, schickt Gänsehaut von ihrem Nacken bis zu den Zehenspitzen. Leona lacht und weint zugleich. Stopft das klebrige Gold weiter in sich hinein, leckt die Finger gierig blank. Dann tanzt sie lachend durch das Lager, trunken von der Energie des Honigs. Irgendwann bricht sie wieder zusammen und schluchzt heftig. Der unermessliche Reichtum des Schatzes macht sie fassungslos.

„Das machst du ganz prima.“ sagt Leona sanft. „Danke.“ antwortet sie kühl. Sie zieht eine Ladung mit Lebensmitteln und Getränken aus dem Loch in der Eingangshalle. Leona hat eine feste Basis im Autohaus errichtet und schafft nun einen Teil des Lagervorrats in ihr neues Zuhause. Sie wird lange mit dieser Fülle an Vorräten überleben können, hat nun endlich Zeit, sich auf wichtige Reparaturen zu konzentrieren, die sie bei ihrer Wanderung vernachlässigt hat. Ihre Körperhaltung drückt trotzdem keine Zufriedenheit aus.
„Bist du immer noch böse auf mich?“
„Nein, alles wunderbar.“
„Ich weiß genau, wann du mich anlügst.“
„Ach, tust du das?“
Leona schleift das Paket aus dem Hotel, wuchtet es auf einen improvisierten Schlitten und zieht diesen durch die kalte Luft der Wüstennacht. Ihre Augen suchen kurz den Himmel ab, sind blind für den majestätischen Anblick der funkelnden Sterne. Nicht eine Wolke zeigt sich am nächtlichen Himmel. Leona zuckt mit den Schultern und zieht den Schlitten weiter zum Autohaus. Es ist ihre letzte Tour, bald bricht der Morgen an und Leona wird sich schlafen legen. Sie meidet nun den Tag, da sie den Blick in die Ferne nicht mehr braucht, um sich zu orientieren. Vor dem Autohaus hievt Leona das große Paket vom Schlitten und zerrt es nach drinnen. Nachdem sie die Nahrungsmittel und Getränke sicher verstaut hat, zündet sie ein kleines Feuerchen vor dem Eingang des niedrigen Gebäudes an. Leona verbrennt die Büroeinrichtung des Autohauses, starrt nachdenklich in die bunten Flammen, die das lackierte Holz erzeugt. Ein Topf mit Reis und aufgeweichtem Dörrfleisch blubbert über dem Feuer. Leonas Magen knurrt. Ächzend steht sie noch einmal auf, geht nach drinnen und kehrt mit einer Flasche Gin zurück. Sie stellt die Flasche in den Sand, holt den Topf aus dem Feuer und rührt, bis die Masse kalt genug geworden ist. Hungrig löffelt sie den salzigen Brei, isst, bis kein Bissen mehr Platz hat. Dann rülpst sie laut, öffnet die Flasche und trinkt einen großen Schluck. Leona starrt wieder ins Feuer. Die Flammen spiegeln sich in ihren großen Augen, flackern über ihr ausgezehrtes Gesicht. „Wir müssen reden.“ sagt sie schließlich. „Wir müssen gar nichts.“ erwidert sie, starrt weiter ins Feuer und trinkt in langen Zügen.
„Du kannst nicht ewig beleidigt sein.“
„Ich bin nicht beleidigt.“
„Was bist du dann?“
Leona greift wütend nach einem Stuhlbein, stochert damit im Feuer herum. Funken fliegen auf, tanzen in den Himmel, der im Osten langsam zu erröten beginnt. „Ich weiß auch nicht.“ brummt sie nach einer geraumen Weile. Frustriert setzt sie die Flasche an die Lippen und trinkt.
„Alkohol macht es auch nicht besser.“ „Stimmt.“ Leona steht schwankend auf und geht hinein. Kommt mit einer Schachtel Zigaretten zurück, setzt sich wieder hin und beginnt zu rauchen. „Davon wird dir schlecht.“ kommentiert sie und lacht plötzlich bitter auf. „Was interessiert dich das.“ versetzt sie. Trinkt, raucht und starrt mürrisch in den spektakulären Sonnenaufgang. Bevor sie sich schlafen legt, kotzt sie ausgiebig in den trockenen Sand, flucht über die verschwendete Nahrung und befielt sich, das Maul zu halten.
Am nächsten Abend sitzt sie wieder vor einem kleinen Feuerchen, bereitet ein Frühstück zu und hält sich den brummenden Schädel. „Ich habe dich ja gewarnt.“ sagt sie triumphierend, verzieht danach genervt das Gesicht. „Sei doch bitte einmal ruhig.“ knurrt Leona. Stumm stopft sie den heißen Brei in sich hinein, trinkt ausgiebig Wasser und wendet sich dann den Arbeiten zu, die sie in der heutigen Nacht beschäftigen. Der Rucksack muss ausgebessert werden, der Schutzanzug hat Risse, ihre Unterwäsche hält nur noch an wenigen Fäden zusammen. Leona arbeitet still, spricht über Stunden hinweg kein Wort. Manchmal steht sie auf, geht hinein und kommt mit einem Gegenstand zurück, den sie für ihre Ausbesserungsarbeiten braucht. Das Innere des Autohauses hat sich stark verändert. Leona hat viele Wagen nach draußen geschoben. Mit Geschickt und Mühe hat sie sich ein geräumiges Zuhause geschaffen, das verbarrikadiert ist gegen die unerbittlichen Elemente. Ein Berg von Decken und Kissen aus dem Hotel bildet ihr riesiges Bett, darum herum türmen sich Stapel aus Lebensmitteln und Getränken. Leona schläft gerne in ihrem Hort. Jetzt geht sie zu einem kleinen Schränkchen, das sie aus dem Büro geborgen hat und holt eine lange Schere aus einer der Schubladen. Auf dem Weg nach draußen greift sie nach einer Flasche Whiskey. „Schon wieder?“ fragt sie traurig, als sie sich zurück ans Feuer setzt. „Fang bitte nicht wieder damit an.“ antwortet sie gereizt. Leona wirft neues Holz ins Feuer. Öffnet die Flasche und trinkt. „Willst du nun jede Nacht trinken?“ „Und was, wenn dem so wäre?“ Sie nimmt grob die Näharbeit wieder auf, mit der sie sich beschäftigt hat, grunzt dann und legt sie wieder zur Seite. „Es geht dich einen Scheißdreck an.“ stellt sie mit Nachdruck in der Stimme fest.
„Du weißt, dass das nicht stimmt.“
„Gar nichts weiß ich.“
„Warum ist dir immer alles egal?“
„Warum sagst du immer ‚immer‘ wenn du nörgelst?“
„Warum denkst du, es wäre eine gute Idee, mich nachzuäffen?“
„Warum denkst du, es wäre eine gute Idee, mir ständig auf die Nerven zu fallen?“
Leona lässt ihre geballte Faust wütend auf den weichen Boden knallen. Sie murmelt etwas und wirft weiter Holz ins Feuer. Die Flammen fressen sich begierig durch das trockene Holz, züngeln in bunten Farben in die mächtige Dunkelheit der Nacht. „Was hast du da gerade gesagt?“ zischt Leona, ihre Augen werden schmal. „Nichts.“ erwidert sie, starrt gereizt ins Feuer. „Nein. Du hast nicht Nichts gesagt.“ Leonas Stimme ist sehr leise. Eine große Erregung zittert in ihren Worten. „Doch.“ antwortet sie knapp. „Sag es!“ schreit Leona. „Hör endlich auf!“ schreit sie zurück.
Leona greift nach der Schere, die neben ihr im Sand liegt. Ihre Stimme verliert sich fast im munteren prasseln des Feuers. „Ich habe gesagt, dass ich ohne dich besser dran wäre! Na? Bist du nun zufrieden? Dann: Lass. Mich. Endlich. In. Ruhe!“ Die letzten Worte schreit sie wieder, stößt dabei mit der spitzen Schere durch die leere Luft. Niemand antwortet ihrem Ausbruch. Blinzelnd sieht sich Leona um. Sie sitzt einsam vor dem Feuer, hält verkrampft die Schere in der Hand. Leona blickt verwirrt um sich, dreht sich nach links und rechts, schaut hinter sich, steht schließlich auf und läuft um das Gebäude. Sie ist allein. Stirnrunzelnd kehrt sie zurück zum Feuer, setzt sich und starrt in die Flammen.

„Hast du an das Seil gedacht?“ Leona steht vor dem Loch in der Eingangshalle des Hotels und tastet suchend ihren Schutzanzug ab. Sie will sich nur kurz abseilen, um eine neue Flasche von dem herrlichen Sherry zu holen, der ihr so besonders wohl tut. Stille beantwortet ihre Frage. Leona zuckt kurz schuldbewusst zusammen. Seufzend dreht sie sich um und verlässt mit schlurfenden Schritten das Hotel. Im Autohaus stöbert sie das Seil aus dem Chaos, in das sie ihre Basis in den vergangenen Wochen verwandelt hat. Leona hat eine Menge Dinge gehortet, hat ihr Zuhause in ein Sammelsurium aus Gegenständen verwandelt, die sie in der Umgebung gefunden hat. Ausgebleichtes Spielzeug drängt sich in improvisierten Regalen neben dutzenden Büchern und unnützen Relikten aus der Vergangenheit. Lampions und Girlanden hängen in wirren Trauben von der Decke des Autohauses, an den Wänden kleben bunte Bilder von Vögeln, Wäldern, Delfinen, Wasserfällen und muskulösen, jungen Männern. Leona lacht triumphierend auf, als sie das Seil schließlich findet. Sie wickelt es geschickt auf und läuft zurück in die Ruine des Hotels. Dort verankert sie das Seil dem Flaschenzug, den sie für den Transport der Pakete gebaut hat, schlingt es ungeduldig durch die Halterung an ihrem Anzug und lässt sich in die Dunkelheit gleiten. Der schlampige Knoten, mit dem sie das Seil am Flaschenzug befestigt hat, löst sich prompt. Ihr erschrockener Schrei schallt zum zweiten Mal durch den riesigen Hotelfriedhof, der teilnahmslos in den Nachthimmel ragt. Leona schlägt hart mit dem Hinterkopf auf und verliert das Bewusstsein. Als sie zu sich kommt, liegt sie benommen auf dem harten Boden des Lagers. Vorsichtig prüft sie ihre Extremitäten, zieht mit einem scharfen Laut die Luft ein, als ein heftiger Schmerz durch ihr Bein fährt. „Das darf nicht wahr sein.“ Leona tastet nach der kleinen Taschenlampe. Fühlt, dass diese zerbrochen ist und sucht daraufhin nach der Ersatzlampe, die sie im Anzug bei sich trägt. Der kleine Lichtkreis, mit dem sie ihre Beine endlich beleuchtet, offenbart keine offensichtlichen Verletzungen. Vorsichtig tastet Leona an der Hose des Anzugs entlang. Ein starker Schmerz verrät schließlich das gebrochene Schienbein. „Verdammt.“ knirscht Leona. Panik greift mit eiskalten Krallen nach ihr, aber Leona wehrt sich gegen das Rasen ihres Herzens, denkt bewusst gegen den klaffenden Abgrund an, der sich in ihrer Seele öffnen will. „Das ist keine große Tragödie.“ flüstert sie tapfer. „Wir müssen das Bein nur schienen. Das kriegen wir schon hin, oder?“ Leona lauscht in der erdrückenden Stille nach einer Antwort. „Hörst du mich?“ ruft sie verzweifelt. Da ist sie wieder, die kopflose Panik. War nie weg, hat nur gelauert, auf den einen Moment, an dem Leona nicht wachsam ist. Der Lichtstrahl ihrer Lampe zittert hektisch über die Regale. Ihr Mund wird trocken, der Herzschlag galoppiert. Schreckensbilder aus der Vergangenheit brechen über sie herein. Peter, der qualvoll im Feuer stirbt. Karin, die schreiend verblutet. Sonja, die sich einfach hinlegt und nicht mehr aufsteht, weil ihr kleiner Sohne verhungert ist. Miriam, die hilflos im tödlichen Treibsand versinkt. All die Toten sterben erneut vor Leonas innerem Auge, während sie entsetzt nach Luft schnappt. Ein bleierner Ring legt sich eng um ihre Lungen, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Leona hyperventiliert, verdreht die Augen, verliert wieder das Bewusstsein.
Als sie diesmal erwacht, bleibt sie lange still liegen. Starrt ausdruckslos auf das Loch in der Decke. Dann wendet sie den Kopf und mustert das Seil, das neben ihr auf dem Boden liegt. „Ich komme da hoch.“ presst Leona hervor. Rappelt sich stöhnend auf und sucht nach Material, mit dem sie das gebrochene Schienbein versorgen kann. Sie robbt fluchend durch den Gang, feuert sich selbst an, bis sie schließlich eine Palette mit gestapelten Holzkisten findet. Mühsam schlüpft sie mit den Armen aus ihrem Anzug, zieht das Unterhemd aus und reißt es in Streifen. Jede Bewegung bringt Scherzen. Leona zerbricht umständlich zwei Holzkisten und bastelt eine einfache, aber stabile Schiene. Sie stöhnt gequält auf, als sie die geschichteten Bretter eng an ihr gebrochenes Bein wickelt. Unterdrückt den Drang, sich zu erbrechen. Erschöpft ruht sie aus, nachdem der letzte Knoten gebunden ist. Liegt flach auf dem Boden und atmet gegen den Schmerz. Dann zieht sie sich mühselig an einem Regal nach oben und humpelt langsam zurück zum Seil. „Wie kriege ich dich nach oben?“ fragt sie die Dunkelheit. Augenblicklich denkt sie an die Pakete mit Pfeffer, die ihr bei einer vergangenen Expeditionen im Lager aufgefallen sind. Sie sind fünf Kilo schwer und könnten stabil genug sein, um nicht sofort zu zerbrechen, wenn sie aus dem Loch geschleudert werden. Leona schlurft langsam die Regale entlang, findet die Pakete und schleppt eines davon zurück zum Seil. Sie verknotet es, prüft den Knoten sorgfältig, denkt sich in die Eingangshalle und überlegt, wo das Pfefferpaket landen muss, um sich zu verkeilen. Sie wählt ihr Ziel mit bedacht, blickt angestrengt nach oben, beginnt, das Seil zu schwingen. Unzählige Male hat sie so schon geworfen. Sich aus Gruben, Abgründen und diesem Lager gezogen. Doch noch nie war sie dabei wirklich alleine. Die Unsicherheit lässt ihre Hand zittern, als sie das wirbelnde Geschoss loslässt. Das Paket landet klatschend an der Decke, fällt wieder zurück auf den Boden des Lagers und zerplatzt. Pfefferkörner fliegen durch die Luft. Leona flucht. Stöhnend humpelt sie zurück zu den Paketen. Der zweite Versuch gelingt besser, das Paket fliegt durch das Loch in der Decke, verkeilt sich aber nicht. Leona pausiert erschöpft, wartet, bis sich ihre zitternden Muskeln von der brutalen Anstrengung erholt haben. Beim dritten Mal verkeilt sich das Paket endlich. Leona freut sich still, ist zu ausgelaugt, um einen Laut von sich zu geben. Sie weiß, dass sie nach oben klettern muss. Hat Angst vor dem Kraftakt. Also humpelt sie durch das Lager und kehrt mir uralten Schokoriegeln und einer Wasserflasche zurück. Setzt sich ächzend unter das Loch, isst die Schokolade, trinkt das Wasser und wartet. Irgendwann hat sie das Gefühl, bereit zu sein. Sie nimmt all ihren Mut zusammen, windet das Seil durch die Halterung des Anzugs, legt ihr ganzes Gewicht hinein, um die Stabilität des Pakets zu prüfen. „Wir kriegen das hin.“ versichert sie sich wieder, dann beginnt sie den Aufstieg. Quälend langsam kommt sie voran, die Muskeln in ihren Armen brennen, können das Gewicht des Körpers kaum tragen. Leona kämpft sich Zentimeter für Zentimeter nach Oben. Sie hört auf nachzudenken, hört auf, Schmerz zu empfinden, sieht nur noch das nächste Stück Seil, nach dem ihre zitternden Finger greifen. Ihre Hände schwitzen. Leona gleitet ab, verliert den Halt und fällt zurück auf den Boden des Lagers. Der Sturz presst die Luft aus ihren Lungen, der Schmerz im Schienbein jagt rote Explosionen durch ihr Gehirn. Leona weint verzweifelt. „Ich schaffe das nicht!“ heult sie zwischen zwei großen Schluchzern. „Ganz ruhig jetzt, ganz ruhig.“ Leona erstarrt. „Ich bin ja bei dir.“ sagt sie mit beruhigender Stimme. „Du bist wieder da?“ flüstert Leona ungläubig, dicke Tränen laufen über ihre Wangen. „Ich war nie weg.“ antwortet sie sanft. „Es tut mir so leid.“ „Mir auch.“ „Ich hätte nie sagen sollen, dass ich ohne dich…“ „Das ist jetzt nicht wichtig.“ unterbricht sie sich selbst. „Wir müssen hier raus und dich versorgen.“ Leona blickt hoch zu dem Loch. „Wir kriegen das hin.“ sagt sie und nickt dabei zuversichtlich.

© sybille lengauer