Mit ‘Sci-Fi’ getaggte Beiträge

Devil in Space

Pling
Ich hätte zu Hause bleiben sollen.
Pling
Mir ein Haustier kaufen.
Pling
Oder zumindest eine Zimmerpflanze.
Pling
Stattdessen liege ich hier.
Pling
Unter einem tropfenden Leitungsrohr.
Pling
Und warte auf den Tod.
Pling
Dabei hatte alles so gut angefangen. Mit unserer neuen Angriffsstrategie konnten wir die gegnerischen Verteidigungslinien mit Leichtigkeit aufbrechen, wir kamen über sie wie zornige Hornissen über eine Herde verdatterter Rindviecher. Ihre behäbigen Kampfkreuzer waren nicht annähernd in der Lage, es mit unseren wendigen EMEB*-Schiffen aufzunehmen. Endlich hatten wir die Oberhand, wir haben ihnen ordentlich eingeheizt, ein Selbstmordgeschwader nach dem anderen stürzte sich auf ihre riesigen Kriegskolosse, bis diese schließlich im unaufhörlichen Bombenhagel auseinanderplatzten und durchs Weltall taumelten wie brennende Papierlampignons zu Neujahr. Auch ich war bereit mich den Tod zu stürzen, bereit den letzten Schritt zu tun und meinen ultimativen Beitrag zu leisten auf unserem Weg zum Sieg über die Mormoriten: Mein Leben für die Heimat. Mein Leben für die Erde. Als das Startsignal des Staffelführers ertönte, verschwendete ich keinen zweiten Gedanken an mein bevorstehendes Ende, ohne zu blinzeln ging ich zum Angriff über.
Pling
Aber der Antrieb. Dieser elende, auf alle Zeit verdammte Antrieb. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen was schiefgelaufen ist, kann mich an zu wenig erinnern. Ich weiß noch, dass mit einem Mal die Antriebsenergie versagte. Ich verlor die Kontrolle über das EMEB, dann riss mich plötzlich eine Explosion aus der Steuerliege. Ich verlor das Bewusstsein und als ich endlich wieder erwachte, lag ich eingekeilt unter einem Berg aus Trümmern und verbogenem Metall. Bewegungsunfähig. Hilflos. Auf dem kalten, harten Boden meines Schiffes. Viele Stunden liege ich nun schon hier, mein Körper ist ganz gefühllos und taub geworden, doch meine Gedanken wandern rastlos umher, schweifen hierhin und dorthin und immer wieder zurück nach Hause. Zurück zur Erde. Ich weiß, dass niemand kommen wird, um nach mir zu suchen. Ich weiß, dass ich hier liegen bleiben werde, bis ich verkümmert bin und sterbe. Die Schlacht ist längst vorbei, der Krieg ist weitergezogen. Alle meine Kameraden sind tot. Nur ich brauche noch ein bisschen.
Pling
Über meinem Kopf tropft das Leitungsrohr. Ich frage mich wie lange es wohl dauern wird, bis mich dieses Geräusch in den Wahnsinn treibt. Es zerhackt meine Gedanken, lässt mich unruhig werden, nervös und fahrig. Es verunsichert mich. Ich muss es ignorieren, sonst wird das hier hässlich. Ich frage mich generell, wie lange es wohl noch dauern wird. Nicht mit dem Wahnsinn, sondern mit dem Sterben. Ich weiß nicht wie schwer meine Verletzungen sind. Schmerzen habe ich keine, aber was heißt das schon. Gehen wir aber vorerst davon aus, dass es mir körperlich relativ gut geht. Die Lebenserhaltung des EMEB scheint nicht beschädigt zu sein, das bedeutet Sauerstoff und Wärme für mindestens sechs Wochen, also bleibt mir wohl als Option nur langsames, qualvolles dahinsiechen. Hab’ mich schon besser amüsiert.
Pling
Ich hätte auf der Erde bleiben sollen. Hätte meinen Job bei der Müllentsorgung behalten und weiter mein kleines Leben leben sollen. Die Rechnungen bezahlen, die Fertigmahlzeiten essen, die Kriegsberichterstattung im Holo-View glotzen und einmal in der Woche zum staatlichen Psychiater. Ich hätte mit meinem Arsch auf meiner Couch bleiben sollen, doch was nützt es mir jetzt darüber zu klagen, ich werde das alles nie wiedersehen und irgendwie erkenne ich erst jetzt, wo ich hier liege und meine Lage zerdenke, wie wertvoll es gewesen ist. Langweilig war mir die Welt geworden. Eintönig und leer erschien mir mein Leben und alles darum herum, also warum nicht freiwillig melden für die wichtigste Mission seit Kriegsbeginn? Was wusste ich schon von Eintönigkeit und Langeweile. Inmitten des unermesslichen Nichts gestrandet zu sein, ohne Hoffnung auf Zurück, das nenne ich die ultimative Monotonie.
Pling
Ich kann mich noch genau erinnern wie euphorisiert wir alle waren, als wir damals zum ersten Mal von der fremden Intelligenz aus dem Weltraum erfuhren. Fünfundzwanzig Jahre ist das her und ich weiß noch immer ganz genau, wonach es in diesem Moment gerochen hat und welcher Song im Wireless Radio lief, bevor die Durchsage kam: Die ganze Wohnung stank nach Mutters Bratkartoffeln mit Knoblauch- und Zwiebelgranulat und sie spielten gerade ‚The swan who has fallen in love with a helicopter“ von den Candy-Shop-Boys. Dann ertönte das Signal für eine wichtige Sondermeldung und ich hielt gespannt den Atem an. Als der Sprecher die Meldung über unseren Kontakt zu einer außerirdischen Zivilisation verlas, ließ meine Mutter in der Küche vor Schreck den Pfannenwender fallen. Ich aber hörte nur eines: Außerirdisch. Das war atemberaubend! Ich war zwar noch ein kleiner Hosenscheißer, aber ich war fasziniert, elektrisiert und wollte unbedingt dabei sein.
Pling
Natürlich hatte ich keine Chance auf ein Ticket zu den Sternen, auch wenn ich es mir jeden Abend zum Einschlafen wünschte, außerdem an Weihnachten und zum Geburtstag und bei jeder anderen Gelegenheit, die ich ergreifen konnte. Wir waren eine typische Unterschichtsfamilie, geringe genetische Qualität, geringe Perspektive. Egal wie sehr ich mich anstrengte, egal wie fleissig ich lernte, ich war abgeschrieben, noch bevor ich überhaupt loslegen konnte. Sie nannten meinen Jahrgang die überflüssige Generation und wer hätte gedacht, dass ausgerechnet wir Überflüssigen einmal allen anderen den Arsch retten würden, wenn auch nur durch unseren kollektiven Selbstmord? Ach verdammt, ich werde wohl zynisch auf meine letzten Tage. Aber was macht das schon.
Pling
Mein naiver Traum von den Aliens war auch recht schnell ausgeträumt, als uns die Mormoriten fünf Jahre später den Krieg erklärten. Also, ihre AI erklärte unserer AI den Krieg, denn direkt konnten wir damals noch nicht kommunizieren. Ist schon etwas komplizierter über 4,7 Lichtjahre hinweg mit einer völlig unbekannten Spezies zu parlieren. Bis heute behaupten einige der Eierköpfe von NASA und SETI, dass die ganze Sache mit der Kriegserklärung ein bedauernswerter Systemfehler gewesen sein muss. Ich glaube allerdings, dass die einfach nicht wahrhaben wollen, dass die Mormoriten uns nicht ausstehen können. Mir muss man das nicht erzählen, ich kann ziemlich gut verstehen, warum die uns angegriffen haben. Wir sind eine brandgefährliche, selten dämliche Spezies und das sage ich nicht nur leichtfertig dahin, das meine ich mit jeder Faser meines Körpers.
Ach, was rege ich mich auf, ist ja ohnehin zwecklos. Ich sollte meinen Frieden machen und ohne Scheu dem Ende entgegenblicken, so lang es sich auch hinziehen mag. Was nützt es in der Vergangenheit herumzuwühlen, es hat doch gar keinen Zweck über all die Entscheidungen und Schicksalswendungen nachzugrübeln, die mich schließlich hierher gebracht haben. Es ist wie es ist. Hol’s der Teufel.
Pling

*EMEB = Ein-Mann-Eine-Bombe

© sybille lengauer

Good News Everyone!

Heute ist die E-Book Version der niegelnagelneuen Sci-Fi Anthologie „Singularitätsebenen“ (Verlag ModernPhantastik) erschienen. Freut euch auf 30 großartige Kurzgeschichten, die euch auf ganzen 570 Seiten in die phantastische Welt des Science-Fiction entführen werden. Es ist ein gutes Gefühl, meine epische Erzählung „Salvation“ in so guter Gesellschaft zu wissen.
Hier geht es zum E-Book: LINK zu Amazon
Die Anthologie wird in Kürze auch in Printform erscheinen, natürlich gebe ich dann noch extra Bescheid.

Singularitätsebenen Verlag Modernphantastik

Jacqueline Montemurri – Planet Neun
Thomas Laddach – Die letzten Dinge
Axel Kruse – Pluralitäten
Anja N. Schatz – Episoden I
Tobias Lagemann – Förster, du bist tot
Oliver Koch – Attacke
Achim Stößer – Kollaps
Ellen Norten – Storchenfest
Frank Lauenroth – Spoiler
Amandara M. Schulzke – Drachen und ihre Peiniger
Roland Rosenbauer – Chronomind 1553
Paul Hanneder – Wendigo
Kornelia Schmid – Licht hinfort
Stephan Becher – Annexion
Tamara Snow – Fehlkontakt
Schlomo Gross – Der Biergartenbesuch
Peter Kietz – Gastrecht
Andrea Bannert – Nahrungsnetz
Nob Shepherd – Ein leichter Job
Lara Möller – Die Seuche
Olaf Lahayne – Das grüne Loch
Nele Sickel – Neu
Galax Acheronian – Der stille Besucher
Andreas Koch – Retrospektive
Anja N. Schatz – Episoden II
Stefan Lochner – Gentleman im All
Tessa Maelle – Nanitas
Stefan Junghanns – Das Zeitgeschütz
Oliver Miller – Kein Erwachen
Christian Künne – Protophylanx
Sybille Lengauer – Salvation

Becky

Veröffentlicht: Juli 24, 2020 in Kurzgeschichten
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Becky
(Das Haus)

Freitag Abend, kurz vor neun Uhr. Walter lümmelt breitbeinig auf der Couch und feuert seine favorisierte Gladiatorenmannschaft an. Die Hologramme der Kämpfer werden aus dem Keller des Hauses live in Walters Wohnzimmer übertragen, wo sie zwischen Couchtisch und Billigwohnwand brutal aufeinander eindreschen. Walter sitzt mittendrin und quiekt aufgeregt, wenn holographisches Blut in seine Richtung spritzt. Er hat bereits fünf Alko-Ports intus, sein Gesicht ist stark gerötet, der Atem geht schnell. Das fensterlose Zimmer stinkt stechend nach seinem Schweiß und dem billigen Fusel. Im Schatten des Türrahmens lehnt seine Tochter Becky, sie hat die Arme vor der Brust überkreuzt, ihre Körperhaltung drückt starke Ablehnung aus. Erst in der Werbepause wird sie von Walter bemerkt, der Beckys rosa schillernden Ganzkörperanzug und ihre pinkfarbene Perücke abfällig mustert. „Willst du dich so etwa im Haus zeigen?“, fragt er mit kratziger Stimme. Becky nickt wortlos, ihre pink eingefärbten Augen blitzen trotzig. „Heutzutage ist euch wirklich nichts mehr peinlich“, grummelt Walter, verächtlich schnaubend wendet er sich wieder dem Holoprogramm zu. Becky zeigt ihm den Finger und stürmt beleidigt aus der Wohnung. Walter rülpst ihr vorwurfsvoll hinterher.
„Was für ein Umami-Outfit!“, kreischt Libby, sie klatscht begeistert in die Hände und verstreut Glitzer bei jeder Bewegung. Zusammen mit den anderen Mädchen belagert sie die streng bewachten Fahrstuhltüren zur oberen Ebene. Da den Bewohnern der unteren Hausebene ein Betreten der oberen Etagen nicht gestattet ist, gilt das imposante Fahrstuhlfoyer als beliebter Treffpunkt, um einen zufälligen Blick auf die reiche Oberschicht zu erhaschen und vielleicht selbst gesehen zu werden. Becky setzt ihr schönstes Lächeln auf und gesellt sich zur Gruppe. Gestenreich begrüßt sie die Freundinnen, kommentiert deren grellbunte Outfits und dreht Holovideos für die Unterhaus-Community. Der Abend verfliegt zwischen Gelächter und Tratsch, völlig überraschend ertönt das erste Signal zur Nachtruhe aus den diskret platzierten Foyer-Lautsprechern. Libby flucht kreativ, lautstark vertritt sie die Meinung es sei verdammt viel zu früh, um in die Quartiere zurückzukehren. Becky stimmt entschieden zu, sie stampft mit dem Fuß auf und wirft pinkfunkelnde Blicke zur schwarzvermummten Security, die vor den geschmackvoll verzierten Fahrstuhleingängen postiert ist und reglos ins Nichts starrt. Die Freundinnen nicken zustimmend, niemand hat die Absicht, jetzt schon ins Bett zu gehen. Ihre Gespräche werden lauter, das Gelächter erhält eine schrille Note. Erst beim dritten Signal zur Nachtruhe kommt Bewegung in die Gruppe, betont geziert flanieren die Mädchen aus dem Foyerbereich. Becky lässt sich mit Libby ein paar Schritte zurückfallen, Arm in Arm trotten die beiden das schier endlose Treppenhaus hinunter. „Ich muss dir was erzählen“, zischt Becky verschwörerisch. „Das dachte ich mir schon“, flüstert Libby und grinst. „Er hat sich wieder gemeldet.“ Becky zieht bedeutungsvoll die hauchdünn gezupften Augenbrauen nach oben. „Du meinst Er – Er?“ „Ja natürlich, wen soll ich sonst meinen?“ „Keine Ahnung, vielleicht hast du ja ein Dutzend Lover?“, frotzelt Libby in kindischem Tonfall. „Er ist nicht mein Lover!“ Becky wird laut, zornig reißt sie sich von Libbys Arm los. Die vorausgehenden Mädchen bleiben abrupt auf der Treppe stehen und wenden sich mit begierigen Gesichtern an die Zankenden. „WER ist dein Lover?“, fragt ein pummeliges Mädchen mit unverhohlener Neugierde, ihre Begleiterinnen spitzen aufgeregt die Ohren. „Er heißt Joe Gehtdichnichtsan und jetzt verpiss dich, Pamela“, schnappt Libby kampflustig, sie knufft Becky verschwörerisch in die Rippen und scheucht die anderen Mädchen unter viel Gezeter fort. „Jetzt erzähl schon“, drängelt sie, als die Gruppe endlich ausser Hörweite ist. „Da gibt es nicht viel zu erzählen“, schmollt Becky beleidigt. „Jetzt mach schon, lass mich nicht betteln.“ „Okay, hör zu: Er hat mir geschrieben! So richtig klassisch, mit echten Worten und so, total digital!“ Beckys Stimme überschlägt sich aufgeregt. „Oh. Wow“, macht Libby beeindruckt, „mir hat noch nie einer was geschrieben.“ „Ja, echt wow“, bestätigt Becky und reckt stolz das Kinn vor. „Weißt du von welcher Etage er kommt?“, fragt Libby nach kurzem Schweigen. „Nein. Er bleibt die ganze Zeit Inkognito“, seufzt Becky und lässt das Kinn wieder sinken. „Vielleicht kommt er ja von Oben! Oder, noch besser, vielleicht ist er ein Spion! Und er hat sich unsterblich in dich verliebt und entführt dich in sein Haus. Verbrechen aus Leidenschaft und so.“ „Du ziehst dir zu viele Holo-Romanzen rein“, lacht Becky. Ausgelassen kichernd verabschieden sich die Freundinnen, während das letzte Signal zur Nachtruhe über ihren Köpfen erklingt.
Walter ist vor einem Holo-Porno eingeschlafen, zwei dickärschige Frauen schmiegen sich stöhnend an seinen massigen Leib. Walter schnarcht seelenruhig zwischen ihren ausladenden Brüsten, sein Mund steht weit offen, er sabbert. Becky beendet den Porno mit angeekeltem Gesichtsausdruck, die Gestalten der Frauen lösen sich in Nichts auf, kalte Dunkelheit flutet das stickige Wohnzimmer. Becky schaudert, hastig wählt sie ein Entspannungs-Holo und die sanften Farben einer fernen Unterwasserlandschaft spülen die bedrückende Dunkelheit fort. Walter stöhnt und wälzt sich grummelnd auf die Seite, Becky zetert leise über seine ausgeprägte Dummheit, dann zieht sie fürsorglich die schmierige Sofadecke über seinen dicken Bauch und weint ein bisschen.

„Na, was sagst du?“
„Baby, du bist so unbeschreiblich sexy.“
„Ach, nicht doch.“ Becky lächelt geziert, sie dreht sich provozierend langsam vor dem blinkenden Holorecorder, wirft dem Aufnahmegerät eine Kusshand zu und kichert albern. Seit Stunden chattet sie mit jenem geheimnisvollen Verehrer, der sich Mysterious Romeo nennt und nur in Gestalt eines schattenhaften Avatars in Erscheinung tritt. Becky posiert für ihn, zeigt sich in unterschiedlichen Outfits, wechselt mit rasender Geschwindigkeit die Perücken und lässt die Spitze ihrer Unterwäsche verführerisch aufblitzen, um zu zeigen was sie unter den bunten Hosenanzügen zu bieten hat. Mysterious Romeo überschüttet sie mit Komplimenten und ihr Zimmer mit holographischen Blumenbouquets. Becky berauscht sich an seiner Zuneigung und zeigt schließlich noch etwas mehr. Walter platzt wie eine zornige Lawine in die erotisch aufgeheizte Szene und beginnt sofort zu schreien. „Was geht hier vor?“, brüllt er und starrt mit hervorquellenden Augen auf Beckys nackte Brüste, die dunkelroten Rosen, die auf ihrem Bett liegen und den schattenhaften Mann, der sich zwischen den schimmernden Blumen räkelt. Becky quiekt erschrocken und beendet geistesgegenwärtig die Holoverbindung, Mysterious Romeo löst sich augenblicklich in Luft auf, die Blumen verschwinden. Mit hochrotem Kopf zieht Becky den Reißverschluss ihres Hosenanzugs nach oben, dann stemmt sie die Fäuste in die Hüften und holt tief Luft. „Was, zur Hölle, hast du in meinem Zimmer zu suchen?“, kreischt sie aus vollem Hals, doch Walter lässt sich von ihrer Entrüstung nicht einschüchtern. „Wer war das?“, knurrt er und baut sich drohend vor seiner Tochter auf. „Das geht dich einen Scheißdreck an“, faucht Becky aufgebracht, mutig hält sie Walters strengem Blick stand und weicht keinen Schritt zurück. „Du hältst deine Titten in die Welt und hast die Frechheit mir zu sagen, das ginge mich nichts an? Du bist zwölf Jahre alt, verdammtnochmal!“ „Ich weiß wie alt ich bin, danke Vater.“ Becky spuckt das Wort ‚Vater’ betont angewidert aus, Walters Wangen werden weiß vor Zorn, seine Kiefermuskeln treten stark hervor. „Du benimmst dich wie eine Kellerhure“, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. „Wie kannst du so etwas sagen!“, entfährt es Becky empört, doch Walter zuckt nur abwehrend mit den breiten Schultern. „Wenns die Wahrheit ist“, zischt er kalt. Becky wirft sich heulend auf das Bett und vergräbt das Gesicht in den farbenfrohen Kissen. Walter schüttelt abfällig den Kopf, schnaubend nimmt er Beckys Holorecorder vom Gestell, dreht das fragile Gerät in seinen riesigen Händen. „Du hast zwei Wochen Stubenarrest“, brummt er heiser. „Ich hasse dich!“, brüllt Becky zwischen den Kissenbergen hervor. „Und Holo-Verbot“, setzt Walter hinterher, er lässt den Recorder in seiner Hosentasche verschwinden, dreht sich um und verlässt mit gesenktem Kopf das Zimmer. Becky schreit ihm wüste Beschimpfungen hinterher bis ihre Stimme versagt.
Drei Tage vergehen, in denen Becky kein Wort mit Walter spricht. Beleidigt harrt sie in ihrem Zimmer aus, ernährt sich von gehorteten Chips und Schokoriegeln und ignoriert Walters, manchmal geflüsterte, manchmal gebrüllte Ansprachen vor ihrer verschlossenen Tür. Drei Tage lang versendet sie heimlich liebeskranke Botschaften mit einem alten Holorecorder, den Walter bei seiner Strafaktion übersehen hat. Unter Tränen berichtet sie ihrem Mysterious Romeo von der qualvollen Gefangenschaft und Romeo antwortet mit viel Pathos und schmalzigen Versprechen. Am vierten Tag ist Becky verschwunden. Walter bemerkt ihr Verschwinden erst am späten Abend, als er die Sicherheitsanzeigen der Wohnung überprüft und erschrocken feststellen muss, dass Beckys Vitalwerte nicht mehr aufgelistet werden. Wie von der Tarantel gestochen stürmt er ins Kinderzimmer, findet dort jedoch nur Unordnung und ein zerwühltes, leeres Bett. Walter tobt. Ist außer sich vor Zorn. Er brüllt wie ein verletzter Stier und trampelt schäumend durch die Wohnung, bis er völlig entkräftet erkennen muss, dass sein Wutausbruch Becky nicht zurückbringen wird. Außer Atem lässt er sich auf die Couch fallen, um bei einem Alko-Port über das Problem nachzudenken. Unzählige Flaschen später torkelt er schwerfällig über die menschenleeren Flure der Etage, um Beckys bester Freundin Libby einen Besuch abzustatten. Kurz nach Mitternacht steht er schwankend vor Libbys Wohnung und grölt ihren Namen aus voller Kehle. Libbys Vater öffnet im Unterhemd die Tür und verpasst dem randalierenden Walter einen Kinnhaken, ohne vorher Fragen zu stellen. Walter landet hart auf dem Hosenboden und glotzt verwirrt. „Was willst du hier, Kowalski?“ Libbys Vater verschränkt die muskulösen Arme vor seiner massiven Brust und blickt kampflustig auf Walter hinab. Der rappelt sich stöhnend zurück auf die Beine und reibt sich über das lädierte Kinn. „Ist meine Tochter hier?“, fragt er und blickt dabei beschämt auf seine Füße. „Nein. Hau ab.“ „Kann ich mit Libby sprechen?“ „Nein. Hau ab, hab ich gesagt.“ „Entschuldige die Störung, Harald.“ „Verpiss dich, Kowalski.“ Walter lässt den Kopf noch tiefer hängen und tritt den Rückzug an. Beschämt trottet er nach Hause und säuft, bis der Schlaf ihn gnädig übermannt. Am nächsten Morgen durchsucht Walter Beckys Zimmer, doch er findet kein verstecktes Tagebuch, und auch keine geheimen Holoaufzeichnungen oder Notizen, die ihm einen Hinweis auf ihren Verbleib geben könnten. Hoffnungsvoll blättert er durch Beckys virtuelle Freundesliste, wählt die Nummern ihrer Freundinnen und erkundigt sich höflich, ob jemand seine Tochter gesehen habe. Doch niemand weiß etwas von Becky, niemand hat sie gesehen. Frustriert gibt Walter schließlich auf, er verfasst eine offizielle Vermisstenanzeige für die Community und hofft auf das Beste.

Freitag Abend, kurz vor neun Uhr. Walter hockt vornübergebeugt auf der Couch und starrt desinteressiert auf die Holo-Gladiatoren, die sich vor seinen tränensackschweren Augen in Stücke reißen. Zu seinen Füßen türmen sich leere Alko-Ports, das Zimmer und Walter stinken nach ranzigem Schweiß und Einsamkeit. Wochen sind vergangen, seit Becky verschwunden ist und kein Tag, an dem Walter nicht nach ihr gesucht hat. Er war auf jeder Etage der Ebene, hat an alle Türen geklopft, hat Suchbotschaften verschickt und sich stundenlang im Fahrstuhlfoyer herumgetrieben. Doch Becky kommt nicht zurück und niemand kann sagen, wohin sie verschwunden ist. Walter ertränkt seine Gefühle in Alkohol, jede Nacht braucht er etwas mehr, um endlich in den Schlaf zu finden. Auch an diesem Abend stürzt er die Alko-Ports rücksichtslos in sich hinein, wie viele es sind, interessiert ihn nicht mehr. Die Gladiatoren verspritzen ihr grellrotes Blut auf seiner Couch, ihre grässlichen Todesschreie gellen durch das stickige Zimmer, doch Walter kann sich nicht an ihrer Darbietung erfreuen. Er säuft sein Gehirn methodisch müde, vergisst sich und seine Sorgen und dämmert langsam dem Schlaf entgegen. Kraftlos wählt er ein beliebiges Porno-Programm für Heteros und beginnt träge an sich herumzuspielen, während die Huren um ihn herum mit ihrer Show beginnen. Stöhnend räkeln sich die drei Frauen umeinander und um Walter, der nun doch ein wenig in Fahrt kommt und wohlig zu grunzen beginnt. Er lehnt sich schwer atmend zurück, versinkt im zuckenden Fleisch der Holographien und massiert sich rhythmisch zum Höhepunkt. Stöhnend blickt er auf, und in Beckys Gesicht. Walter schreit und weicht entsetzt zurück, das Hologramm seiner Tochter beugt sich ungerührt über den nackten Körper einer fremden Frau und grinst wollüstig. Walter schreit, ein Orkan aus Scham und Schuldgefühlen tobt durch seinen Kopf, hastig zieht er sich die Unterhose zurecht, dann bricht er in Tränen aus.

© sybille lengauer

Der Mann auf der Raumstation

Veröffentlicht: November 19, 2019 in Kurzgeschichten
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Der Mann auf der Raumstation

Der Mann erwachte in tiefer Finsternis. Mit weit aufgerissen Augen und ohne jede Erinnerung an das, was vor seinem Erwachen geschehen war, stierte er in die Schwärze und fürchtete, blind geworden zu sein. Er wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht und wimmerte leise, da er nichts sah als absolute Dunkelheit. Heißkalte Wellen der Angst brandeten über seinen Rücken, doch er kämpfte tapfer gegen die aufsteigende Panik. Keuchend tastete er um sich und begriff, dass er auf kaltem, glatten Boden lag. Er wälzte sich erst auf die Knie, dann stand er umständlich auf und atmete gegen ein heftiges Schwindelgefühl an. Lange stand er so da, schwankend und schnaufend, mit ausgestreckten Armen nach Gleichgewicht suchend, bis sein Kreislauf sich allmählich beruhigte. Das ohrenbetäubende Rauschen seines Blutes verklang und es gelang ihm besser, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Er lauschte angestrengt ins Dunkel, doch hörte er nur jene Geräusche, die er selbst verursachte und fühlte sich dem Gedanken ausgeliefert, die allumfassende Finsternis verschlänge selbst diese, seine gehetzten Atemzüge. Erneut brandete die Panik heran, ein leises Schluchzen drängte aus seiner eng werdenden Kehle, der Puls beschleunigte sich und seine Beine begannen stark zu zittern. „Hallo?“ stieß er hervor, mehr um sich selbst von der Existenz seiner Stimme zu überzeugen, als um tatsächliche Antwort hoffend. „Ist da jemand?“ Doch nur sein eigener, pochender Herzschlag antwortete seinem ängstlichen Rufen und verstärkte das beklemmende Gefühl, von unsichtbaren Gefahren belauert zu werden. „Hallo!“ rief er noch einmal, dann nahm er all seinen Mut zusammen und tastete durch die Dunkelheit. Vorsichtig, mit Händen und Füßen seine Umgebung erkundend, einen kleinen Schritt vor den anderen setzend, schob er sich langsam voran. Seine suchenden Finger stießen schließlich auf eine Wand, die sich so kalt und glatt anfühlte wie der Boden, auf dem er gelegen hatte. Die linke Hand an die kalte Wand gepresst, die rechte Hand suchend in die pechschwarze Stille gestreckt, drang er weiter in die undurchdringliche Schwärze vor. Zwar wusste er nicht, wohin er sich bewegte, doch die Bewegung selbst vermittelte eine gefühlte Sicherheit, nach der er dringend bedurfte. Dann sah er die Sterne. Erst dachte er an eine Sehstörung, hervorgerufen durch die alles umhüllende Finsternis. Funkelnde Tupfer blitzten in seinem linken Augenwinkel, er wandte seine Aufmerksamkeit irritiert der Störung zu und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er vor ein großes Fenster geraten war, welches sich nahtlos in die glatte Wand einfügte. Er presste sein Gesicht an das Fenster und starrte fassungslos hinaus. Unberührt von seinen Emotionen starrten die Sterne zurück, sie verschenkten ihr irrlichterndes Gleißen ohne Anteilnahme an jeden, der in der Lage war nach ihnen zu schauen. Eine Erkenntnis brach wuchtig an die Oberfläche seines gelähmten Verstandes. „Ich bin im Weltraum.“ hauchte er betroffen. Jäh brandeten Fragmente verschütteter Erinnerungen in seine konfuse Bestürzung, eine Flut an Bildern und Gesprächsfetzen schwemmte die Sterne vor seinen Augen fort. Von heftigem Schwindel erfasst, taumelte er rückwärts und fiel schwer auf den Hosenboden, japsend und zitternd saß er da, während die Vergangenheit unkontrolliert auf ihn eindrang.
„Verdammt, wir haben ein Strahlungsleck. Geh zum Schildreaktor und sieh nach den Injektoren.“ Eine dunkel uniformierte Frau wirft ihm den Befehl mit knappem Kopfnicken zu, dann konzentriert sie sich auf einen kleinen Monitor, dessen Anzeigen hektisch blinken. Eine graue Haarsträhne löst sich aus ihrem Haarknoten und fällt vor ihr besorgt wirkendes Gesicht, mit einer ärgerlichen Handbewegung wischt sie sie fort. Ihr Name lautet Walsh. Leutnant Beth Walsh.
„Der Strahlungsalarm wurde ausgelöst. Was ist passiert?“ Eine hochgewachsene Gestalt in oranger Schutzkleidung fängt ihn auf dem Weg zum Reaktorraum ab. In der Stimme des jungen Mannes ringen professionelle Neugierde und besorgte Unerfahrenheit um den ersten Platz, sein bartloses Gesicht wirkt unter der dünnen Folie des Schutzhelms unnatürlich blass, trotzdem reckt er mutig das Kinn vor. Er hört auf den Namen Reid. Fähnrich Connor Reid.
„Verschwinde von hier, du Idiot!“ Ein stämmiger Techniker wirft Fähnrich Reid aus dem Reaktorraum. Die leidenschaftlichen Proteste des jungen Mannes ignorierend, schubst er ihn kurzerhand auf den Gang der Sektion zurück und betätigt die Türverriegelung. Seine schwarzen Augen leuchten intensiv, seine ungeschützten Wangen und Hände sind von der entweichenden Strahlung stark gerötet. „Wir müssen die Eindämmung wiederherstellen, sonst sind wir geliefert!“ brüllt er entschlossen. Sein Name ist Mason. Leitender Ingenieur Owen Mason.
„Neukalibrierung gescheitert. Überprüfe Befehlseingabe.“ Eine sachliche Computerstimme, die mitleidslos die Katastrophe kommentiert. Das Entsetzen in den Augen des leitenden Ingenieurs Mason, als er die Ausweglosigkeit der Situation erkennt und von der sofortigen Evakuierung der Raumstation spricht. Rote Lichter. Warnsirenen. Das Gefühl, ganz nah an einem Abgrund zu stehen. Der Geruch von synthetischem Zimt und heißem Metall. Eine kurze Reflexion des eigenen Spiegelbildes auf einem blankpolierten Bedienelement. Ein entsetztes Gesicht, das den Namen Androy Dee trägt. Der verschreckte Mann im Reaktorraum und der zitternde Mann in der Dunkelheit verschmelzen zu einer Person, die erschrocken nach Luft schnappt. „Sie haben mich zurückgelassen.“ flüstert er schockiert.
Atemlos saß Androy Dee im Dunkeln, minutenlang blinzelte er mit tränenden Augen ins Nichts, während sich weitere Bruchstücke seiner Erinnerung zusammenfügten und ein lückenhaftes Bild der vergangenen Ereignisse entstand. Er sah Owen Mason auf dem Weg zu den Fluchtkapseln stöhnend zusammenbrechen. Sah sich selbst bei dem wimmernden Mann ausharren, um ihm Mut zuzusprechen und fühlte, wie er eben jenen Mut verlor, als der Ingenieur einen letzten, verkrampften Atemzug tat und starb. Er hörte die gehetzten Worte der Entschuldigung, mit denen er den Leichnam zurückließ, durchlebte wie im Zeitraffer den kräftezehrenden Lauf zu den Fluchtkapseln und fühlte die heranrasende Welle greller Panik, als er bei seiner Ankunft erkennen musste, dass alle Kapseln fort waren. „Oh nein. Oh nein. Oh nein.“ jammerte Androy Dee in seiner Erinnerung und in der Finsternis, vor dem Fenster sitzend. Die Bilderflut aus der Vergangenheit endete abrupt und ihm war, als würde sein Selbst zu einem kläglichen Schluchzen zusammenschrumpfen. Mühsam kam er auf die Beine, schwer lehnte er sich an das glatte Fenster, das die funkelnde Schönheit der mitleidlosen Sterne offenbarte. Er blickte nach draußen und glaubte beinah, in der Ferne die ovalen Fluchtkapseln sehen zu können, wie sie, kleinen Blumensamen gleich, in der Unendlichkeit des Weltraums verschwanden, doch es waren nur seine überreizten Nerven, die einen grausamen Scherz mit ihm trieben. „Ich bin noch hier!“ schrie Androy Dee, mit aller Kraft trommelte er gegen das Fenster, doch dann verstand er, dass niemand da war, um ihn zu hören. Er war absolut allein.
*
„Mayday, Mayday. Hier spricht Raumstation Alpha7. Kann mich jemand hören?“ Unter dem schummrigen Licht der Notbeleuchtung war es ausgesprochen schwierig, die komplizierten Regler der Kommunikationsanlage sachgemäß zu bedienen. Androy Dee hatte frustrierend lange Stunden damit zugebracht, die autonome Energieversorgung im Kommandozentrum der Raumstation wiederherzustellen. Die Reparatur war quälend langsam vorangegangen, doch schließlich war es ihm gelungen jenen kleinen Teil der Station zu reaktivieren. Viele Apparaturen waren aufgrund der hohen Strahlenbelastung irreparabel beschädigt und so setzte er all seine Hoffnung in die robuste Zuverlässigkeit des Deep-Space-Funksystems. Mit zusammengekniffenen Augen stierte er auf die Anzeigen, unablässig funkte er seine Botschaft in den Weltraum. „Hier spricht Raumstützpunkt 62. Sie kommunizieren auf einer militärischen Frequenz. Identifizieren Sie sich.“ blaffte es unvermittelt aus der Anlage. Androy Dee zuckte erschrocken zurück, dann stieß er einen erleichterten Freudenschrei aus. „Ich bin noch hier!“ schrie er aufgeregt, die nervenaufreibende Anstrengung der letzten Stunden fiel ab von seinem Herzen und er fühlte sein Selbst federleicht werden. „Mein Name ist Androy Dee. Ich befinde mich auf Raumstation Alpha7. Wir mussten die Station evakuieren, aber ich habe es nicht zu den Fluchtkapseln geschafft. Bitte, holt mich hier raus!“ „Wollen Sie mich verarschen, Mann?“ fragte der Funker auf Raumstützpunkt 62 kaltschnäuzig. „Was? Nein!“ schrie Androy Dee, seine wilde Euphorie wandelte sich schlagartig in blankes Entsetzten. „Verfolgen Sie mein Signal zurück, wenn Sie mir nicht glauben wollen!“ bat er den Fremden verzweifelt. „In der Tat.“ antwortete jener nach einem kurzen Moment des Schweigens. Seine Stimme klang zwar weniger barsch, drückte jedoch immer noch skeptische Reserviertheit aus. „Holt mich hier raus!“ schluchzte Androy Dee. „Ich verständige das Hauptquartier. Erwarten Sie meine Rückmeldung. Raumstützpunkt 62 Ende.“ Der Mann auf der Raumstation brach in Freudentränen aus, auch wenn sich die heitere Leichtigkeit nicht wieder einstellen wollte, die ihn eben noch von Kopf bis Fuß erfasst hatte. Mit jeder verstreichenden Minute drückte die Einsamkeit schwerer auf seine Brust, unbehaglich wurde er sich der Dunkelheit bewusst, die vor der Tür des Kommandozentrums auf ihn zu warten schien. Als die vertraute Stimme des Funkers erneut aus der Kommunikationsanlage dröhnte, riss sie Androy Dee aus einer düsteren Erstarrung, die sich seiner schleichend bemächtigt und jegliches Gefühl der Hoffnung aus seinen Gedanken getilgt hatte. „Raumstützpunkt 62 ruft Raumstation Alpha7, empfangen Sie mich?“ Androy Dee schnellte aus seiner brütenden Starre empor. „Hier Raumstation Alpha7, ich empfange Sie laut und deutlich!“ meldete er aufgeregt. „Ich habe schlechte Nachrichten.“ meldete der Funker geradeheraus, er schien kein Freund der umständlichen Rede zu sein. Androy Dee erwiderte nichts. Stumm stand er vor der Kommunikationsanlage und jegliche Lebendigkeit wich aus seinen Augen. „Wir haben Ihre Angaben überprüft. Raumstation Alpha7 wurde vor achtzig Tagen evakuiert. Ein Crewmitglied mit ihrem Namen ist nicht in den Besatzungslisten verzeichnet.“ „Aber.“ hauchte Androy Dee, doch der Funker unterbrach ihn augenblicklich. „Ich kann den Sachverhalt erklären. Bitte hören Sie mir aufmerksam zu.“ „In Ordnung.“ antwortete Androy Dee und unterdrückte ein Zittern. „Sie sind der oberste Wartungsandroide der Station, Mister Dee. Wir vermuten, dass Ihr Uplink zum Leitsystem durch die Strahlung zerstört wurde, die während des Reaktorunfalls entwichen ist. Offenbar wurden Sie in den vergangenen Tagen durch Ihr internes Selbsterhaltungsprogramm reaktiviert.“ sagte der Funker und es klang, als würde er die komplizierteren Worte von einem Blatt Papier ablesen. „Aber ich atme doch! Ich kann fühlen, dass ich Lebe.“ flüsterte Androy Dee, seine Knie wurden weich und er hielt sich krampfhaft an der Bedienfläche der Kommunikationsanlage fest, um nicht zu stürzen. „Raumstation Alpha7 ist seit achtzig Tagen offline. Es gibt keinen Sauerstoff mehr.“ erwiderte der Funker sachlich. „Es tut mir leid.“ setzte er in gefühlvollerem Ton hinzu und es schien, als wäre damit alles gesagt. „Ihr werdet mich nicht rausholen.“ murmelte Androy Dee nach einer Minute schockierten Schweigens. „Sie sind radioaktiv verstrahlt, Mister Dee. Raumstation Alpha7 ist auf unbestimmte Zeit gesperrt. Es tut mir leid.“ wiederholte der Mann am anderen Ende der Verbindung. „Was kann ich tun?“ fragte Androy Dee und er konnte hören, dass sein Gesprächspartner umständlich schluckte, bevor er zu einer Antwort ansetzte. „Deaktivieren Sie Ihr internes Selbsterhaltungsprogramm.“ „Wie bitte?“ „Schalten Sie sich ab, Mister Dee.“ „Nein!“ schoss es spontan aus Androy Dee heraus, mit einem unartikulierten Schrei beendete er die Funkverbindung zu Raumstützpunkt 62. In der anschließenden Stille hörte er das wilde Pochen seines künstlichen Herzens. „Das kann ich nicht.“ flüsterte er dumpf.
*
Still war es, auf der menschenverlassenen Raumstation Alpha7. Düster und Glanzlos hing sie in der unermessliche Leere des Weltalls, wie ein ungeschliffener Edelstein, der seine Schönheit nicht dem eiskalten Griff des Vakuums preisgeben mochte. Tief in ihren Eingeweiden kämpfe Androy Dee mit gerechtem Zorn gegen das klaustrophobische Gefühl, von nahen Wänden erdrückt zu werden. Ausdauernd fluchte er über die lebensnahen Körperfunktionen, die ihm das Arbeiten unter Extrembedingungen erschwerten und er wurde nicht müde, an der fachlichen Kompetenz seiner Erbauer zu zweifeln. Seit neun Stunden quälte er sich durch bedrückend enge Wartungsschächte, um eine defekte Leitung des Energiesystems zu reparieren. Schweißüberströmt legte er einen letzten Bypass, dann kroch er ein Stück zurück, bevor er die neue Verbindung testete. Mit einem sonoren Brummen erwachte die instandgesetzte Leitung zu neuem Leben. Zufrieden überprüfte Androy Dee den Energiefluss mit einem Messgerät, dann beendete er den Reparatureinsatz mit aller erforderlichen Gewissenhaftigkeit. Androy Dee hatte Zeit. Es würde noch lange dauern, bis das Energiesystem der Station wiederhergestellt war und es würde noch länger dauern, die Schäden am Schildreaktor zu beheben. Doch Androy Dee war hier, um sich um die Bedürfnisse der Raumstation Alpha7 zu kümmern und er würde noch hier sein, wenn die Menschen wiederkehrten, um sie erneut in Besitz zu nehmen.

© sybille lengauer

Kueperpunk: Rückblick auf die gestrigen Lesungen von Sybille Lengauer und David Pawn.

Die virtuellen Lesungen nach Oktober sind für uns immer sehr entspannt. Ganz anders als E-Book Event oder Literaturcon. Im Verlauf von fünfzehn Lesungen kann einfach immer mal was schiefgehen. Da genießt man die kleinen Termine im November und Dezember. Lesungen mit ein oder zwei Autoren erzeugen bei mir immer so eine Art Kaminzimmerstimmung. So wie am gestrigen Samstagabend.
Sybille Lengauer und David Pawn haben für uns auf insgesamt drei Bühnen aus ihren Werken gelesen. Barlok hat gewohnt konsequent Textstellen eingefordert – da ist er knallhart – , um für David ein geheimes Forschungszentrum, für Sybille ein Raumschiff und eine wunderschöne Gartensphäre zu bauen. Wobei er für letztere noch einen großartigen Spezialeffekt vorbereitet hatte, der nicht nur das Publikum, sondern auch die Autorin selbst überrascht haben dürfte…

Weitere Rückblicke gibt es dort:

Bei BukTom: http://buktomblog.blogspot.com/2019/11/seltsame-bienen-gruner-ather-und-mehr.html

Bei Dorena in Gridtalk: https://www.gridtalk.de/showthread.php?tid=3463&pid=40578#pid40578

Die Zeitmaschine

Veröffentlicht: April 2, 2019 in Kurzgeschichten
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Die Zeitmaschine

Tief, tief unten, in der absoluten Stille, liegt die Zeitmaschine. Vom schwärzesten Nichts umschlungen, von unfassbarem Druck umgeben ruht sie in ihrem Sarkophag aus Gestein.
Und ich sitze hier, gefangen in ihr. Sterbe und frage mich, wie es so weit kam.
Wie ich hier stranden konnte.

Es begann alles ganz einfach, beinah kindlich naiv. Eine Anzeige in der Zeitung, eine kleine Annonce nur: „Zeitmaschine an Bastler abzugeben“ und ich dachte bei mir, dass das doch etwas wäre, womit ich die langen Abendstunden auf Burg Weyhen füllen könnte. Denn lange erschienen sie mir, diese düsteren Winterabende, an denen niemand da war, der mir Gesellschaft leisten wollte. In denen die Dunkelheit wie eine Glocke über dem Anwesen lag und nur das leise Surren meiner dampfbetriebenen Roboter durch die Stille zu mir drang. Was wusste ich damals schon von der Zeit? Nichts wusste ich. Also kaufte ich sie, diese Kuriosität. Überwies das Geld per Express und schickte zugleich meine metallenen Diener zur angegebenen Adresse. Wartete ungeduldig auf ihre Rückkehr und was schnaubten die Kupferpferde den steilen Berg herauf, als sie den Karren vor mein Tor zogen. Was drückten sich die eisernen Gelenke der Trägerspinnen durch, als sie die Kiste behutsam abluden und zu meiner Werkstatt brachten. Schwer war sie, diese hölzerne Kiste, aus dicken Brettern gezimmert und darinnen ruhte, in Wolle und Holzspäne gebettet, die Zeitmaschine. Sie erinnerte mich, in ihrer kugeligen Form, an ein kleines U-Boot, welches ich einmal auf der Weltausstellung zu Paris gesehen hatte. Dicke Metallplatten, mit derben Bolzen verschweißt. Ein Bullauge, das mich fragend anzusehen schien. Viel Rost und wenig Ästhetik. So stand sie vor mir, die klobige Maschine. Ein Brief lag anbei, in fragiler, zittriger Handschrift rief mich der Verkäufer zur Vorsicht auf und ich lächelte über dieses liebenswerte Detail. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, er hätte diesen Brief ernst gemeint.
Meine Abende füllten sich nun mit der Arbeit an der Zeitmaschine. Ich konstruierte ein paar Helfer für die unzähligen Aufgaben und alleine daran hatte ich meine helle Freude. Wir arbeiteten meist still, griffen wortlos ineinander und vielleicht wurde ich selbst zu einem Teil dieses faszinierenden Getriebes, in das ich mich versenkte. Oft begrüßte ich, nach einer durcharbeiteten Nacht am Fenster lehnend, den ersten Hahn, wenn er aus dem Dorf herauf krähte. Während sich hinter mir das emsige Treiben an der Maschine fortsetzte, stieß ich mit einer Tasse Tee auf den herandämmernden Morgen an. Beglückwünschte mich zu der Idee, diesen fabelhaften Zeitvertreib erworben zu haben. Mit jeder Nacht, die ich an der Maschine verbrachte, veränderte sich ein wenig von ihrer Erscheinung und damit veränderte sich auch schleichend meine Einstellung zu ihr. War ich erst fasziniert, wandelte sich meine Empfindung allmählich zur Hingabe. Wo die lieblos angebrachten Bolzen verzierten Nieten wichen, wo hässliche Schweißnähte durch Präzision ersetzt wurden, da wuchs mein Herz in die Maschine hinein. Vor allem der komplexe Motor, der mich durch seinen komplizierten Aufbau faszinierte, gewann meine Liebe im Sturm. Ganze Nächte verbrachte ich in seinen Eingeweiden, studierte, sinnierte, manipulierte und manchmal schlief ich ein, eingeklemmt zwischen den gewundenen Röhren und unzähligen Hebeln, träumte vom Herz der Maschine. Wenn ich dann erwachte, verspannt und noch erschöpfter als zuvor, verstand ich meist ein wenig mehr von dem geheimnisvollen Mechanismus, der mich in seinen Bann gezogen hatte. Im Traum offenbarten sich kleine Details, die ich Unterbewusst bemerkt hatte. Ich atmete den Geist der Maschine, vergaß oft zu essen und zu trinken, bis mich ein besorgter Diener, missbilligend Piepsend, darauf hinwies und mir ein Tablett vor die Nase setzte. Dann schlang ich gierig in mich hinein, was auch immer auf den Tellern lag, trank durstig den Wein und die Fruchtsäfte, aß sogar das dekorative Obst und den stinkenden Käse. Dachte manchmal an ein wenig Hygiene, um nicht gänzlich zum Neandertaler zu verkommen. Badete und kleidete mich neu ein. Doch dann ging es weiter, in den Tiefen der Zeitmaschine, bis der Schlaf mich wieder übermannte. Wochen verbrachte ich auf diese Weise, bis ein besorgter Brief meines ehrwürdigen Vaters mich erreichte, in dem er darauf hinwies, dass ich meine Geschäfte zu vernachlässigen begann. Sein wachsames Auge schwebte immer über mir und es waren ihm unliebsame Gerüchte zu Ohren gekommen, über die unermüdlichen Bestrebungen seines Sohnes, sich mit seinen Basteleien zum Narren zu machen. Beschämt verringerte ich die Zeit, die ich mit der Maschine verbrachte, konzentrierte meine Kräfte nicht mehr gänzlich auf sie. Ich beauftragte die Dienerschaft, mich zu festen Zeiten ins Bett zu geleiten und hielt mich an ihre Aufforderungen. Beschäftigte mich des Tages wieder mit den trockenen Angelegenheiten, die das Leben mit sich brachte. Die Fortschritte an der Zeitmaschine gingen nun zwar langsamer voran, doch Fortschritte waren es trotzdem und so war ich es zufrieden. Und auch mein Vater war zufrieden, sein nächster Brief strahlte, zu meiner Erleichterung, wieder die teilnahmslose Neutralität aus, die er meist für mich reserviert hatte.
Mit gemischten Gefühlen denke ich an jene Nacht zurück, in der die Zeitmaschine schließlich fertiggestellt war. Spiegelblank poliert erstrahlte sie im Licht der Kerzen, diese grazile Schönheit, in die ich das alte Mädchen verwandelt hatte. Ganz im Sinne des Jugendstils hatte ich sie gestaltet, ihr Inneres und Äußeres zu einem Kunstwerk verwoben, das Schönheit und Stabilität spielerisch vereinte. Das leise Summen des Motors streichelte zart wie Weidenkätzchen über meine Ohren, die blinkenden Lichter und irisierenden Farben verzückten mein Gemüt, verleiteten mich zu einem albernen Tanz um die großartige Maschine. Ich wollte sie probieren, wollte sie augenblicklich testen, doch hielt mich der volle Terminkalender des nächsten Tages zurück. Also schob ich es unwillig auf, ging frustriert zu Bett, schlief nicht, wachte nicht, träumte nicht, dachte nicht und verbrachte den kommenden Tag, mit all seinen Terminen, in einer Art Dämmerzustand, der mir schemenhaft in Erinnerung blieb. Erst der Abend steht mir wieder deutlich im Gedächtnis, als ich aufgeregt die Tür zur Werkstatt aufschloss und die Zeitmaschine, sanft vibrierend, im Licht der untergehenden Sonne schimmernd, vor mir stand, als hätte sie nur auf mich gewartet. Nun war ich froh, dass ich sie in der Nacht zuvor nicht probiert hatte. Dieser feierliche Moment wäre mir verwehrt geblieben. Ich gestehe, dass ich vor Erregung zitterte, als ich mich endlich in den ledergepolsterten Sessel setzte und die Hebel umlegte, die Regler justierte und schließlich, mit schwitzenden Fingern, die Zeit einstellte. Ein einfacher Test sollte es werden, eine Stunde in die Zukunft wollte ich springen und wie hätte ich ahnen können, dass es durch einen kleinen Fehler in der Installation der Zahnräder zehntausend Jahre waren, die ich sprang. Und hätte ich es gewusst, wäre ich vielleicht trotzdem gesprungen? Ich weiß es nicht.
Das Gefühl ist nicht zu beschreiben, mit dem ich durch die Zeit schoss. Vielleicht einem wild gewordenen Karussell gleich, das sich immer schneller dreht und mit sich den Körper und den Verstand des hilflosen Menschen reißt, beides in unterschiedliche Richtungen schleudernd. Ich verlor die Besinnung, bei dieser wilden Fahrt, erwachte erst wieder, als ein greller Alarm mich aus der Ohnmacht riss. Benommen suchte ich, mich in dem blinkenden, von Dampfschwaden durchzogenen Chaos zu orientieren, das mich umgab und schrak ordentlich zusammen, als es plötzlich von außen an die metallene Hülle klopfte. Ich überlegte nicht lange, dachte noch, es wäre einer meiner Diener, der sich um mich sorgte und so öffnete ich die Einstiegsluke. Fand mich prompt in einer Gruppe von lächelnden, eigentümlich gekleideten Menschen wieder, die mich herzlich in ihrer Welt empfingen. Es dauerte eine geraume Weile bis ich begriff, was vorgefallen war. Die freundlichen Ärzte und Wissenschaftler aus dem Jahrtausend, in dem ich gestrandet war, versuchten mir vieles zu erklären, doch leider waren die Kapazitäten beschränkt, mit denen sie mir, dem Reisenden aus einer fernen Vergangenheit, das Geschehene darlegen konnten. Unsere Sprachen waren grundverschieden und auch ihre Auffassung der Mathematik schien mir erst unbegreiflich und so hangelten wir uns mühsam voran, sie die geduldigen Lehrer, ich das einfältige Kind, das nur langsam begriff. Unzählige Male retteten sie mir das Leben, denn mein Immunsystem war den Attacken ihrer Umwelt schutzlos ausgeliefert. Ich hatte keine Abwehrkräfte gegen die Bakterien und Viren, die sich über die Jahrtausende weiterentwickelt hatten und so verbrachte ich die ersten Wochen in einem isolierten Raum, hing an nährenden Schläuchen, atmete gereinigte Luft und lauschte den mundgerechten Vorträgen, mit denen sie meinen verwirrten Geist fütterten. Langsam sickerten ihre Lehren in meinen Verstand und ich erkannte die Misere, in der ich mich befand. Zehntausend Jahre in der Zukunft, war ich gestrandet und kein Weg führte zurück. Nicht, weil die Maschine defekt gewesen wäre. Nicht, weil ich zur Rückkehr körperlich nicht in der Lage gewesen wäre, nein, es ist schlicht unmöglich, zurück in der Zeit zu springen. Man kann nur in die eine Richtung reisen und ich verfluche den Mann, der mir die Zeitmaschine verkauft hat, der in seiner zittrigen Handschrift zur Vorsicht gemahnt, aber mir nicht mit einer Silbe, nicht mit einem Wort die Crux an dieser Höllenmaschine verraten hat. Der mich betrogen hat, indem er verschwieg, dass ich niemals zurückkehren würde, hätte ich den Weg nach Vorne einmal angetreten.
Ich tobte, ich wütete, ich schrie, ich weinte. Alles das half mir nichts. Ich musste in dieser Zukunft bleiben, die mir so völlig Fremd war. Unsere schwerfälligen Dampfroboter waren Androiden gewichen, die aussahen wie exakte Ebenbilder von Menschen und Tieren. Die nicht nur niedere Arbeiten verrichteten, sondern Bücher schrieben, Konzerte gaben und sich selbst verwirklichten wie ihre Schöpfer, die friedlich mit ihnen Koexistierten. Selbst Ehen zwischen Mensch und Maschine waren nicht ungewöhnlich und dieser Gedanke verunsicherte mich für eine Weile. Ihr harmonisches Miteinander überzeugte mich jedoch schließlich, dass sie im Grunde nichts unrechtes taten.
Doch der Friede, den sie untereinander hegten, galt nicht den Siedlern, die vor Jahrhunderten den Mond kolonisiert hatten. Eine tiefe Feindschaft war zwischen den Bewohnern der Erde und den „Mondmaden“ entflammt, so bezeichnete man die Verwandten abfällig, die den Trabant in seinem Innersten in eine urbare Landschaft verwandelt hatten und rümpfte dabei die Nase, als ginge von dort oben ein sonderbarer Gestank aus. Ich lernte sie nie persönlich kennen, diese riesenhaften, bleichen Wesen, in die sich die Menschen in der geringen Gravitation des Mondes verwandelt hatten. Doch ich fühlte mit ihnen, denn wie ich selbst, so waren auch sie Gefangene ihrer Entscheidungen. Angepasst an die Lebensbedingungen des Mondes, war es ihnen körperlich und auch mental unmöglich, zur Erde zurückzukehren und so strebten sie die Unabhängigkeit an, die ihnen die Erde empört verweigerte.
Das Interesse an der vergangenen Kolonisationsgeschichte war dementsprechend groß. Nachdem wir eine gemeinsame Sprachgrundlage entwickelt hatten, befragten mich oft ganze Gruppen von Historikern und Politwissenschaftlern zu meinem umfangreichen Wissensschatz aus der Vergangenheit. Meine frühere Position ermöglichte mir, ihnen einen tiefen Einblick in die Fehler und Verstrickungen zu geben, die schließlich die europäischen Kolonialmächte zu Fall gebracht hatten. Sie hörten mir aufmerksam zu. Nahmen meine Berichte begierig auf, analysierten sie, verwerteten sie, nur leider lernten sie nichts daraus. Ein Krieg lag in der Luft und wie sehr sie sich auch für mein Wissen aus der Vergangenheit erwärmten, ihr Interesse an der vermeintlich glorreichen Zukunft machte sie blind für das kommende Unglück. Und so brach schließlich die Hölle über uns herein, nicht unverhofft, aber doch unerwartet plötzlich, an einem sonnigen Julitag. Die Ingenieure der Mondrebellen hatten ganze Arbeit geleistet. Ihre Bomben überlisteten die Frühwarnsysteme der Erde, unsere Abwehrraketen starteten zu spät. Immer noch gefriert mir das Blut in den Adern, wenn ich an die Minuten denke, in denen uns bewusst wurde, dass die Bomben fallen würden. Ein heller Kopf, ich gestehe, es war nicht meiner, riss mich aus dem starren Entsetzen, das sich an die Erkenntnis anschloss und schrie mich an, dass die Zeitmaschine meine einzige Rettung wäre. Man geleitete mich zur Maschine, die, grundsaniert und generalüberholt, in einer nahe gelegenen Halle wartete. Während um uns herum die Sirenen heulten, schoben mich zwei Wissenschaftler durch die Einstiegsluke, schüttelten mir unter Tränen die Hand, wünschten mir viel Glück und verschlossen die Kapsel. Ich stelle die Zeit auf ein Jahrhundert und sprang. Sprang in dem Wissen, dass die Menschen, Androiden und Tiere, die Pflanzen und selbst die Gebäude hinter mir gerade in Rauch und Flammen aufgingen. Ich kannte die mächtigen Bomben nicht, die an jenem Tag auf die Erde regneten. Doch ich sah, als ich schließlich aus dem Fenster meiner Zeitmaschine blickte, was sie angerichtet hatten. Nichts stand mehr aufrecht, nichts wuchs mehr, nicht einmal Licht fiel auf die schwarz verbrannte Erde. Verfinstert war der Himmel, immer noch, nach all den Jahren und ich weinte ob der Grausamkeit, mit der die Menschen des Mondes ihre Verwandten von der Erde hinweggefegt hatten. Von tiefer Traurigkeit erfasst, sprang ich nun vorwärts in der Zeit, immer wieder anhaltend, aus dem Fenster spähend. Voll düsterer Angst, dass sich nie wieder etwas regen würde, auf dem geschundenen Planeten. Als schließlich, vierhundert Jahre nach dem Bombardement, die Sonne zum ersten Mal durch die Wolken brach, hielt ich erneut an, um das Schauspiel zu beobachten. Ich verließ die Zeitmaschine nicht, ihre modernisierten Anzeigen warnten mich eindringlich vor der giftigen Atmosphäre und so saß ich einfach nur da und beobachtete, wie die gleißenden Sonnenstrahlen über eine öde Wüstenei strichen, die einst ein lebendiges Stadtviertel gewesen war. Vielleicht weinte ich wieder, vielleicht hatte ich keine Tränen mehr, ich Erinnere mich nicht daran. Irgendwann sprang ich wieder, wählte ein weit entferntes Ziel in der Zukunft und lehnte mich seufzend im Sessel zurück. Schloss die Augen und ließ das unangenehme Gefühl des irren Karussells über mich ergehen. Ich weiß nicht, ob ich einschlief oder die Besinnung verlor, doch als ich meine Augen wieder öffnete, bot sich mir ein phantastischer Anblick. Silbern glänzend lag die Welt vor mir. Metallisch schimmernde, in luftigen Spiralen sich windende Gebäude erhoben ihre schlanken Silhouetten endlos weit in einen strahlend blauen Himmel, der kreuz und quer zerflogen wurde von tausenden, pfeilschnellen Objekten, die wie Fische durch den Himmel schnellten. Nichts glich mehr dem Bild der wüsten Zerstörung, welches sich noch bitter in meine Netzhaut eingebrannt hatte, doch glich es auch in keinem Zug der belebten Natur, die ich in meinem tiefsten Inneren vielleicht herbeigesehnt hatte. Nur die Maschinen hatten sich von dem tödlichen Anschlag erholt und die Erde neu erobert. Ein schmales Band, das kaum sichtbar den Himmel zerteilte wies darauf hin, dass die Menschen auf dem Mond diese Auferstehung nicht überlebt hatten. Die Erde hatte keinen Trabant mehr, sondern einen blass leuchtenden Ring, der bei Tage kaum zu sehen war und ich war das einzig noch verbleibende, menschliche Wesen, das diesen Umstand zu betrauern vermochte. Ich überprüfte die Anzeigen der Zeitmaschine, die rot leuchtend auf eine toxische Umgebung verwiesen. Ich schaute hilflos aus dem Fenster, ob jemand von meinem Erscheinen Notiz genommen hätte, doch nichts regte sich in dem silbrig glänzenden Draußen. Vielleicht hatten die Maschinen kein Interesse an diesem Relikt aus der Vergangenheit, mit dem ich in ihrer Zeit gelandet war. Vielleicht waren sie auch zu sehr mit sich und dem Bau ihrer neuen Welt beschäftigt, als dass sie sich um mich gekümmert hätten. Wir kamen nie in Kontakt. Also sprang ich erneut, auf der Suche nach einer Zukunft, in der ich die Zeitmaschine vielleicht verlassen könnte. Die Jahrtausende verschwammen, die Welt der Maschinen wandelte sich in unbeschreiblicher Weise, entwickelte sich über den Planeten hinaus, sie schufen einen neuen Mond! Und als ich sie, in einer klaren Nacht, erneut besuchte, wandten sie sich endgültig den Sternen zu. Ich beobachtete, wie sich gigantische Stadtwesen, die Schwerkraft verlachend, in den Himmel erhoben. Begleitet von unzähligen, kleineren Raumschiffen, die sie in dichten Schwärmen umflogen und in den Weltraum lotsten. Tiefe Krater hinter sich lassend. Mich hinter sich lassend, der ich in meiner Zeitmaschine hockte und ihnen stumm hinterher sah. Nun wieder ganz allein auf einem öden Planeten. Und ich fühlte sie erneut, diese unglaubliche Verlassenheit, die mit gierigen Fingern nach meiner Seele griff und mich zermalmte. Eine unbeschreibliche Einsamkeit drückte mich nieder, während die funkelnden Maschinen am dunklen Firmament verschwanden und ich sprang schreiend, sprang aufheulend in eine Zukunft, die mich eigentlich nicht mehr interessierte, denn die Traurigkeit verschlang mich mit Haut und Haaren. Teilnahmslos ließ ich die Jahrtausende verstreichen, blickte mich nicht um, sah nicht nach draußen. Jahrmillionen vergingen, ohne dass ich von ihnen Notiz genommen hätte. Ich raste kopflos durch die Zeit, gab mich dem Gefühl der Leere hin. Schließlich hielt die Maschine an, ihre Anzeigen warfen mir eine unglaubliche Zahl an den Kopf. Einhundert Millionen Jahre. Und sie leuchteten rot. Toxische Lebensbedingungen. Über mir war ein Ozean entstanden. Wie er sich gebildet, wann er mich umspült hatte, ich wusste es nicht. Aber er war da, der undurchdringliche Ozean. Also sprang ich wieder und wieder nach vorn. Wartete darauf, dass sich die Wassermassen zurückzogen und es vergingen hunderttausende von Jahren, die ich in der Finsternis ausharrte, einhüllt in Sedimente, die sich Schicht um Schicht auf den Grund des Meeres legten. Mit jedem Jahrtausend sank ich tiefer in den Schlamm, immer wieder starrte ich einfach nur aus dem Fenster in die Dunkelheit. Widerstrebend machte ich mir bewusst, dass ich hier unten sterben würde. Vorräte hatte ich keine und ich begann starken Durst zu leiden. Ich stellte die Zeitmaschine also neu ein, sprang zweihundert Millionen Jahre in die Zukunft und hoffte das Beste. Aber was ist die Hoffnung, nichts weiter als ein wankelmütig Biest. Als die Maschine wieder hielt, befand ich mich immer noch im tiefsten Bauch der Erde. Zischend und spuckend stand sie still, ihre Anzeigen erloschen eine nach der anderen, der Motor gab ein gequältes Kreischen von sich und verstummte schließlich ganz, egal wie sehr ich ihn anschrie. Nun hält mich eine bleierne Ausweglosigkeit gefangen, die meine Sinne lähmt und meinen Geist mürbe macht. Ich sitze regungslos in völliger Dunkelheit und warte darauf, dass der Sauerstoff zur Neige geht, damit ich schlafen kann.

Tief, tief unten, in der absoluten Stille, liegt die Zeitmaschine. Vom schwärzesten Nichts umschlungen, von unfassbarem Druck umgeben, ruht sie in ihrem Sarkophag aus Gestein.
Und ich sitze hier, gefangen in ihr. Sterbe und frage mich, wie es so weit kam.
Wie ich hier stranden konnte.

© sybille lengauer