Lars liest!
Diesmal „Seelenwanderung“ aus „Mottengedanken“. Viel Vergnügen!
Lars liest!
Diesmal „Seelenwanderung“ aus „Mottengedanken“. Viel Vergnügen!
The Frozen Ones
Dem Anfang einer jeden Geschichte liegt ein gewisser Zauber inne, der sich dem schreibenden, wie auch dem lesenden Individuum auf unterschiedliche Weise offenbart. Lässt sich der Lesende ab dem Genuss des ersten Satzes auf ein unbekanntes Abenteuer ein, oder läuft er Gefahr, sich über die nächsten Seiten zu Tode zu langweilen? Birgt die Geschichte den Impuls für neue Ideen, oder bietet sie Stoff für apokalyptische Alpträume? Manchmal ahnt man schon nach dem ersten Satz, worauf man sich bei der betreffenden Geschichte einlassen wird, zuweilen ist man nach dem ersten Kapitel noch nicht klüger geworden. Für den Schreibenden hingegen ist es das blanke Blatt Papier, welches magische Möglichkeiten in sich birgt. Womit soll man die Leere füllen, die sich bis zur Unendlichkeit hin auszudehnen scheint? Wie ist eine Geschichte zu beginnen, die sich vielleicht erst nebulös vor dem geistigen Auge zu entfalten beginnt? Legt man den Fokus auf ein kleines Detail, einen kurzen Satz, eine spezielle Geste oder beginnt man mit einem furiosen Eröffnungstanz, der mitten hineinführt, in die Geschichte?
Beginnen wir mit einem langgezogenen Warteraum, an dessen, mit vergilbter Raufasertapete tapezierten Wänden hunderte Fotos, Poster, Urkunden und Postkarten hängen. Die blendend grelle Neonbeleuchtung und der kotzgrüne PVC-Boden verleihen dem Warteraum jene depressive Grundstimmung, die rational denkende Menschen dazu verleiten kann, Bilder von sentimental blickenden Kätzchen oder drollig in Pose gesetzten Kleinkindern aufzuhängen und so entsteht, im Lauf der trübseligen Jahre, eine spürbar toxische Atmosphäre aus Traurigkeit und Kitsch, die selbst abgehärtete Büropflanzen in den Suizid treiben kann. Nahe der dunkelbraun lackierten Eingangstüre befindet sich die Karikatur einer Rezeption, die unter Aktenbergen und verwelkten Topfpflanzen zu verschwinden droht. Irgendwo in diesem chaotischen Zettelwald klingelt ein Telefon, doch niemand ist da, sich darum zu kümmern.
Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun auf jene Gestalten, die auf bequem aussehenden Sesseln sitzen und den Anschein erwecken, als würden sie sich schon eine geraume Weile im Warteraum befinden und, nun, warten. So unterschiedlich die drei Personen auch in ihrem äußeren Erscheinungsbild sein mögen, ihr Ausdruck ist nach den gemeinsamen Stunden im Warteraum zu einer traurigen Einheit verschmolzen. Sie alle machen lange Gesichter und starren mit diesem speziellen Blick vor sich hin, der sich in die Augen all derer stiehlt, die im bittersüßen Honigtopf der Hoffnungslosigkeit kleben geblieben sind.
Werfen wir einen genaueren Blick auf sie. Ein älterer Herr, dessen faltenumkränzte Stirnglatze das lieblose Neonlicht spiegelt, sitzt eingekeilt zwischen einem jungen, unscheinbar wirkenden Mädchen mit Brille und einer dicklichen Matrone, die manchmal missbilligend schnaubt, sich ansonsten aber mit ihren Reaktionen ebenso zurückhält, wie die anderen. In regelmässigen Abständen streckt der alte Herr das linke oder rechte Bein vor, um sich ein wenig Linderung in seiner schmerzenden Hüfte zu verschaffen. Ab und an leckt das junge Mädchen geistesabwesend über eine aufgesprungene Stelle an seiner Unterlippe. Alle sitzen und starren, niemand interessiert sich für das verdammte Telefon.
Zeit vergeht. Und wie, sie anders zu beschreiben, als zähflüssig und träge dahinfliessend, in diesem bedrückend öden Warteraum, der jegliche Vitalität aus einem unschuldigen Menschen zu saugen vermag, wie ein grausamer Vampir, der hinterlistig im Schatten lauert und dessen staubgrauer Umhang nach verlorenen Akten und herzloser Verwaltung müffelt. Sekunden fallen wie schwere Regentropfen aus einer laut tickenden Wanduhr, Minuten verschwimmen zu farblosen Pfützen auf dem hässlichen PVC-Boden und versickern schließlich im riesigen Ozean der Ereignislosigkeit. Und immer noch, ist nichts passiert. Und was soll auch schon passieren, in diesem trostlosen Warteraum? Die drei Gestalten sitzen und warten, die Wanduhr wirft ihnen gnadenlos Sekunden vor die Füße, manchmal klingelt das verborgene Telefon. Um diese schreckliche Eintönigkeit zu zerreissen, müsste schon jemand die Stimme erheben…
„Wie lange soll man hier eigentlich noch warten?“, blafft die mollige Matrone in das erdrückende Schweigen hinein. „Das habe ich mich auch gefragt!“, entfährt es dem älteren Herrn erleichtert, er rutscht unwillkürlich auf seinem Sessel nach vorn, um sich seiner Gesprächspartnerin zuzuwenden. „Es ist eine Unverschämtheit!“, echauffiert sich diese, „Ich bin schon seit mindestens fünf Stunden tot und sitze immer noch hier!“ Sie produziert ein hellblaues Stofftaschentuch aus ihrer voluminösen Handtasche, um sich lautstark die Nase zu putzen. „Eine Ungeheuerlichkeit.“, versichert der ältere Herr, eifrig nickend. „Man hat schließlich Termine.“, setzt er gewichtig hinzu. Die Matrone antwortet mit einem trompetenden Schnäuzen. „Das ist unüblich. Sehr unüblich!“, stößt sie mit zorniger Bestimmtheit hervor, während sie das zerknitterte Stofftaschentuch wieder in ihrer Handtasche verschwinden lässt. „Normalerweise wartet man nicht so lange.“ Der alte Herr nickt erneut eifrig. Leise ächzend wendet er sich nach dem unscheinbaren Mädchen um, das still zu seiner Linken sitzt. „Ist das Ihre erste Re-Inkarnation, wertes Fräulein?“, fragt er in gönnerhaftem Ton, doch das Mädchen schüttelt nur abweisend den Kopf, es scheint nicht an einem Gespräch interessiert zu sein. „Ach so, aha.“, macht der ältere Herr etwas enttäuscht. „Es ist eine Unverschämtheit!“, wiederholt die Matrone entrüstet. Dies ist ein guter Augenblick, um Bewegung in sich und die leidige Angelegenheit zu bringen und so erhebt sie sich mit entschlossenem Grunzen aus ihrem Sessel. Breitbeinig stapft sie zur verlassenen Rezeption, um dort ungeduldig das zitternde Doppelkinn nach vorn zu recken und missbilligend auf die Berge aus Akten und losem Papier zu starren. Auch der alte Herr kommt endlich auf die Beine, entschlossen strafft er die schmalen Schultern. Seine kerzengerade Haltung kann beinahe darüber hinwegtäuschen, wie schmal seine Handgelenke, wie dünn seine knochigen Beine sind. „Nun denn!“, stößt er undefiniert hervor. Er fährt erschrocken zusammen, als in diesem Moment das Telefon erneut klingelt. „Wo ist es nur, wo ist es nur?“, stößt die feiste Matrone aufgeregt hervor, während sie hohe Aktenstapel auf der Suche nach dem Telefon durchwühlt. Im Nu ist der Boden vor der Rezeption mit losen Blättern übersäht, dutzende Bögen eng bedruckten Papiers fallen wild durcheinander. „Aha!“, triumphierend zieht die Matrone ein altes Wählscheibentelefon aus dem Chaos, in einer fließenden Bewegung hebt sie den Hörer ab und blafft ein herrisches: „Ja, wer ist da?“ durch die Leitung. Gespannt presst sie den Hörer ans Ohr, doch ihre Gesichtsfarbe wechselt rasch von aufgeregtem dunkelrot zu enttäuschtem blassrosa. „Einfach aufgelegt.“, stößt sie resigniert hervor. „Was kann das bedeuten?“, fragt der ältere Herr, der sich bei all der Aufregung lieber wieder hingesetzt hat. „Wir kommen nicht weiter.“, flüstert eine leise Mädchenstimme neben ihm. „Wie bitte?“, fragt der alte Herr, obwohl er nicht sicher ist ob er verstehen möchte, was soeben zu ihm gesagt wurde. „Wir kommen nicht weiter.“, wiederholt das junge Mädchen nun lauter, zum ersten Mal blickt es dem alten Mann direkt in die Augen und eine Woge grenzenloser Traurigkeit schwemmt seine aufgescheuchten Gedanken fort. Er sinkt im Sessel zurück, wird ganz still und beginnt leicht zu zittern. „Was heißt das, wir kommen nicht weiter?“, schreit die Matrone, sie wirft das Telefon achtlos zurück in das Zettelchaos und schießt wie eine zornige Tarantel hinter der zerwühlten Rezeption hervor. „Was weißt du, was ich nicht weiß?“, zischt sie aggressiv. Das Mädchen wendet den Blick vom alten Herrn zur aufgebrachten Furie. „Du weißt es genauso wie ich. Du willst dich nur nicht erinnern.“ „Ich? Ich?! Was weiß ich?!“, japst die Matrone mit schriller Stimme, ihre Augen sind weit aufgerissen, an ihrem Hals tritt eine dicke Ader hervor. „Die Kryostase.“, haucht der alte Herr, er ist kreideweiß geworden und in seinen Augen sammeln sich Tränen. Das Mädchen nickt und schweigt. „Kryostase? Welche Kryostase?“ Nun ist es an der Matrone, zitternd in einen der Sessel zu sinken. Schwer atmend sucht sie das zerknitterte Stofftaschentuch aus ihrer enormen Handtasche, dann hält sie jäh in der Bewegung inne und starrt mit erinnerungsfernem Blick vor sich hin. „ Ich habe mich einfrieren lassen!“, erinnert sie sich fassungslos. Ein Schauer der Erkenntnis läuft eiskalt über ihren fleischigen Rücken. „Wir sind nicht richtig tot. Wir können nicht weiter.“, flüstert der alte Herr in ihren entsetzten Gedankengang hinein und das Mädchen nickt wieder stumm. „Wie konnte ich das nur tun?“, fragt er mit Bestürzung in der Stimme. „Du konntest dich nicht an das Danach erinnern. Du hattest Angst vor dem Sterben.“, antwortet das Mädchen ruhig. „Warum kannst du dich dann erinnern?“, hakt die Matrone geistesgegenwärtig nach und ihre Augen werden misstrauisch schmal. Sie umklammert ihre Handtasche wie einen schützenden Schild, um sich gegen die bittere Realität zu wappnen und schiebt das Doppelkinn drohend vor. „Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil meine Eltern mich zu der Behandlung gezwungen haben. Aber das ist nur eine Vermutung.“, antwortet das Mädchen ehrlich. „Und was passiert jetzt?“ Es ist der alte Herr, der diese, alles entscheidende Frage stellt. Bleich und in sich zusammengesunken sitzt er unter einer großformatigen Postkarte, die einen orangen Frosch abbildet, der sich tapfer an ein geflochtenes Seil klammert. „Nicht hängen lassen.“ steht in bunten Blockbuchstaben über seinen glubschenden Froschaugen und es gleicht einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dass der alte Mann diesen schweren Moment der Ratlosigkeit unter einer solchen Postkarte erleiden muss. „Jetzt warten wir.“, antwortet das Mädchen und lehnt sich demonstrativ in seinem Sessel zurück. „Eines Tages wird mein Körper entweder erfolgreich wiederbelebt, dann kann ich zurück zur Erde. Oder er stirbt endgültig, dann kann ich weiter in die nächste Emanation. Bis dahin sitze ich hier fest, in diesem abscheulichen Warteraum.“ „Großer Gott!“, entfährt es der dicklichen Matrone, und der alte Herr stöhnt gequält auf. „Was hat Gott damit zu tun?“, fragt das Mädchen schnippisch, es verschränkt die Arme vor seiner schmalen Brust und starrt zornig an die gegenüberliegende Wand. Der Matrone entfährt ein missbilligendes Schnauben, doch es will ihr kein passender Konter einfallen und so verfällt auch sie in mürrisches Schweigen. Eine, alles erdrückende Stille breitet sich zwischen den Wartenden aus, nur zerrissen durch das gnadenlose Ticken der Wanduhr. Und so endet diese Geschichte schließlich, genau da, wo sie ihren Anfang genommen hat. Im trostlosen Warteraum der verlorenen Seelen.
© sybille lengauer
In der Nacht als Herr Leon Breitenegger verstarb schien kein außergewöhnlicher Mond vom sternklaren Himmel, um sein Dahinscheiden zu illuminieren. Es fuhr kein kalter Windhauch über die Felder, um seinen erlöschenden Namen zu flüstern und es schrie auch kein einsamer Vogel Trauerklagen aus dem alten Birnbaum im Garten, um seine Seele auf ihrem langen Weg zu geleiten. Nur ein profaner Dreiviertelmond schimmerte träge aus dem wolkenverhangen Himmel. Ein steter Ostwind trug feinen Sprühregen über die Felder und nicht einmal die Ringeltauben, die in dem alten Birnbaum nisteten, wussten von Herrn Breiteneggers versterben. Klammheimlich hatte sich seine Seele davongestohlen, war von der alten Siebziger-Jahre-Couch aufgestanden und hatte den Körper nicht mitgenommen. Besagter Körper saß zusammengesunken vor dem plappernden Fernsehapparat, der Kopf war auf das breite Doppelkinn gesunken, die Arme ruhten schlaff auf dem ausladenden Bauch. Man hätte meinen können er hielte nur ein Schläfchen, doch es war niemand zugegen, um dergestalt über ihn nachzudenken. Der verwitwete Frührentner lebte allein.
Herrn Breiteneggers Seele spazierte durch den menschenleeren Ortskern des Dorfes und bewunderte eine stattliche Blutbuche, die, von einer einsamen Straßenlaterne beschienen, den kleinen Marktplatz dominierte. Stolze Äste reckten sich in den dunklen Nachthimmel, purpurrote Blätter rauschten mächtig wie die schäumende See. Leon Breiteneggers Seele überlegte, dass sie schon lange nicht mehr am Meer gewesen war. Fünfzehn Jahre, um genau zu sein. Wehmütig lauschte sie der Blätterbrandung, träumte sich an die Küste. Hörte im Himmel die Möwen kreischen. Roch den frischen Duft der Brise. Spürte den salzigen Atem des Meeres. Herrn Breiteneggers Seele verlor sich im Zauber des Moments. Eine Stunde verstrich und sie stand immer noch unter dem hoch aufragenden Baum und träumte. Zuhause im überheizten Wohnzimmer stand Herrn Breiteneggers toter Körper mechanisch von der Couch auf, stellte den Fernseher ab und schlurfte ins Bett.
Niemand bemerkte den Unterschied, als jener tote Körper am nächsten Morgen beim Bäcker erschien und, wie gewöhnlich an einem Samstag, ein Buttercroissant und ein Franzbrötchen kaufte. Und wer hätte schon darauf achten sollen, ob jener Mann, der höflich in der Warteschlange vor dem Tresen stand und freundlich grüßte, atmete und einen Puls besaß? Der Bäckereifachverkäuferin fiel nichts ungewöhnliches auf. Auch der Postbote, der wenige Stunden später vor Herrn Breiteneggers Türschwelle stand, erkannte in dem unbelebten Leib nur einen weiteren Kunden, der ein Paket entgegennahm. Selbst Herr Breitenegger stellte kaum eine Veränderung fest, er fühlte sich ein wenig unwohl, führte dies aber auf ein üppiges Stück Schwarzwälder Kirschtorte mit Sahne zurück. Nur der alte Dackel der betagten Frau Schürmann erkannte den wandelnden Toten und knurrte böse hinter dem niedrigen Gartenzaun, als Herr Breitenegger am frühen Abend vorbeiging. Wütend kläffte der grauschnäuzige Dachshund am Maschendrahtzaun entlang und Frau Schürmann öffnete das Küchenfenster, um ihn zur Raison zu rufen. Herr Breitenegger hob die Hand zu einem freundlichen Gruß und die alte Dame winkte arthritisch zurück. Der Dackel überschlug sich in rasendem Zorn. Herr Breitenegger schüttelte kurz den Kopf über das despektierliche Verhalten des Hundes und spazierte weiter seines Weges. Er passierte den Marktplatz, ging unter der Blutbuche her, ohne dem Baum Beachtung zu schenken und bog in eine kleine Seitengasse ein, die, an der Kirche vorbei, zum Gemeindehaus führte. Der örtliche Singverein traf sich einmal in der Woche zur Probe und Herr Breitenegger verpasste nie einen Termin. Seine Seele saß indessen auf einer Kuhwiese, keine fünfhundert Meter entfernt und sah einer Butterblume dabei zu, wie sie ihre gelbglänzenden Kronblätter zum Abend hin verschloss. Die Seele hatte die Blume seit der Morgendämmerung beobachtet. Hatte gebannt verfolgt, wie sich die Blüte bei Sonnenaufgang öffnete und ihre zarten Staubblätter dem Licht darbot. Zeit besaß keine konkrete Bedeutung für Herrn Breiteneggers Seele und so hatte sie den ganzen Tag auf dieser Kuhweide verbracht, versunken in die Betrachtung der Butterblume, die bienenumschwärmt dem Sonnenverlauf folgte. Nichts fehlte ihr zu ihrem stillen Glück. Der verstorbene Herr Breitenegger ging nach der Gesangsprobe beschwingt zurück nach Hause, das leichte Unwohlsein war vergessen. Der Ehrentag eines befreundeten Vereinskollegen hatte Brombeerlikör und Maikäfer Flugbenzin an die Gestade seiner Leber gespült und obwohl sein Herz nicht mehr schlug und das Blut in seinen Adern bereits gerann, vermochte es der Alkohol, sein untotes Gehirn zu entrücken. Am Gartenzaun von Frau Schürmann erwartete der Dackel geduldig seine Wiederkehr. Die alte Dame pflegte das Tier auch in der Nacht im Garten zu belassen, um sich vor Räubern und Diebesgesindel zu schützen, deren lauernde Anwesenheit sie hinter jedem Strauch vermutete. Mit gesträubtem Fell stand der kleine Hund im üppigen Lavendelbeet und starrte der herannahenden Hülle entgegen. Ein leises, tiefes Knurren drang aus seiner Kehle, er hatte sich mit durchgedrücktem Rücken und steifen Krummbeinen hinter dem Zaun postiert und zitterte vor Zorn. Für den toten Herrn Breitenegger sah er verlockend appetitlich aus. Der angetrunkene Tote verharrte schwankend vor dem Zaun und lauschte dem Knurren des Hundes, in das sich das fordernde Rumoren seines Magens mischte. Ohne sich der Absurdität seiner Tat bewusst zu werden, langte er über den niedrigen Zaun, fasste das entsetzte Tier im Nacken und brach ihm das Genick. Niemand beobachtete die schreckliche Tat, niemand hätte geglaubt, wenn man davon erzählt hätte, denn Herr Breitenegger war ein angesehener Bürger des beschaulichen Dorfes. Doch zur Beschaulichkeit zählte auch, die Vorhänge zur Nacht geschlossen zu halten und so blieb der Mord an dem kleinen Dackel unbeobachtet. Sein Kadaver wurde nie aufgefunden, da er mit Haut und Haaren von dem gierigen Leichnam verschlungen worden war. Der alten Frau Schürmann brach das Verschwinden ihres Hundes das Herz, sie rief und suchte am nächsten Morgen verzweifelt nach ihm, klopfte bei Nachbarn, befragte Passanten. Als sie am frühen Nachmittag an die Tür des hungrigen Herrn Breiteneggers klopfte und arglos in seinen unaufgeräumten Hausflur trat, fraß er auch sie.
Seine Seele hatte die Nacht in einem Nahe gelegenen Schafstall verbracht. Der Geruch von sonnengetrocknetem Stroh und würzigem Heu hatte sie in die Scheune eines Bauernhofes gelockt, wo sie Stunden im Duft der Halme badete. Das beruhigende Blöken der Schafe führte sie schließlich in den angrenzenden Schafstall. Die sensiblen Tiere reagierten Neugierig auf ihr erscheinen, verstanden nach einer kurzen Schnupperprobe die friedliche Heiterkeit ihrer Gesinnung. Geborgen in der angenehmen Wärme des Stalles, eingebettet in die entspannende Geräuschkulisse der wiederkäuenden Schafe, ruhte sich die Seele von den Eindrücken auf der Kuhwiese aus. Am frühen Morgen schenkte sie einem Spatzenkind ein zweites Leben, das aus seinem runden Nest gefallen war. Der kleine Vogel war noch nicht zum Ästling herangereift und lag schutzlos zwischen den umherwandernden Schafen im Stroh. Herrn Breiteneggers Seele mochte seinen Tod nicht mitansehen und so hob sie ihn vorsichtig vom Boden auf und verbrachte ihn zurück zu seinen Geschwistern, in das weich gepolstertes Nest unter dem Fenster. Der kleine Vogel wunderte sich nicht darüber, dass er von unsichtbaren Händen ergriffen und durch die Luft getragen wurde. Nur ein vorwitziges Märzlamm warf ihm einen skeptischen Blick aus horizontalen Augenschlitzen hinterher. Herrn Breiteneggers Seele wartete auf die Rückkehr der Spatzeneltern, beobachtete zufrieden, wie die Küken mit Insekten und Raupen gestopft wurden. Die Seele versank in sentimentalen Gedanken über den immerwährenden Kreislauf des Lebens und wäre noch viele Stunden geblieben, hätte sie nicht die Ankunft der verschlafenen Bäuerin gestört, die zur morgendlichen Fütterung den Stall betrat. Leon Breiteneggers Seele beschloss den Stall zu verlassen und sich erneut mit der Butterblume auf der Kuhwiese auseinanderzusetzen. Sie wurde jedoch vom Ruf eines Kuckucks abgelenkt und wanderte stattdessen zum Rand eines kleinen Schwarzerlenwäldchens, das am Überlaufweiher des Dorfes wuchs. Gebannt lauschte sie dem unscheinbaren Vogel, der in einer abgestorbenen Eiche saß und nach einem Weibchen rief. Die Stunden vergingen, der Kuckuck war lange fortgeflogen, doch die Seele verblieb am idyllischen Weiher. Während die Sonne immer höher stieg, beobachtete sie fasziniert die akrobatischen Flugkünste der Uferschwalben, die über dem Wasser nach Insekten jagten. Sie begleitete eine Schnatterente auf ihrer Futtersuche, saß lange unter einem blühenden Ilex, der inmitten der Schwarzerlen wucherte und hörte den unzähligen Bienen und Hummeln zu, die von seiner duftenden Blütenpracht angezogen wurden. Als sich Leon Breiteneggers Seele nach einem erfüllten Tag am schilfüberwucherten Ufer des Weihers schlafen legte, hatte ihr ruheloser Körper bereits eine weitere Nachbarin verschlungen, die auf der Suche nach Frau Schürmann an der falschen Haustüre geklopft hatte.
Das Verschwinden von Amalia Schürmann war oberstes Gesprächsthema, wenn man an diesem Tag im Dorf aufeinandertraf. Man wurde nicht müde, nach wenigen Sätzen der Anteilnahme und Fassungslosigkeit zu versichern, dass es sich bei dem Verbrecher nur um einen Auswärtigen, einen Zugewanderten und Eingereisten handeln könne. In kleine Grüppchen standen die Leute beieinander und tauschten Gerüchte aus. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass auch die gute Mutter Bergheim abhanden gekommen war. An diesem Abend wurden Türen und Fenster fest verschlossen, die Jalousien knallend heruntergelassen und Hunde schliefen im Haus. Trotz alledem gelang es dem toten Herrn Breitenegger, in der Nacht einen Jugendlichen zu ermorden, der unbedarft mit dem Fahrrad über die dunkle Landstraße nach Hause fuhr. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Untote bereits aufgegeben, sich vor sich selbst für seinen unstillbaren Hunger zu rechtfertigen. Nach dem Mord an Frau Schürmann und der mühevollen Beseitigung all der unschönen Details, war er unschlüssig im Wohnzimmer auf und ab gestapft, hatte den Fernsehapparat an und wieder abgeschaltet und verworrene Selbstgespräche geführt. Als dann die besorgte Mutter Bergheim um Einlass bat, um sich nach Amalie Schürmann zu erkundigen, beherrschte er seinen bestialischen Blutdurst und führte sie in die unaufgeräumte Küche, die im hinteren Teil des Hauses lag. Die Nachbarin lehnte den angebotenen Kaffee dankend ab und fragte höflich, wann Herr Breitenegger zuletzt Frau Schürmann gesehen habe, die auf der Suche nach ihrem senilen Dackel verschollen sei. Lautes Magenknurren beantwortete ihre Frage und ehe sie es sich versah, schlug Herr Breitenegger gelbe Zähne in ihren fleischigen Hals. Kurz war der Kampf, in einer hellen Fontäne schoss das Blut und Herr Breitenegger gönnte sich eine zweite Tasse Kaffee zu den dampfenden Eingeweiden der ehrenwerten Mutter Bergheim, die er genüsslich verschlang. Doch je mehr er fraß, desto hungriger schien er zu werden, es war, als hätte sich in seinem Magen ein Loch aufgetan, das er nicht füllen konnte. Sein Bauch war aufgequollen und dick, sein Darm hatte die Tätigkeit eingestellt und so füllte sich jeder Zentimeter in seinem Körper mit den Leichenteilen, die er verschlang.
Es dauerte lange, die Spuren der schändlichen Mordtat zu beseitigen. Zu groß war das angerichtete Gemetzel, zu ungelenk der vollgestopfte Herr Breitenegger, der bei jeder Bewegung einen immensen Druck in sich spannen fühlte. Den Putzlappen von sich werfend, rannte er auf die Toilette und erbrach nach und nach Mutter Bergheim, Amalie Schürmann und den armen Dackel in die weiße Keramikschüssel. Kaum war der widerwärtige Prozess überstanden, knurrte sein Magen wieder fordernd. Und so kam es, dass in der Nacht jener junge Mann auf der Landstraße sein Leben lassen musste, um die unstillbare Fressgier des Verstorbenen zu besänftigen.
Kalter Bodennebel umschmeichelte die Landschaft, als seine Seele am nächsten Morgen am Ufer des Weihers erwachte und verzückt dem frühen Lied einer Mönchsgrasmücke lauschte. Mit einem Gefühl großer Demut beobachtete sie das aufsteigende Sonnenlicht, das langsam den feinen Nebel auflöste, der über Wald und Wiesen lag und in hunderten Facetten durch das Schilf schimmerte. Leon Breiteneggers Seele ließ sich in das kühle Wasser des Weihers gleiten und erlaubte sich, in seinen sanften Wellen den Zusammenhalt zu verlieren. Ihr Leichnam hatte die Stunden nach dem letzten, heimtückischen Mord mit schweren Gewissenskonflikten verbracht. Blutüberströmt war er zurück in sein Haus geschlichen. Wieder musste er sich erbrechen, um den abscheulichen Fraß der Nacht loszuwerden. Wieder knurrte sein Magen fordernd, obwohl seine Eingeweide bereits begannen, sich zu zersetzen. Blass war er, der wandelnde Tote, dunkle Venen schimmerten unter seiner Haut und die Augen starrten milchig trübe. Der Körper verfiel und trotzdem war es ihm nicht möglich, sich zur Ruhe zu legen. Nervös wanderte er durch das einsame Haus, beseitigte im einen Moment dunkle Blutflecken von den Küchenmöbeln, reinigte im nächsten das verdreckte Badezimmer und schrubbte nacheinander die Böden in allen Räumen. Er hielt erst inne, als sich die Haut von seinen Fingern zu lösen begann. Dann versuchte er zu weinen, saß auf dem feuchten Linoleumboden und strengte sich an, aber es wollte nur Hunger aus ihm heraus, für mehr war in seinem verrottenden Inneren kein Platz. Also machte er sich wieder auf, wanderte rastlos durch die Zimmer. Überlegte, ob und wie er seinen unerträglichen Appetit befriedigen könnte. Zwei Polizisten, die ihn am Vormittag zu den Vorkommnissen im Dorf befragen wollten, erleichterten den Entscheidungsprozess. Unter dem Vorwand einer schweren Krankheit, die man aufgrund seines schrecklichen Erscheinungsbildes getrost glaubte, lotste er die Beamten ins Wohnzimmer, wo er sich nach einem kurzen, gewalttätigen Kampf an ihren Organen labte. Er verschlang ihre saftigen Innereien so gierig, dass er selbst Teile der Polizeiuniformen fraß und erbrach dann direkt an Ort und Stelle. Angewidert von sich selbst wankte der tote Leon Breitenegger aus dem Schlachthaus, in das er sein Wohnzimmer verwandelt hatte. Er zog sich aus, schlurfte unter die Dusche und ließ heißes Wasser über seinen verwesenden Körper laufen, ohne es zu fühlen. Frustriert schlug er eine gemusterte Fliese entzwei, dann erbrach er dicke Fleischbrocken in die Duschwanne. Bleich und aufgedunsen stand er unter den heißen Wasserstrahlen und brüllte seinen Zorn durch das leere Haus. Ohne sich um ein Handtuch zu kümmern, verließ der das dampfgeschwängerte Badezimmer, stampfte nackt durch den Flur und riss die Haustür auf. Herr Breitenegger war bereit sich den Behörden zu stellen, um seinen Qualen ein Ende zu bereiten, doch er kam nicht weit. Schon nach wenigen Metern zog ihn der Gesang einer jungen Hausfrau magisch an, die bei geöffnetem Fenster in ihrer Küche stand und Apfelmus kochte. In wenigen Augenblicken war der gefräßige Tote in die Küche eingedrungen und über sie hergefallen. Ihre panischen Schmerzensschreie riefen einen Passanten von der Straße herbei, der noch ratlos im Vorgarten stand und zögerlich überlegte die Polizei zu verständigen, als ein nackter, blutverschmierter Wahnsinniger seinen Überlegungen ein jähes Ende bereitete. Viel zu spät erkannte Leon Breitenegger in dem zerfetzten Passanten seinen Jugendfreund Wilhelm, dem er in enger Zuneigung verbunden war. Doch es blieb ihm keine Zeit den ungeheuerlichen Verlust zu betrauern, denn schon riss ihn der gellende Schrei einer Fußgängerin aus der Erstarrung. Die Frau wies mit zitternder Hand auf das grausame Blutbad, das sich ihren weit aufgerissenen Augen in dem akkurat gepflegten Vorgarten darbot und brüllte ihr Entsetzen in die Welt hinaus. Nicht lange, denn der geifernde Untote hatte sie in wenigen Sekunden erreicht und ihre Kehle zerrissen. Nun strömten aus dem ganzen Dorf Menschen herbei um zu helfen, zu gaffen oder zumindest dabei zu sein. Wobei, das wussten sie nicht, aber sie fanden es schneller heraus als ihnen lieb war, denn Herr Breitenegger richtete unter ihnen ein schreckliches Gemetzel an. Menschen flohen kreischend, Kinder weinten, Väter flehten, ihm war es egal. Bis zum bersten angefüllt mit Menschenfleisch und doch rasend vor Hunger schob er mordend dem Marktplatz entgegen. Ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene bremste mit quietschenden Reifen, stellte sich quer über die Hauptstraße und spie zwei uniformierte Beamte aus, die sich ihm tapfer in den Weg stellten. Sie wurden gnadenlos von der heranwalzenden Bestie verschlungen.
Im stillen Überlaufweiher regten sich gemächliche Gedanken, flüsterten im tiefen Schlick des seichten Gewässers, erzählten den mächtigen Welsen, die den Untergrund durchpflügten, vom alten Birnbaum im Garten und von Herrn Breiteneggers gemütlichem Zuhause. Langsam fügte sich seine Seele am Grund des Weihers wieder zusammen, fand sich in den Wurzeln der Schilfpflanzen, regte sich unter Kieselsteinen und versunkenen Baumstämmen. Schließlich stieg sie ans Ufer und wandte sich mit einem leisen Seufzen dem Dorfe zu. Herrn Breiteneggers Seele ging nach Hause.
Auf dem Marktplatz war ihr Körper von mehreren Polizeiwagen umzingelt. Die herbeigerufenen Polizisten hatte sich hinter ihren Einsatzfahrzeugen verschanzt und schossen verzweifelt in die gewaltige Brust des deformierten Ungetümes, das brüllend über das Kopfsteinpflaster taumelte und nicht sterben mochte. Von unzähligen Schüssen in den Wanst getroffen, stand der Untote zwischen den Wagen, schwankte vor und zurück und brüllte zornig. Leon Breiteneggers Körper fraß die Kugeln, wie er selbst die Menschen. Kein Treffer vermochte es, ihn zu Fall zu bringen. Wutschäumend wandte er sich den Polizisten zu, brüllte wie ein verwundetes Tier und fletschte die Zähne. Verstört beobachtete seine Seele, wie er erst eine junge Polizistin und kurz darauf deren ältere Kollegen zerfleischte. Herrn Breiteneggers Seele war nicht nach Hause gegangen, sie hatte sich von den entsetzten Hilfeschreien ins Dorf leiten lassen und was sie dort mitansehen musste, machte sie Fassungslos. Schreckensstarr sah sie ihrem Körper dabei zu, wie er sich durch die Polizisten metzelte. Als der sich erneut einer Gruppe zuwandte und unaufhaltsam in ihre Richtung walzte, stürzte sie mit einem gramerfüllten Aufschrei auf ihn zu. Leon Breiteneggers Seele versuchte zurück in ihren toten Körper zu gelangen, um ihm Einhalt zu gebieten. Aber es wollte ihr nicht gelingen, sie prallte nutzlos an seinem aufgequollenen Leib ab und stürzte auf das harte Kopfsteinpflaster. Der Untote schüttelte sich kurz und setzte dann unerbittlich seinen Weg fort. Schüsse peitschten durch die Luft, Menschen schrien um Hilfe, die Seele lag auf dem Boden und heulte. In ihrem Entsetzen wandte sie sich einem jungen Beamten zu, der mit aschfahlem Gesicht hinter einer steinernen Parkbank kauerte und drang rücksichtslos in seinen Körper ein. Die überrumpelte Seele des Polizisten floh widerstandslos aus seinem zuckenden Körper, Leon Breitenegger übernahm augenblicklich die Führung. Vorsichtig kroch der junge Polizist hinter der Parkbank hervor und zog seine Pistole. Er verursachte kaum einen Laut, schlich sich langsam im Rücken des Ungetümes heran, das würgend und schlingend über einem Sterbenden hing. Keine fünf Meter war er noch entfernt, als der wandelnde Tote ihn schnüffelnd zur Kenntnis nahm. Leon Breiteneggers Körper wandte den Kopf mit krausgezogener Nase nach dem zitternden Mann um, der hinter ihm stand und seine Waffe mit schweißnassen Händen umklammerte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Leon Breiteneggers Seele in die blutüberströmte Fratze ihres früheren Gesichts, suchte in den verzerrten, verwesenden Konturen nach altvertrauten Ähnlichkeiten. Der Untote sah vor sich nur ein weiteres Stück verlockenden Fleisches und kroch mit gefletschten Zähnen auf den starrenden Polizisten zu. Die Seele riss sich von den sentimentalen Gefühlen los, die beim Anblick ihres deformierten Körpers über sie hereingebrochen waren und konzentrierte sich darauf, das Zittern in ihren neuen Händen zu unterdrücken. Sie zielte konzentriert und schoss dreimal hintereinander in das widerwärtige Antlitz ihres früheren Körpers. Der gewaltige Fleischberg erzitterte und brach würgend zusammen. Leon Breiteneggers Seele schoss zwei weitere Kugeln in seinen zerfetzten Schädel, zerstörte das untote Gehirn, das die mordgierige Bestie gesteuert hatte. Der Körper bäumte sich ein letztes Mal gurgelnd auf, erbrach einen gewaltigen Blutschwall und lag still. Erschöpft fiel der junge Mann auf die Knie, hockte zitternd in der breiige Masse aus Blut und Erbrochenem. Tränen flossen über sein Gesicht. Lange Minuten vergingen, in denen er vor seinem alten Körper im Dreck kauerte und bitterlich weinte. Das misstönende Wimmern herannahender Sirenen riss ihn aus seiner Trauer. Schwerfällig erhob sich Leon Breitenegger im Körper des jungen Polizisten und wandte sich suchend nach dessen Seele um, er war bereit, den unschuldigen Leib zu verlassen und sich wieder den stillen Wassern des Weihers zu übergeben. Schließlich fand er die Seele, wie sie mit verzücktem Lächeln unter den wogenden Ästen der Blutbuche stand und stauend die purpurroten Blätter betrachtete. Herr Breitenegger trat vorsichtig näher an die phantomhafte Gestalt heran, die nur als zartes Flimmern in der Luft auszumachen war. Er hüstelte leise, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Seele des Polizisten fuhr erschrocken herum und wich beim Anblick ihres Körpers zurück. Leon Breitenegger zwang sich zu einem Lächeln und breitete einladend die Arme aus. Die Seele sah auf seine besudelte Uniform, sah die Waffe in seiner blutigen Hand, sah das Flackern in seinen aufgerissenen Augen und floh. Ratlos blieb Herr Breitenegger im Schatten des rauschenden Baumes stehen und sah mit schmerzverzerrter Mine den Streifenwagen entgegen, die über die Hauptstraße auf den Marktplatz zuschossen. Er blickte auf das ungeheuerliche Gemetzel, das sein alter Körper angerichtet hatte, schaute auf die vielen Toten, die verstümmelt in den Straßen lagen und zwang sich zu einer Entscheidung. Er ging zurück zu der abscheulichen Hülle, die einst sein Zuhause gewesen war, starrte traurig auf die zerfetzten Überreste hinab. Die eintreffenden Polizisten mussten hilflos mitansehen, wie sich ihr junger Kollege in den Kopf schoss und tot neben einem aufgequollenen, nackten Leichnam zusammenbrach. Leon Breiteneggers Seele blieb im sterbenden Körper des jungen Polizisten, sank mit ihm zusammen in die tiefe Umarmung des Todes und fühlte nur großes Bedauern, als sie aufhörte zu existieren.
© sybille lengauer