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Das Zimmer

Veröffentlicht: Mai 10, 2020 in Kurzgeschichten
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Das Zimmer

Hektor öffnete die Augen und blinzelte zu einer weit entfernten, strahlend weißgetünchten Zimmerdecke empor. Auch wenn es ihm nicht leichtfallen wollte seine ziellos mäandernden Gedanken zu fokussieren, erfasste er doch instinktiv, dass er diese seltsam hohe Zimmerdecke noch nie zuvor gesehen hatte. Langsam wandte er den Kopf, sein Blick glitt haltlos ein ungewöhnlich langes Bücherregal hinab und blieb schließlich auf schwarz-weißkariertem Laminatfußboden kleben. Ächzend wälzte er sich in eine sitzende Position, schwarze Punkte schossen durch sein Sichtfeld, als leichter Schwindel ihn erfasste. „Immer langsam mit den jungen Pferden.“, ermahnte er sich, dann schwang er umständlich die Beine aus dem Bett. Seine nackten Füße berührten den kalten Laminatboden und ein leichter Schauer lief von den Zehen durch seinen massigen Körper, bis hinauf in die eisengrauen Haarspitzen. Hektor atmete scharf ein und erhob sich schwankend, wobei er mit der rechten Hand einen Bettpfosten umklammerte, um nicht zu stürzen. So verharrte er eine Weile, etwas zittrig in den Knien, ein wenig wacklig in der Hüfte. „Hallo?“, rief er mit belegter Stimme. „Hallo! Ist da jemand?“ Kalte Stille antwortete seinen Rufen, er hörte nichts als das pulsierende Hämmern des eigenen Blutes in den Ohren. Angespannt sah er sich in dem engen Zimmerchen um. Die ungewöhnlich hohen Wände waren nahtlos mit Regalen verstellt, in denen sich tausende Bücher türmten. Neben dem schmalen Bett gab es nur noch einen runden Holztisch und einen einfachen Klappstuhl, die in der Mitte des Raumes auf einem grellbunten Knüpfteppich standen. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Hektors Magengrube aus, doch erst nach einer Minute angestrengten Denkens begriff er, dass das fensterlose Zimmer keine Türe besaß. Angst kroch mit spinnenfeinen Fingern seine Wirbelsäule entlang. Er stieß sich vom Bettpfosten ab, wankte zu einem Regal und begann wahllos Bücher herauszureissen, doch hinter den schweren Folianten und flattrigen Groschenheften, die er immer ungehaltener zu Boden schleuderte, fand sich nur weiße Wandfarbe über solidem Mauerwerk. Hektor verlor die Beherrschung, er rannte an den Regalen entlang, riss ganze Bücherreihen zu Boden und trampelte zornig auf lose flatternden Seiten herum. Er verausgabte sich rücksichtslos und schrie, bis er puterrot und völlig entkräftet zwischen zerfetzten Bücherrücken und Bergen von zerrissenem Papier in die Knie ging. „Ich – ich habe einen Herzinfarkt“, japste er hysterisch, dann brach er zusammen.

Hektor öffnete die Augen und starrte zu einer weit entfernten, strahlend weißgetünchten Zimmerdecke empor. Er grunzte irritiert, wischte die Fetzen des eigenwilligen Traumes fort und schwang die Beine aus dem Bett. Als seine nackten Füße den schwarz-weißkarierten Laminatfußboden berührten schoss ihm blitzartig durch den Kopf, dass der Traum kein Traum gewesen war. Die Bücher, der Klappstuhl, der Holztisch, alles stand unversehrt an seinem Platz. Hektor schüttelte den Kopf, rieb sich mit den Händen über das Gesicht und blinzelte angestrengt, doch was er sah blieb unverändert. „Das ist ein Trick, oder?“, fragte er in das stille Zimmer hinein. „Hallo? Das ist ein Trick, nicht wahr?“ Hektor spürte die heranpirschende Panik, zornig sprang er auf die Beine, stapfte in die Mitte des Raumes, stieß Tisch und Klappstuhl beiseite und brüllte wütende Flüche zur Zimmerdecke hinauf, bis seine Stimme versagte. „Ich will hier raus!“, knurrte er rau, dann brach er in Tränen aus. Lange stand er so da, schwer atmend, weinend, gottverlassen. Frustriert musterte er die schier endlosen Regale. „Hilfe“, flüsterte er, doch niemand half. Also begann er zu klettern. Er zog sich von einem Regalbrett zum nächsten, schnaufte und ächzte dabei wie eine alte Lokomotive. Immer weiter zog er sich nach oben, seine Hände wurden rutschig vom Schweiß, seine Beine zitterten von der ungewohnten Anstrengung, doch Hektor gab nicht auf. Er zwang sich weiter, biss die Zähne zusammen und kämpfte, bis die Kraft aus seinen tauben Fingern schwand und er wimmernd abrutschte. Hektor stürzte kreischend in die Tiefe, sein ungelenker Körper schlug hart auf dem Fußboden auf, er hörte das Geräusch brechender Knochen, bevor er das Bewusstsein verlor.

Hektor öffnete die Augen und wandte stöhnend den Blick von der weit entfernten, strahlend weißgetünchten Zimmerdecke. In seiner Erinnerung tobte der Schmerz noch glutheiß durch seinen Körper, doch lag er unversehrt im Bett, als wäre nichts geschehen. Lange Zeit wagte er nicht sich zu bewegen, sondern lag nur still und starrte, bis seine Augen tränten. Als er das nicht mehr ertragen konnte, quälte er sich ächzend aus dem Bett, dann stand er unschlüssig im Raum und glotzte. Hektor fühlte Verwirrung und Hilflosigkeit, zögerlich setzte er sich an den Holztisch und wartete, dass irgendetwas geschehen möge. Sein Atmen erschien ihm unerträglich laut, er räusperte sich verlegen und konzentrierte sich auf seine Hände, die ruhelos in seinem Schoß lagen. Er wusste nicht, wieviel Zeit verging. Ahnte nur, dass er lange so dasaß und nichts sah, als seine groben, faltigen Hände, während sich in seinem Innersten tiefschwarze Hoffnungslosigkeit ausbreitete. In einer großen Kraftanstrengung riss Hektor den Blick von seinen unruhigen Händen, entschlossen drückte er sich vom Klappstuhl hoch. Mit einem mächtigen Schnaufen kam er auf die Beine, er ging schnurstracks zu einem Regal, zog wahllos ein Buch heraus, klappte es auf und begann zu lesen:
Hektor befindet sich im Greißlerladen, gerade noch hat ihm die nette Verkäuferin eine Scheibe Schinkenwurst geschenkt, jetzt steht er alleine vor dem verlockenden Süßigkeitenregal und wischt sich die fettigen Finger gedankenverloren am Hosenboden ab. Irgendwo im hinteren Teil des Geschäfts bestellt seine Großmutter einen halben Laib Krustenbrot, Hektor kann ihre Stimme laut und deutlich durch den Laden klingen hören. Vor ihm ragt ein Berg fein säuberlich gestapelter Schokoriegel empor, Hektor läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn er auf die appetitlichen Süßwaren schaut. Er reckt sich auf die Zehenspitzen, streckt die kurzen Arme und zieht einen Riegel aus dem Stapel. Verstohlen sieht er sich nach allen Seiten um, dann lässt er den Schokoriegel in seiner Hosentasche verschwinden. Mit klopfendem Herzen gesellt er sich zur Großmutter, er ist sicher, dass sie seine Tat sofort durchschauen und ihn bestrafen wird, doch die Großmutter ist in den Einkauf vertieft und beachtet ihn nicht weiter. Hektor kann bei jedem Schritt das Gewicht des Schokoriegels in seiner Hosentasche spüren, er fühlt sich schuldig, doch auch auf prickelnde Weise heldenhaft und mutig.
Desorientiert und verwirrt starrte Hektor auf das Buch in seinen Händen und versuchte zu begreifen, was ihm gerade widerfahren war. Eben noch war er in dem Greißlerladen gewesen, hatte den Schokoriegel gestohlen und dabei sein wild klopfendes Herz gespürt. Klein war er gewesen und so jung! Doch nun stand er wieder in diesem verfluchten Zimmer, fühlte sich alt, verloren und verletzlich und niemand war da, der ihm das alles hätte erklären können. Hektor wagte einen mutigen Vorstoß und lugte erneut in das Buch, doch alle Seiten waren leer und nichts bemerkenswertes geschah. Also legte er es auf dem Tisch ab, zog ein neues Buch aus dem Regal und las den Titel. „Krokodilstränen“ stand da in goldschimmernden Lettern auf dunkelgrünem Einband, mit spitzen Fingern klappte er das Buch auf und las:
Hektor sitzt auf der Kindergartentreppe und weint bittere Tränen der Frustration. Vor ihm steht seine Kindergartentante Hertha, ihre Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Ihr rundliches Gesicht drückt große Missbilligung aus und Hektor ist der Grund für diese Verstimmung. Er hat seiner Todfeindin Sabine ein Bein gestellt, sie ist gestürzt und hat sich einen Zahn ausgeschlagen. Und obwohl Sabine, die ihn schon wieder den ganzen Tag lang ‚Traktor‘ gerufen hat, den ausgeschlagenen Zahn bestimmt verdient, wird Hektor für sein angeblich schlechtes Benehmen bestraft. Hektor fühlt sich ungerecht behandelt, dicke Tränen laufen über seine Wangen und tropfen auf sein hellrotes T-Shirt. Schluchzend beteuert er seine Unschuld, doch Tante Hertha ist nicht gewillt seinen Ausreden zuzuhören. Sie verbannt Hektor auf unbestimmte Zeit ins Ruhezimmer und überlässt ihn seinen ‚Krokodilstränen‘, wie sie es nennt. Zutiefst gekränkt heult Hektor in ein großes, flauschiges Kissen.
Leise schluchzend kehrte Hektor in die Realität des Zimmers zurück, in welcher die Seiten des Buches nun leergelesen waren. Andächtig legte er es auf den Tisch, dann wandte er sich wieder den Regalen zu. Nun las er die Titel der Bücher ganz bewusst, griff ein Exemplar nach dem anderen heraus, um den Einband aus der Nähe zu betrachten. Die Bücher trugen Titel wie ‚Apfel-Liebe‘, ‚Schneeburg‘ oder ‚Papierkrieger‘, manche waren dick und in Leder gebunden, andere bestanden nur aus ein paar zusammengehefteten Seiten. Hektor entschied sich für ein dünnes Büchlein, das den einfachen Titel ‚Erdbeerkuchen‘ trug, er setzte sich an den Tisch, schlug das Büchlein auf und durchlebte Augenblicklich jene süße Ekstase, die er als kleiner Junge beim Genuss des Kuchens empfunden hatte. „Unglaublich“, flüsterte er danach und legte das leergelesene Büchlein vorsichtig zu den anderen. In den nächsten Stunden erlebte Hektor auf diese Weise dutzende Ereignisse seiner Kindheit, er durchlitt den tränenreichen Verlust seines Meerschweinchens Billy, stritt zornig mit seinem Vater über ein verschüttetes Glas Milch und brach sich den Arm, als er auf dem Jahrmarkt von einem bockigen Pony stürzte. Hektor las, bis der Tisch unter den schweren Bücherstapeln bedenklich knirschte und er, übervoll mit Erinnerungen und aufgewirbelten Gefühlen, meinte, in tausend Stücke zerspringen zu müssen. Erschöpft legte er ein letztes Buch auf einen der schwankenden Stapel, dann schlurfte er zum Bett und plumpste auf die Matratze, sein Körper fühlte sich schwer wie Blei, doch sein Kopf war federleicht, als wäre er mit Helium gefüllt und während er noch über diesen eigenartig zwiegespaltenen Zustand nachdachte, schlief er ein.

Hektor öffnete die Augen und schaute mit gerunzelter Stirn zur weit entfernten, strahlend weißgetünchten Zimmerdecke. Er drehte sich auf die Seite, blickte lange zur Wand und seufzte tief. Schließlich wälzte er sich aus dem Bett, schlurfte zum Tisch und saß dort ein wenig ratlos, während die Müdigkeit aus seinen Gliedern wich. Hektor erinnerte sich nur schemenhaft an seine Erlebnisse des letzten Tages, er wusste, dass er in den Büchern gelesen und dabei etwas Bedeutendes erfahren hatte, doch konnte er beim besten Willen nicht mehr zusammensetzen, was es gewesen war. Also stand er schwerfällig auf, ging zu einem der Regale, zog ein unscheinbares Buch mit dem Titel ‚Kuss’ heraus und begann zu lesen:
Hektor steht bis zum Bauchnabel im Meer. Über seinem Kopf ziehen schneeweiße Möwen im grenzenlosen Himmel dahin, doch Hektor hat nur Augen für Jasmin, die vor ihm in den Wellen steht, grinst und ein wenig zittert. Jasmin, die unbeschreiblich schön ist, in ihrem türkisblauen Badeanzug. Hektor schluckt trocken, seine Zunge fühlt sich schrecklich verkehrt an, als würde sie nicht in seinen Mund gehören. Alles fühlt sich falsch an und doch irgendwie richtig. Der Kuss kommt völlig überraschend, ganz plötzlich beugt Jasmin sich nach vorn, nimmt seinen Kopf zwischen die Hände und drückt ihre weichen, nach Meerwasser und Sonnencreme schmeckenden Lippen auf seine.
Wehmütig dachte Hektor dem unvergleichlichen Geschmack dieser Lippen hinterher, dem Geruch und Gefühl jenes Tages am Meer. Beinah zärtlich blätterte er durch die leergelesenen Seiten des Buches, dann legte er es auf den Tisch, strich noch einmal liebevoll über den Einband und wandte sich wieder den Regalen zu. Er wählte ein kleines Heftchen ohne Titel und durchlebte eine kurze Demütigung im Geschichtsunterricht; seine Lehrerin fragte nach dem Geburtsort Hitlers und er gab, ganz unschuldig, Berlin zur Antwort. Das abfällige Gelächter seiner Mitschüler klang noch geisterhaft in seinen Ohren, als er das Heftchen schnaubend auf den Boden warf. Hektor las an diesem Tag unzählige Abschnitte seiner Jugend, er durchlebte den aufregenden Ekel der ersten Zigarette, erfuhr den bittersüßen Schmerz enttäuschter Liebe, stritt unzählige Male erbost mit seinen Eltern, den Lehrern, den Freunden, versöhnte sich, betrank sich, bekam Hausarrest. Die leergelesenen Bücher türmten sich auf Tisch und Boden, Hektor gähnte und rieb müde über seine geröteten Augen. Er entschied, noch ein letztes Buch zu lesen, bevor er ausruhen musste und
wählte ein großformatiges Exemplar mit ockerbraunem Einband, das den vielversprechenden Titel ‚Jagdglück‘ trug:
Hektor kniet hinter einem dicht belaubten Holunderbusch und wartet auf das Kaninchen. Er hält seine Schleuder locker in der linken Hand, beobachtet aufmerksam den Grasfleck, hinter dem er das Tier vermutet, und versucht möglichst leise zu atmen. Nach einer halben Ewigkeit kommt das Kaninchen endlich hinter dem Grasfleck hervor, Hektor konzentriert sich, er zielt und schießt. Das getroffene Tier springt mit einem entsetzten Kreischen in die Luft, dann windet es sich im Gras und schreit vor Schmerz. Hektor gerät in Panik, er stolpert kreidebleich aus seinem Versteck, rennt kopflos davon, fällt der länge nach hin, schlägt sich die Handballen blutig.
Nach dieser Erinnerung war es Hektor wirklich genug für diesen Tag, er klappte das Buch geräuschvoll zu und schüttelte betrübt den Kopf, das schlechte Gewissen drückte schwer auf seine Schultern. Gebeugt schlurfte er zum Bett, mit knirschenden Gelenken legte er sich auf die Matratze, lange lag er wach und fand nicht in den Schlaf. Die Schreie des Kaninchens verfolgten ihn bis in seine Träume.

Hektor öffnete die Augen und warf einen langen Blick zur strahlend weißgetünchten Zimmerdecke hinauf. Sie erschien näher zu sein, als hätte sie sich in der vergangenen Nacht unbemerkt herabgesenkt, doch Hektor tat diese Beobachtung als einen Streich seines überreizten Gehirns ab. Er wuchtete sich aus dem Bett und begann den Tag mit ungelenken Gymnastikübungen, die er mit verbissenem Ernst absolvierte. Geschäftsmässig schritt er danach die Regalreihen entlang, um hier oder dort einzelne Bücher auszuwählen, dann setzte er sich mit auffällig geradem Rücken an den Tisch und las die Erinnerung an einen Einstellungstest, bei dem er kläglich versagt hatte. Er durchlebte noch einmal die Verunsicherung, die er beim Anblick des mehrseitigen Fragebogens empfunden hatte und roch den scharfen Achselschweiß, der durch sein Hemd sickerte, bis er schließlich mit hochrotem Kopf aus der demütigenden Erinnerung zurückkehrte. Hektor murmelte einen blumigen Fluch, dann schluckte er die Schmach hinunter und wandte seine Aufmerksamkeit einem anderen Buch zu. Er hatte das unbestimmte Gefühl eine wichtige Aufgabe zu absolvieren, die er zwar nicht begreifen, jedoch ganz bestimmt meistern konnte. Stundenlang arbeitet er sich auf diese Weise durch die Bücher, manchmal stand er auf, um seinen schmerzenden Rücken zu entlasten und joggte ein paar Runden an den Regalen entlang, dann setzte er sich wieder an den Tisch und las. Die Erinnerungen begannen zu verschwimmen, bildeten in seinem Kopf ein wirres Durcheinander aus Gedanken und Gefühlen. Hektor beschloss noch ein letztes Buch zu lesen, bevor es für diesen Tag genug sein sollte, er stellte sich vor die Regale, rieb den schmerzenden Rücken und ließ den Blick über die Buchreihen wandern, bis er ein besonders schönes Exemplar entdeckte. Das Buch besaß einen dunkelbraunen Einband, der wie die Borke eines Baumes aussah und trug keinen erkennbaren Titel, neugierig zog er es aus dem Regal, setzte sich an den Tisch und begann zu lesen:
Hektor fährt zügig eine Landstraße entlang, im Autoradio läuft gerade sein Lieblingslied, er singt aus vollem Hals mit und genießt den Fahrtwind, der durch das geöffnete Seitenfenster strömt. Es ist ein lauer Abend im September, die Bäume am Straßenrand beginnen bereits die Blätter zu verfärben, stehen aber noch im vollen Laub. Der Himmel zeigt sich strahlend Blau und wolkenlos. Hektor fühlt sich großartig, er trommelt mit den Händen im Rhythmus des Liedes, grölt den Refrain und tritt ordentlich aufs Gas, um noch vor der nächsten Kurve einen Wagen zu überholen…
Mit einem Aufschrei riss sich Hektor aus der Erinnerung und schleuderte das Buch von sich, als stünde es in Flammen. „Nein, das nicht. Das bitte nicht!“, schrie er, warf sich theatralisch aufs Bett und heulte. Lange lag er so da, zusammengekrümmt und zitternd, die Augen so fest verschlossen, dass er rote Punkte sah. Er hoffte, so die Erinnerung abschütteln zu können und betete, dass der Schlaf kommen und ihn erlösen möge. Jahrelang hatte er nicht mehr an den Unfall gedacht, hatte die Bilder vergessen, den Geruch, die Schreie. Nun drängte sich all das brutal in sein Gedächtnis und er wehrte sich mit aller Kraft gegen die Schuld, die sein Herz zu erdrücken drohte. Als der Schlaf ihn nach endlosen Stunden endlich überrollte, träumte er von Feuer, Blut und Tränen.

Hektor öffnete die Augen und stierte matt zur weißgetünchten Zimmerdecke empor. Erneut hatte er den Eindruck, die Zimmerdecke sei nicht mehr so weit entfernt und auch die Regale wirkten deutlich niedriger, als sie es gestern noch gewesen waren. Unwillig schob er den Gedanken von sich, schwang die Beine aus dem Bett und fluchte, als seine nackten Füße den kalten, schwarz-weißkarierten Laminatboden berührten. Auf dem Tisch lag das Buch ohne Titel, Hektor saß auf der Bettkante und starrte lange zu ihm hinüber, schließlich stand er auf, schritt betont langsam zum Tisch, nahm das Buch in die Hände und drehte es schlecht gelaunt hin und her. „Ich WILL das nicht lesen.“, grollte er leise, dann stellte er das Buch demonstrativ zurück ins Regal und suchte ein anderes heraus, das den unverfänglichen Titel „Arbeitsalltag“ trug. Sein Elan des Vortages war verflogen, mit langem Gesicht nahm er Platz und begann zu lesen. Die Geschichten, die er nun mit großer Sorgfalt aussuchte, handelten fast ausschließlich von seinem Berufsleben, Hektor quälte sich lustlos durch lange Jahre im Büro, durchlebte stundenlange Sitzungen und öde Abende mit Geschäftspartnern, deren inhaltsleeres Gerede nur mithilfe von Alkohol erträglich schien. Immer wieder wanderte sein Blick zu dem Regal, in welchem das Buch ohne Titel stand, jedes Mal schüttelte er den Kopf, um seinen deutlichen Unwillen zu signalisieren. Als er an diesem Abend ins Bett schlurfte, fühlte er sich erschöpft und so leergelesen wie die unzähligen Bücher, die in wildem Durcheinander auf dem Fußboden lagen.

Hektor öffnete die Augen und ignorierte bewusst die Zimmerdecke, deren unbestreitbares näherrücken seine Nerven strapazierte. Er drehte den Kopf und stöhnte, als er das Buch ohne Titel auf dem Tisch liegen sah. Missmutig wälzte er sich aus dem Bett, stapfte zum Tisch und stieß das Buch zu Boden. Mit einem satten Geräusch schlug es auf dem Knüpfteppich auf und Hektor versetzte ihm einen kräftigen Tritt, sodass es unter eines der Regale geschleudert wurde. Dann setzte er sich mit verkniffenem Gesicht auf den Klappstuhl und schmollte. Hektor hatte keine Lust in den Büchern zu lesen, wollte sich nicht mehr mit seiner Vergangenheit beschäftigen, wollte eigentlich nur noch eines: seine Ruhe haben. Also saß er da, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen auf die Tischplatte geheftet und wartete, bis er meinte, sein Kopf müsse vor Langeweile zerspringen. Er hatte das Gefühl einen Kampf auszufechten, dessen Regeln er nicht verstand und ahnte, dass er verlor. Niedergeschlagen stand er schließlich auf, griff ein Buch aus dem Regal und las:
Hektor sitzt am schmuddeligen Tresen einer anonymen Kneipe und schüttet Bier in sich hinein. Es ist sein vierzigster Geburtstag, doch bis jetzt hat sich niemand gemeldet um zu gratulieren. Deprimiert versucht er ein Gespräch mit einer attraktiven Blondine zu beginnen, deren voluminös toupiertes Haar an Strohballen in einem Stoppelfeld erinnert, doch sie zeigt sich nicht interessiert und verlacht seine Bemühungen hämisch. Hektor fühlt sich von der Welt verlassen, deprimiert trinkt er weiter, bis er sich schließlich auf der verdreckten Herrentoilette übergeben muss.
Hektor tauchte aus der Erinnerung auf und würgte, der Geschmack des Erbrochenen klebte ekelerregend an seinem Gaumen. Angewidert warf er das Buch zu Boden und griff nach einem anderen Exemplar, das allerdings eine ganz ähnliche Geschichte erzählte. Die meisten Bücher, die nun in den Regalen standen, trugen amüsante Titel wie „Leberjodler“ oder „Bier vor Vier“, doch ihr Inhalt war alles andere als lustig. Jede Geschichte begann und endete auf ähnliche Weise, aus den Trinktouren mit Bier wurden Saufabende mit Whiskey, bis Hektor eines Tages bei Schnaps landete, der immer billiger wurde, je weiter die Jahre voranschritten. Er sah eine zaghafte Beziehung aufkeimen und nach kurzer Zeit am Alkohol zerbrechen, sah seine Karriere versanden und schließlich auch sich selbst. In dieser Nacht lag Hektor lange wach, schlaflos wälzte er sich von einer Seite zur anderen, das Bett erschien ihm hart und unbequem, das Kopfkissen drückte, die Bettdecke kratzte. Entnervt schlug er mit der Faust auf das Kopfkissen ein, bis es zerriss und Federn spuckte, dann trat er Kissen und Decke zornig aus dem Bett, lag auf der Matratze und fühlte sich elend.

Hektor öffnete die Augen und lugte misstrauisch zur Zimmerdecke, die nun so nahe war, dass er Pinselabdrücke und feine Risse in der strahlend weißen Tünche erkennen konnte. Er drehte sich plump auf die Seite und ließ den Blick deprimiert durch das kleine Zimmer schweifen, dessen Regale auffallend niedrig und leer waren. Auf dem Tisch lag das Buch ohne Titel und schien ihn zu verhöhnen. „Ich hasse dich“, murmelte Hektor, er drehte sich auf die andere Seite und schloss die Augen, doch der Schlaf wollte nicht wiederkommen. Also quälte er sich aus dem Bett, ignorierte das Buch auf dem Tisch und zog die wenigen, verbliebenen Bücher aus den Regalen. Dann verschanzte er sich wieder im Bett, doch konnte er sich nicht dazu aufraffen, die Bücher zu lesen. Vierzig Bände waren es noch, vierzig Geschichten aus seinem alten Leben. Hektor fragte sich, was geschehen würde, wenn er sie leergelesen hätte, unwillkürlich wandte er den Kopf zum Buch ohne Titel und schauderte. Er entschied, die Bücher nicht zu lesen und verschränkte entschlossen die Arme vor der Brust, doch war niemand zugegen, den diese Geste beeindruckt hätte. Einsam und allein saß er auf dem Bett, ein unerträglich langer Zeitraum verstrich, in dem rein gar nichts geschah und so gab er sich endlich geschlagen und las. Traurig waren sie, die letzten Geschichten aus seinem Leben, angefüllt mit Bitterkeit und Enttäuschung. Hektor fühlte einen Klumpen in seiner Brust, der mit jeder Geschichte schwerer wurde, die ihn näher an das Ende seiner Erzählung rückte. Kopfschüttelnd tauchte er aus einer letzten Erinnerung auf, die ihn ausgezehrt und gelblich in einem Krankenhausbett zeigte und nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie es nur so weit hatte kommen können. Wie unter Zwang wandte er den Kopf zum Buch ohne Titel. „Nein“, sagte er laut. „Ich kann das nicht.“ Hektor legte das letzte, leergelesene Buch auf den Stapel, den er neben dem Bett aufgehäuft hatte, zog die Decke über den Kopf und weinte.

Hektor öffnete die Augen und stieß einen erschrockenen Schrei aus, als er bemerkte, wie niedrig die strahlend weißgetünchte Zimmerdecke in dieser Nacht herabgekommen war. So nahe war sie während seines Schlafes herangerückt, dass er sie, im Bett liegend, mit der ausgestreckten Hand berühren konnte. Ängstlich stellte er sich wieder schlafend, doch selbst mit geschlossenen Augen spürte er die nahe Zimmerdecke, die ihn zu zerquetschen drohte. Hektor fühlte die Panik in heißen Wellen über sich hereinbrechen, tapfer versuchte er seine Angst zu kontrollieren, doch das Atmen fiel ihm schwer und das Herz schlug wild und schmerzhaft gegen seine Brust. Schweißnass wand er sich auf der Matratze, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, bis er es nicht mehr ertragen konnte zu liegen. Stöhnend schälte er sich aus dem Bett und kroch auf Händen und Knien zum Buch ohne Titel, das in der Mitte des Raumes auf dem Knüpfteppich lag und auf ihn zu warten schien. Unschlüssig hockte er vor dem Buch, wiegte den Oberkörper vor und zurück und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht.“, flüsterte er unter Tränen. Er bettelte und wimmerte, riss sich die eisengrauen Haare vom Kopf und flehte zur niedrigen Zimmerdecke, er möge verschont werden, aber seine Worte verebbten ungehört, bis nur noch heiseres Flüstern blieb. Zitternd griff er nach dem Buch, krampfte die Finger, als wollte er es zerreißen, dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen, klappte es auf und las:
Hektor fährt zügig eine Landstraße entlang, im Autoradio läuft gerade sein Lieblingslied, er singt aus vollem Hals mit und genießt den Fahrtwind, der durch das geöffnete Seitenfenster strömt. Es ist ein lauer Abend im September, die Bäume am Straßenrand beginnen bereits die Blätter zu verfärben, stehen aber noch im vollen Laub. Der Himmel zeigt sich strahlend Blau und wolkenlos. Hektor fühlt sich großartig, er trommelt mit den Händen im Rhythmus des Liedes, grölt den Refrain und tritt ordentlich aufs Gas, um noch vor der nächsten Kurve einen Wagen zu überholen. Das entgegenkommende Auto sieht er nicht, es taucht völlig unvermittelt auf, als wäre es auf die Straße gezaubert worden. Erschrocken reißt Hektor das Lenkrad herum, wie in Zeitlupe sieht er den fremden Wagen auf sich zuschießen, die junge Frau am Steuer ist leichenblass. Die Autos schießen um Haaresbreite aneinander vorbei, der Wagen der Fahrerin gerät ins schleudern und prallt frontal gegen einen Baum. Hektor tritt hart auf die Bremse, er springt aus dem Auto, stolpert, knallt hart auf den Asphalt, rappelt sich auf und rennt zur Unfallstelle. Sieht verbogenes Metall, riecht ausströmendes Benzin, hört verzweifelte Schreie. Aus der Motorhaube schlagen Flammen, die junge Frau liegt eingeklemmt in den Trümmern des Wagens und schreit panisch um Hilfe. Hektor verliert die Nerven, er macht auf dem Absatz kehrt, rennt zu seinem Auto, springt hinter das Lenkrad und fährt mit quietschenden Reifen davon.
Zutiefst betroffen tauchte Hektor aus der Erinnerung auf, kraftlos ließ er das Buch aus seinen Händen gleiten. „Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid!“, schluchzte er niedergeschmettert, die Schuld schnitt wie heißglühender Draht durch sein Herz, mit versteinerter Miene saß er auf dem Boden und zitterte. Ein merkwürdig knirschendes Geräusch riss ihn aus der Erstarrung, Hektor hob den Kopf und begriff, dass die Zimmerdecke erneut in Bewegung geraten war. Langsam senkte sie sich herab, um ihn zu zerquetschen. Angsterfüllt kroch Hektor über den Laminatboden und suchte verbissen nach einem Ausgang, er robbte auf Händen und Knien, wand sich auf dem Bauch, bettelte und schrie, doch die Zimmerdecke kam unerbittlich näher, senkte sich auf ihn herab und raubte ihm die Luft zum Atmen. Als der Druck auf seinen Körper unerträglich wurde, stieß er einen letzten, verzweifelten Schrei aus.

„Ich gratuliere, Frau Wildhagen!“, die Hebamme beugt sich über die erschöpfte Mutter und lächelt strahlend. „Sie haben das ganz wunderbar gemacht. Es ist ein gesundes Mädchen. Hören Sie nur, wie kräftig es schreit, das ist ein gutes Zeichen.“ Frau Wildhagen erwidert das Lächeln der Hebamme, liebevoll wiegt sie das kleine Bündel Leben, das zitternd und schreiend in ihren Armen liegt.

© sybille lengauer

Leben

Veröffentlicht: April 4, 2014 in Gedichte
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Morgen fressen uns vielleicht die Würmer.
Doch heute wurmen wir hier noch herum.
Und winden uns, wie tapfre Gipfelstürmer.
Um Lebenswege, mutig oder dumm.
 
Wir halten fest an alten Idealen.
Oder treten ebendiese in den Dreck.
Egal was kommt, die Bilder die wir malen.
Wäscht die Zeit mit einem Blinzeln wieder weg.
 
Und wenn dereinst die Ratten an uns nagen.
Die heiße Sonne unsre Knochen spröde bleicht.
Wird jemand anders unsre Sorgen weitertragen.
Weil jedes Leben irgendwie dem nächsten gleicht.
 
© Sybille Lengauer
 
 

Wenn ich dann…

Veröffentlicht: Februar 18, 2014 in Gedichte
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Wenn ich dann im Wald wohn‘,
Fressen mich bestimmt die Krähen.
Hacken mir die Eingeweide aus dem Bauch.
Die Augen aus dem Kopf.
Oder mich zermalmen die Trolle.
Mit steinerner Mine.
Dann gehe ich unter.
Aber zumindest gehe ich.

Wenn ich dann im Meer wohn‘.
Zerfetzen mich sicher die Krabben.
Reißen große Stücke aus meinen Beinen.
Beißen Löcher in mein Gesicht.
Oder mich verschlingt ein Megalodon.
Ganz und am Sück.
Dann gehe ich unter.
Aber zumindest gehe ich.

Wenn ich dann in der Erde wohn‘,
Verdauen mich gewiss die Würmer.
Bohren sich unter meine weiche, weiße Haut.
Kringeln sich in Heerscharen in meinem Schädel.
Oder mich holt der Teufel.
Im Pech- und Schwefelregen.
Dann gehe ich unter.
Aber zumindest gehe ich.


(cc) Sybille Lengauer

Du und ich

Veröffentlicht: August 26, 2013 in Geschichten oder so ähnlich
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Ich habe dich gerufen. Ich habe so lange deinen Namen gerufen, bis meine Stimme nur noch ein krächzendes Flüstern war. Mich auf dem Boden gewunden. Mit suchenden Fingern. Zitternden Muskeln. Du hast derweil im Nebenzimmer in den Fernseher gestarrt. Gemütlich auf dem Ledersofa. Ich habe Blut gekotzt. Blut geschwitzt. Mir die Zähne zu kleinen Brocken zermalmt. Du hast weiter dein beschissenes Programm geschaut. Germanys next Top-Trottel, oder so. Hast dir Chips ins Maul gestopft, während ich hier langsam krepiert bin. Ja, krepiert. Jetzt bist du Arschloch traurig. Hast Depressionen, weil du mir nicht geholfen hast. Weil du keine fünf Meter von mir entfernt deinen faulen Arsch kultiviert hast. Mit dem spitzen Fingernagel in der Nase. Du suchst jetzt einen Therapieplatz. Ich bin tot.

Bei meiner Beerdigung waren kaum Leute. Hat mich nicht überrascht, ich war kein geselliger Typ. Aber ein paar mehr hätten es schon sein können. Obwohl. Das Wetter war auch ein bisschen zu gut für so eine Veranstaltung. Wer will schon auf einem Friedhof herumstehen, wenn er auch am Badesee liegen kann. Oder schön schlemmen im Eissalon. Du warst sehr wohl da. Gramgebeugt und tränenüberströmt. Hast ausgesehen wie eine fette, traurige Krähe. Umgeben von deinen fetten, traurigen Krähenfreundinnen. Wobei du doch ein wenig abgenommen hast, seit dich die Schuldgefühle zerfressen. Geschieht dir ganz recht. Nun hockst du wieder vor dem Fernseher. Starrst mit glasigen Augen. Siehst nichts. Hörst nichts. Ziehst gedankenverloren immer wieder eine Haarsträhne durch deine Finger. Bist ein Schatten deiner selbst. Ich schwebe hinter dir durch das Sitzmöbel. Am Anfang war das noch recht unheimlich, aber mittlerweile macht es mir nichts mehr aus. Ich gewöhne mich an alles. Wenn ich durch dich hindurch schwebe und mich konzentriere, dann bekommst du eine Gänsehaut. Fühlst dich sichtlich unwohl. Also mache ich das jetzt alle paar Minuten.

Vorhin hast du mit deiner besten Freundin telefoniert. Die mit den riesigen Titten und der Turmfrisur. Habe mich immer gefragt, wie es wohl wäre, mein Gesicht zwischen diese massigen Dinger zu stecken. Dachte immer, es müsse sich anfühlen wie weiche, fleischige Ohrenschützer. Finde ich wohl nie mehr heraus. Was ich so mitgehört habe, ist sie voller Verständnis für dich und deine Situation. Glaube ich gerne. Sie ist mindestens so dämlich wie du. Morgen wollt ihr gemeinsam ins Kino. Wenn ich kann, vermiese ich dir diesen Ausflug nach Strich und Faden. Mir fällt sicher etwas ein. Du greifst nach einem Taschentuch, weil dir wieder die Tränen kommen. Wundert mich schon, dass du derart viel heulst. So sehr hast du mich doch gar nicht mehr geliebt. Hast du selber gesagt, neulich, als ich noch lebendig war. Scheinbar vermisst du mich doch mehr, als wir beide angenommen hatten. Aber vielleicht heulst du auch, weil du dir selber leid tust. Darin warst du schon immer meisterlich. Ich wandere wieder einmal durch dich hindurch. Du schauderst und seufzt. Das wird mir bestimmt nie langweilig.

Irgendetwas stimmt mit dem Plafond nicht. Er schimmert und wabert ein wenig. Kleine, glitzernde Funken fallen auf den Boden. Das sieht ganz schön verrückt aus. Du bekommst davon nichts mit, also scheint die Show für mich zu sein. Ich schwebe aus dir heraus und das Schimmern wird stärker. Ein Kreis aus hellem Licht erscheint. Ein bisschen spät, wenn mir die Bemerkung gestattet ist. Hänge seit zwei Wochen hier herum. Aber jetzt merke ich, wie es mich langsam zum Licht zieht. Warm und angenehm ist es darin. Ich glaube, ich höre leise Musik. Also, damit wäre es endlich überstanden, nicht wahr? Wir sehen uns dann drüben, wenn es unbedingt sein muss. Dann kann ich dir vielleicht endlich das blaue Auge verpassen, das du verdient hast. Mach’s gut, du blöde Kuh.

Ich wünsch dir einen schönen Hochzeitstag.

© Sybille Lengauer

Sommer

Veröffentlicht: August 24, 2013 in Gedichte
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Eine tote Maus neben den Mülleimern im Hinterhof. Der Sommer.
Ein toter Rabe in der Gosse vor dem Haus. Modert vor sich hin.     
Ein totes Reh unter einem Busch im Dickicht. Riecht.
Eine tote Taube, gespickt mit Brombeerdornen. Ein wenig streng.


© Sybille Lengauer

She’s dead

Veröffentlicht: April 21, 2011 in Geschichten oder so ähnlich
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PieP, PieP, PiiiiieP.

 Als der Wecker ihn erbarmungslos aus seinen Träumen riss, fiel sein Blick wie selbstverständlich auf die neben ihm liegende Gestalt. Still und farblos lag sie neben ihm und atmete flach in das welke, orangebraune Kissen. Ihr Körper wirkte von den durch die Jalousie fallenden Sonnenstrahlen wie in helle und dunkle Streifen geschnitten. Der linke Nasenflügel zuckte leicht, als seine Hand über ihr verwaschenes Haar glitt. Ein kurzes zucken der Augenbraue, ein etwas widerwilliges grunzen, dann drehte sie sich auf die andere Seite und schlief weiter. Die Müdigkeit aus den Augen reibend, stand er auf und schlurfte ins angrenzende Badezimmer. Während er den laufenden Fernseher passierte, sah er beiläufig in ein hässliches Schminkgesicht, das monoton die neuesten Schreckensnachrichten durchs Zimmer flüsterte. Gewohnheitsmäßig schaltete er den plappernden Apparat ab. An der Badezimmertür hingen schief geklebte Schwarzweißbilder von hübsch fotografierten Ärschen, die er beiläufig registrierte.  Leise schloss er die Tür.

Das schöne bordeauxrot der Fliesen kämpfte vergebens gegen das schrille Gelb der auf dem Boden verteilten Handtücher. Kleine Staubgebilde wirbelten sanft in dem von ihm erzeugten Luftzug. Unzählige aufgeklebte Schmetterlinge starrten ihn von den Wänden an, während er sich auf das Klo plumpsen ließ. Sein Blick fiel auf einen überfüllten Aschenbecher, zerfledderte Bücher und eine leere Klopapierrolle. Ärgerlich. Auf der verstaubten Waage, die halb unter dem Waschbecken versteckt stand, lag eine Packung Feuchttücher. Erleichtert begann er eine gemütliche Morgenrunde Tetris zu spielen, während sich sein Körper von den nächtlichen Häufungen befreite. Aus dem Schlafzimmer drang leichtes Schnarchen, das rasch von seiner elektrischen Zahnbürste übertönt wurde. Sorgfältig putzte er seine Zähne, betrachtete dabei sein Spiegelbild im fleckigen Alibert. Fügte den Flecken ein paar weitere Spritzer Zahnpasta hinzu. Spuckte ins Waschbecken. Als er fertig war und aus dem Badezimmer trat, hatte sie sich unter der Decke verkrochen, nur noch ein wuscheliger Haarschopf lugte aus der Bettenburg hervor. Vorsichtig öffnete er den Schrank, holte Shirt, Hose und Socken aus einem Gewühl an Kleidern. Zog sich an und bemerkte erst beim Schließen des Reißverschlusses, dass er vergessen hatte, die Unterhose zu wechseln. Zog seufzend erneut die Hose aus.  Fertig angezogen verließ er leise das Schlafzimmer. Ging in die Küche um Tee zu kochen und sah dabei gedankenverloren aus dem Fenster. Nachbars Garten war wie immer akkurat gepflegt und erübrigte sich eines zweiten Blickes. Als er den Zucker in seiner Tasse verrührte berührte ihn ihre Hand vorsichtig an der Hüfte. Lautlos war sie hinter ihn getreten und nun legte sie ihren schlaftrunkenen Kopf gegen seine Schulter. Still standen sie in der Küche, begrüßten zögerlich den neuen Tag.

PieP, PieP, PiiiiieP.

Als der Wecker ihn erbarmungslos aus seinen Träumen riss, fiel sein Blick wie selbstverständlich auf den leeren Platz neben ihm. Unbenutzt lag das welke, orangebraune Kissen da. Ihr Geruch hing immer noch ein wenig in dem alten Stoff. Die durch die Jalousie fallenden Sonnenstrahlen schnitten das Zimmer in helle und dunkle Streifen. Seine geschwollenen Augenlider zuckten leicht, als seine Hand über die sanfte Einbuchtung in der Matratze glitt. Die Traurigkeit aus den Augen reibend, stand er auf und schlurfte ins angrenzende Badezimmer. Während er den laufenden Fernseher passierte, sah er beiläufig in ein hässliches Schminkgesicht, das monoton die neuesten Schreckensnachrichten durchs Zimmer flüsterte. Gleichgültig ließ er den plappernden Apparat laufen. An der Badezimmertür hingen schief geklebte Schwarzweißbilder von hübsch fotografierten Ärschen, die er gar nicht registrierte.  Mit einem dumpfen Knall schloss er die Tür. Das schöne bordeauxrot der Fliesen kämpfte vergebens gegen das deprimierend gelbliche Weiß der auf dem Boden verteilten Taschentücher. Kleine Staubgebilde wirbelten hektisch in dem von ihm erzeugten Luftzug. Unzählige aufgeklebte Schmetterlinge starrten ihn von den Wänden an, während er sich auf das Klo plumpsen ließ. Sein Blick fiel auf einen überfüllten Aschenbecher, zerfledderte Bücher und eine leere Flasche Rum. Ärgerlich. Auf der verstaubten Waage, die halb unter dem Waschbecken versteckt stand, lag eine ungeöffnete Bierdose. Erleichtert begann er an der Dose zu nuckeln, während sich sein Körper von den nächtlichen Häufungen befreite. Aus dem Schlafzimmer drang enervierendes Handyklingeln, das nicht einmal von der elektrischen Zahnbürste übertönt werden konnte.  Kurz putzte er über seine Zähne, ignorierte dabei sein Spiegelbild im fleckigen Alibert. Fügte den Flecken ein paar weitere Spritzer Zahnpasta hinzu. Spuckte ins Waschbecken. Als er fertig war und aus dem Badezimmer trat, hatte das Handy aufgehört zu läuten. Niedergeschlagen öffnete er den Schrank, holte Shirt, Hose und Socken aus einem Gewühl an Kleidern. Zog sich an und bemerkte erst beim Schließen des Reißverschlusses, dass er vergessen hatte, die Unterhose zu wechseln. Achselzuckend schloss er den Knopf der Hose und  verließ das Schlafzimmer.  Ging in die Küche um Tee zu kochen und sah dabei gedankenverloren aus dem Fenster. Nachbars Garten war akkurat gepflegt wie immer und erübrigte sich eines zweiten Blickes. Als er den Zucker in seiner Tasse verrührte, klingelte das Handy erneut. „Notar“ stand auf dem Display. Kraftlos legte er es auf die Ablage. Durch die Vibration fing ein Kaffeelöffel an, wild auf dem alten Holz zu tanzen. Weinend stand er in der Küche, verfluchte inbrünstig den neuen Tag.

© Sybille Lengauer