Mit ‘Signal aus dem Weltraum’ getaggte Beiträge

2 Uhr Früh

Veröffentlicht: Januar 22, 2020 in Kurzgeschichten
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2 Uhr Früh

Dahlhoff schaut schon wieder ständig zur Tür. Wenn er so komisch zur Tür schaut, bekommt er in der nächsten halben Stunde garantiert eine Panikattacke. Dann schreit und brüllt er wie ein Verrückter, dass er endlich nach Draußen will und wir ihn gehen lassen sollen. Dauert dann immer Ewigkeiten, bis er sich beruhigt. Dann heult er in seiner Ecke und wir müssen die nächsten Stunden leise sein, damit er nicht wieder die Nerven verliert. Ist wie das berühmte Amen in der Kirche. Glotzt er mit diesem wässrigen Hundeblick die Tür an, geht es gleich los mit dem Gebrüll. Ich sollte wohl etwas dagegen unternehmen. Sollte ihn ablenken, oder was weiß ich. Interessiert mich aber nicht. Ist mir scheißegal. Soll er doch ausrasten. Dann ist er wenigstens beschäftigt und hört auf, so wässrig zu glotzen. Kotzt mich sowas von an, dieser elende Blick, ist kaum zu ertragen. Wir könnten ihn gehen lassen. Natürlich könnten wir das. Wäre ein Leichtes. Die Tür auf und hinaus mit ihm, viel Spaß beim Überleben. Und wir wären wieder einer weniger. Einer weniger, der die Vorräte frisst und schlechte Laune verbreitet. Einer weniger, auf den es im Notfall ankommen könnte. Scheiß Situation. Wirklich, scheiß Situation. Von all den Menschen mit Potential, die es in diese gottverlassene Gegend hätte verschlagen können, hat es ausgerechnet uns fünf getroffen. Uns fünf Deppen. Bernhard Dahlhoff, den übersensiblen Steuerberater mit Hang zum Drama. Marissa Lindberg, die depressive Erzieherin und ihre nervtötenden Söhne Johann und Wolfgang, die Arbeit nur aus dem Fernsehen kennen, obwohl sie stramm auf die Dreißig zugehen. Und natürlich mich. Katharina Regner. Verhinderte Schriftstellerin. Verhinderte Selbstmörderin. Verhinderte Existenz. Wir sind schon ein Spitzenteam. Zusammen bilden wir nun also den räudigen Rest Zivilisation, der sich tapfer dem Untergang der Menschheit entgegenstemmt. Oder wie stand das nochmal im Kleingedruckten der Apokalypse?
Zwei Uhr früh. Da ging es immer los. Da wachten sie auf. Erst traf es nur ein paar unruhige Schläfer, dann wurden es immer mehr. Punkt zwei Uhr schlugen sie die Augen auf und fühlten sich unruhig. Jede Nacht. Immer um zwei Uhr. Immer ein schlechtes Gefühl. Das blieb natürlich eine Weile unbemerkt. Man läuft ja nicht sofort zum Arzt, nur weil man beschissen schläft. Aber nach ein paar Monaten drang es doch durch. Dass etwas nicht ganz stimmen könnte. Stand dann auch in der Zeitung. Der halbe Kontinent, immer um zwei Uhr früh wach. Das ist nicht normal. Also wurden Untersuchungen angestellt und eine Reihe hochintelligenter Leute begann sich schlaue Gedanken zu machen. Am Ende ihres Denkprozesses waren sie allerdings kaum klüger geworden. Die Schlaflosigkeit breitete sich ungehindert aus und niemand konnte sich einen Reim darauf machen. Bis wir schließlich das Signal entdeckten. Mit wir meine ich natürlich die ESA. Wir meint die Wissenschaft und ganz bestimmt nicht mich. Ich saß zu jener Zeit zwischen zwei unveröffentlichten Büchern fest und wälzte mich in schwermütigen Gedanken. Die Schlaflosigkeit anderer ging mir am Arsch vorbei. Aber ist auch egal. Das Signal stammte jedenfalls vom Rand unseres Sonnensystems. Aus irgendwelchen, uns unbegreiflichen Gründen, störte es den Schlafrhythmus hunderttausender Menschen. Und es wurde stärker. Das war schon eine krasse Nachricht. Riss selbst mich aus meiner trübseligen Stimmung. Was kam da aus den Tiefen des Weltalls auf uns zu? Die Frage stellte natürlich nicht nur ich. Wir alle stellten sie. Weltweit. Und die möglichen Antworten machten uns Angst. Es wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, um als Menschheit näher aneinander zu rücken. Ein Schulterschluss der Nationen, oder wie man es auch nennen will. Stattdessen schlugen wir uns die Köpfe ein. Reflexhaft, möchte man schon sagen. Vielleicht lag es aber auch an dem verdammten Signal.
Die Dahlhoff-Show beginnt. Er hyperventiliert jetzt. Gleich kommt die Nummer mit den rollenden Augen und dann geht es richtig los. Schon irgendwie spannend, wie vorhersehbar so ein Nervenzusammenbruch ist, wenn man sich gut kennt. Die alte Lindberg steht auch schon in den Startlöchern, um Dahlhoffs Ausbruch abzufangen. Ist so etwas wie ihr neues Hobby. Das und die Sorge um ihre missratenen Söhne. „Mamma, wann gibt es wieder Strom?“ „Mamma, ist der Krieg bald vorbei?“ „Mamma, was wird jetzt aus uns?“ „Mamma dies, Mamma das.“ Die beiden benehmen sich wie kleine Kinder. Erwachsene Männer. Wahrscheinlich ein Trauma. Ist aber auch egal. Alles ist egal. Wir haben keine Ahnung, was mit dem Strom ist. Oder mit dem Krieg. Wir haben keine Ahnung, was überhaupt noch ist. Wir wissen nur, was war. Und das war blutiger Wahnsinn. Überall. Und ich weiß nicht, warum ich bis heute überlebt habe. Ich kann nicht zählen, wie oft ich beinahe gestorben wäre. Aber plötzlich klebte ich an meinem Leben. Ich kämpfte. Ich tötete. Und landete schließlich hier. In diesem Bauernhaus am Arsch der Welt. Um Dahlhoff dabei zuzuhören, wie er im Namen seiner toten Frau nach Gerechtigkeit schreit. Ach verdammt, ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren. Aber ist auch egal. Das hier wird sowieso keiner mehr lesen.

© sybille lengauer