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Die Traumfabrik

Veröffentlicht: November 1, 2019 in Kurzgeschichten
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Die Traumfabrik

Mittwoch Abend, es ist kurz vor 22 Uhr. Therese M. liegt auf ihrer Sofagarnitur und starrt schläfrig in den überdimensional großen Fernseher, der eine ganze Wand ihres Wohnzimmers einnimmt. Die Fernsehsendung ist beliebig und Thereses Gedanken sind es auch, sie ist erschöpft von einem langen Tag im Büro und nähert sich nun im automatischen Sinkflug dem Tiefschlaf. Ihr rundliches Gesicht verschwindet zwischen hellblauen Zierkissen, ihr molliger Körper schmiegt sich wohlig in eine Kuscheldecke, die farblich auf die Zierkissen abgestimmt ist. Ihre Atemzüge werden tiefer und regelmäßig. Therese M. schläft, wie so oft, auf ihrer Couch ein. Kurz darauf beginnt sie zu träumen…

Therese ist fünf Jahre alt. Sie trägt einen roten Regenmantel mit weißen Punkten und sitzt an ihrem Arbeitsplatz im Großraumbüro. Über ihrem Schreibtisch ragen riesige Aktenberge in den Himmel. Ihr Teamleiter, Helge Priem, steht mit düsterer Miene zwischen jenen Bergen und grollt wie ein zorniger Wolf, sein Oberlippenbart zittert bedrohlich, seine Augen glühen dunkelrot. Sein tiefes Grollen lockert eine Lawine in den Aktenbergen, donnernd stürzt eine Woge aus schneeweißem Papier zu Tal. Helge Priem wird von wirbelndem Schnee erfasst und fortgerissen. Plötzlich fährt Therese Ski. Ein gutaussehender Skilehrer gleitet neben ihr über den spritzenden Pulverschnee, sein Lächeln ist so weiß wie die schneebedeckte Landschaft. Therese, die nun kein Kind mehr ist, folgt dem Skilehrer mühelos durch das herrliche Postkartenidyll. Auf der Couch dreht sich ihr unsportlicher Körper vom plappernden Fernseher weg, im Traum springt Therese über eine Schneewehe und fühlt sich dabei federleicht. Ihre rasante Abfahrt endet in einem kleinen Dorf, dessen Häuser sich wildromantisch an das Ufer eines gefrorenen Sees schmiegen. „Machen Sie Urlaub in den Tiroler Bergen. Tirol, immer eine Reise wert.“ rät der Skilehrer mit einem Zwinkern, dann verschwindet er in einer glitzernden Schneewolke und der Traum verliert sich in den Tiefen von Thereses Unterbewusstsein. Grunzend fährt sie aus dem Schlaf, nur um gleich darauf wieder in den hellblauen Zierkissen zu versinken. „Tirol.“ flüstert Therese, dann verfällt sie in leichtes Schnarchen.

„Es ist zum Kotzen!“ ereifert sich der junge Schauspieler im Kostüm des Skilehrers. Wütend stapft er aus dem Bühnenbild. Mit einem zornigen „Auseinander!“ drängt er an einer Gruppe Statisten vorbei, die in der Dunkelheit hinter den Kulissen stehen und rauchen. „Es ist eine gottverdammte Schande!“ schreit er zornig, während Kunstschnee von seinen breiten Schultern rieselt. „Beruhige dich, Thomas.“ Ein grauhaariger Mann tritt zwischen bunt bemalten Papphäusern hervor. Er hält die Maske des Teamleiters Priem in der Hand, offenbar ist er ein Kollege des jungen Schauspielers. „Ich soll mich beruhigen? Hast du nicht gesehen, was sie mir angetan haben?“ jammert Thomas, er unterstreicht seinen Unmut mit einer theatralischen Geste und verdreht die Augen. „Es war doch nur ein kleiner Satz.“ hält sein Kollege dagegen, er lässt die Maske des Teamleiters in einer ausgebeulten Jackentasche verschwinden, zieht ein Päckchen Lucky Strike aus einer anderen Tasche und reicht Thomas eine zerknautschte Zigarette. „Hier, Junge. Rauch‘ und beruhige dich endlich.“ rät er freundlich, aber streng. „Ich will mich nicht beruhigen.“ faucht Thomas aggressiv, er schnappt nach der Zigarette, wartet ungeduldig auf Feuer und beginnt hektisch zu rauchen. „Ich lasse mir das nicht mehr länger gefallen!“ knurrt er rebellisch,während sein Kollege nur mit den Achseln zuckt und sich ebenfalls eine Zigarette anzündet. „Was lassen Sie sich nicht mehr länger gefallen, Herr Lindner?“ fragt eine Stimme aus dem Hintergrund. Der ältere Schauspieler verschluckt sich erschrocken am Rauch seiner Zigarette, mit einem gehusteten „Scheiße, der Gruber!“ verschwindet er zwischen den Papphäusern. Thomas Lindner wendet sich der Stimme des Regisseurs zu, mit der Courage der Jugend reckt er sein glattrasiertes Kinn vor, um dem berüchtigten Choleriker entgegenzutreten. „Ich will diese Werbung nicht mehr machen, Herr Gruber. Das ist unter meiner Würde.“ schnaubt er mit deutlicher Arroganz in der Stimme. Doch unter dem scharfen Blick, der ihm aus Grubers blutunterlaufenen Augen begegnet, schwindet sein jugendlicher Mut rasch dahin. „Also, ich meine…“ beginnt er stotternd, dann bricht er ab und schweigt. Der gewichtige Regisseur mustert den jungen Schauspieler abfällig und reckt seinerseits das stattliche Doppelkinn nach vorn. „Wer ist dein Chef?“ fragt er unerwartet direkt, mit dramaturgischer Akkuratesse schiebt er seinen feisten Leib aus dem Schatten ins Licht, seine missbilligenden Gesichtszüge treten scharf hervor, sein massiger Bauch ragt bedrohlich in den Raum. Thomas Lindners Courage schrumpft im selben Augenblick zu einem winzigen schwarzen Loch, das sein Verlangen nach Rebellion und Würde mit sich in den Abgrund reißt, übrig bleibt nur ein verunsicherter Jungschauspieler, der in einem lächerlichen Skianzug steckt. „Direktor Falkner?“ piepst er mit zitternder Stimme. „WER ist dein Chef?“ brüllt Regisseur Gruber brutal und Thomas lässt vor Schreck die Zigarette fallen. „Sie, Herr Gruber. Sie sind natürlich mein Chef.“ antwortet er unterwürfig. „Wieder falsch. Falsch, FALSCH!“ Das speckige Gesicht des Regisseurs hat sich dunkelrot verfärbt, in seinen Augen wütet impulsives Feuer. „Dein Chef ist das Geld, du Idiot! Geld ist dein Chef, Geld ist mein Chef, Geld ist unser aller Chef! Und wenn das Geld sagt, du sollst springen, dann fragst du nur: wie hoch? Hast du das verstanden, Junge?“ „Ja, Herr Gruber.“ Thomas blickt beschämt zu Boden, seine Ohren glühen genauso dunkelrot wie die Wangen des Regisseurs. Doch Grubers Jähzorn verraucht schnell. „Sie haben ein wenig Talent, mein Sohn. Verschwenden Sie sich nicht an moralinsaure Ideen, sondern machen Sie etwas aus sich.“ brummt er gönnerhaft, dann verschwindet er zwischen den Kulissen und lässt den gedemütigten Thomas Lindner alleine zurück.

Donnerstag, es ist kurz nach 12:30 Uhr, Mittagspause im Großraumbüro. Therese M. sitzt mit überschlagenen Beinen vor ihrem Computer, in der linken Hand hält sie einen Becher Naturjoghurt, in den sie etwas Erdbeermarmelade gerührt hat. Mit regem Interesse studiert sie die neuesten Onlineangebote diverser Reiseunternehmen. Geistesabwesend löffelt sie sich Joghurt in den Mund ohne etwas zu schmecken, denn Therese ist gedanklich in den zauberhaften Alpen und, ganz unbewusst, auch beim strahlenden Zahnweißlächeln des attraktiven Skilehrers. Zu ihrem Bedauern sind selbst die günstigsten Tirol-Angebote unerschwinglich, vor allem die horrenden Hotelpreise erschrecken die einfache Angestellte. „Na, fährst in Urlaub?“ fragt eine neugierige Kollegin, die sich unbemerkt genähert hat. „In meinen Träumen.“ antwortet Therese deprimiert und sie weiß gar nicht, wie recht sie hat.

„Guten Abend.“ Direktor Falkner betritt schwungvoll den Fahrstuhl und verteilt ein kurzes, wohldosiertes Lächeln an die Männer, die bereits in der engen Kabine stehen. Stefan Falkner verschenkt sein Lächeln nicht leichtfertig, für gewöhnliche Arbeiter und Statisten hält er einen lauwarmen Gesichtsausdruck bereit, der angemessen distanzierte Freundlichkeit vermitteln soll. Dieses Lächeln taucht auf und verschwindet genauso schnell wie sein Interesse an den Menschen, mit denen er nun nach oben fährt. Mit einem knappen Gruß verabschiedet er sich von ihnen, ihre Gesichter hat er nach kurzer Zeit wieder vergessen und würde man ihn fragen, wer mit ihm im Lift gestanden, er wüsste es nicht zu sagen, selbst wenn sein Leben davon abhinge. In Falkners Büro wartet Regisseur Jean-Patrick Gruber, Falkner begrüßt ihn mit einem kurzen Kopfnicken, man kennt sich seit Jahren und hat das Bedürfnis nach Höflichkeitsfloskeln längst hinter sich gelassen. Gruber hat zwei Whiskygläser mit Dalmore 18 gefüllt und auf den Schreibtisch gestellt, nun wartet er darauf, dass der Direktor sich in seinen Ledersessel setzt, doch Falkner hat keine Eile. Er vertritt den Grundsatz, sich niemals zu hetzen, wenn jemand anderes die Zeit hat, auf ihn zu warten. „Wie läuft die Produktion?“ erkundigt er sich ganz beiläufig. „Darüber wollte ich mit dir sprechen.“ sagt Gruber mit ungeduldigem Unterton. Falkner setzt sich endlich an seinen Schreibtisch und deutet auf die Gläser. „Schlechte Nachrichten?“ fragt er mit der Andeutung eines Lächelns. Gruber schnaubt bitter und nimmt ebenfalls Platz. Ächzend lässt er sich in einen der Besuchersessel fallen, sein dicker Wanst quillt massig unter seinem weißen Hemd hervor, doch Gruber stört sich nicht an Äußerlichkeiten, sofern sie ihn selbst betreffen. „Kommt ganz darauf an.“ antwortet er in neutralem Tonfall. Falkner bedeutet ihm mit einer knappen Geste fortzufahren und Gruber kommt sofort auf den Punkt. „Ich habe die Drehbücher für die kommende Woche erhalten. Du packst drei Werbesuggestionen in jede Traumsequenz. Das ist nicht machbar.“ Falkner lehnt sich nach vorn, er ist zwar nicht so dick wie Gruber, doch sein Rang verleiht ihm das nötige Gewicht. „Sagt wer?“ fragt er ruhig. „Sage ich, Stefan. Die Stars werden das nicht mitmachen. Gianna Nova droht schon jetzt zu ‚Dreamstudio‘ zu wechseln und wenn Gianna geht, dann geht auch Rolf Noir…“ „Dann sollen sie sich eben verpissen, sie sind ohnehin die größten Kostenfresser.“ unterbricht Falkner kalt, er greift nach einem Whiskyglas und trinkt, ohne zu genießen. „Und wer spielt die großen Szenen, wenn sie sich verpisst haben?“ Gruber wird laut, sein Gesicht beginnt sich dunkelrot zu verfärben. „Der kleine Drecksschnösel Lindner, oder wer?“ „Es ist mir scheißegal wer dann spielt, Jean. Du weißt, wie es um unsere Finanzen steht.“ knurrt Falkner, ohne zu blinzeln. „Die Werbespots sind im Moment unsere einzige Einnahmequelle. So ist eben der Lauf der Welt. Ende der Diskussion.“ Falkner erhebt sich selbstbewusst, als Jean-Patrick Gruber mit hervorquellenden Augen aus seinem Sessel fährt und mit wuchtigen Schritten den Schreibtisch umrundet. „Wenn du so weitermachst sind wir nicht nur pleite, dann sind wir ruiniert!“ schreit Gruber erbost. Regisseur und Direktor stehen sich aufgebracht gegenüber, kurz hat es den Anschein, als wollten sie sich schlagen, doch der Moment vergeht ohne Handgreiflichkeiten. Gruber langt mit einem verächtlichen Grunzen nach dem zweiten Whiskyglas und trinkt es in einem Zug leer, Falkner lässt ein melancholisches Lachen erklingen und setzt sich. „Die Welt ist scheiße.“ resümiert Gruber, er rülpst laut und stellt das Glas knallend zurück auf den Schreibtisch. „Das Leben ist scheiße.“ antwortet Falkner, doch Gruber winkt ab. „Auch egal.“ sagt er, dann verlässt er Stefan Falkners Büro, ohne sich zu verabschieden.

Wenige Tage später. Therese M. liegt in ihrem Bett und wälzt sich schlaflos hin und her. Sie hat ihren Kopfpolster aufgeschüttelt und ihre Bettdecke in die richtige Position gezogen und dennoch liegt sie unbequem. Therese kommt nicht zur Ruhe, ihre Gedanken galoppieren ungebremst in alle möglichen Richtungen, ihr Körper zwickt und drückt an den unangenehmsten Stellen. Seufzend gibt Therese schließlich den Kampf auf, sie quält sich aus dem Bett und geht zurück ins Wohnzimmer, dort stellt sie den Timer des Fernsehers ein, wickelt sich in ihre Kuscheldecke und versinkt langsam im flimmernden Sumpf der seichten TV-Unterhaltung. Fünfundzwanzig Minuten später schläft sie tief und fest auf ihrer Couch, bald darauf beginnt sie zu träumen…

Therese sitzt in einem Unterseeboot. Sie starrt aus dem Periskop und hält nach feindlichen Schiffen Ausschau. Ihr Blick gleitet über die peitschenden Wellen des Meeres, ihr Körper ist angespannt, sie kann die elektrisierende Erregung der Jagd auf ihrer Zunge schmecken. Hinter einer hohen Welle kommt ein altes Piratenboot in Sicht. „Feindkontakt!“ ruft Therese enthusiastisch und eine Sirene ertönt. Das Piratenboot wird mit einem donnernden Knall abgeschossen und versinkt augenblicklich in den Fluten. Therese feiert ihren Erfolg mit den Besatzungsmitgliedern, die wie ihre Arbeitskollegen aussehen. Ihr Teamleiter, Helge Priem, gratuliert herzlich und überreicht einen gewaltigen Rosenstrauß. „Kauf Blumen nur bei Leßmann. Leßmann, weil wir Pflanzen lieben!“ singen die Rosen mit winzigen Mündern. Therese wird selbst zur Rose und blüht an einem herrlich duftenden Strauch, der in einem verwunschenen Garten wächst. Im nächsten Augenblick wird die Rose Therese von einer liebreizenden Dame gepflückt, die mit eleganten Bewegungen über den perfekt getrimmten Rasen schreitet. Therese verspürt keinen Schmerz, nur eine kurze Wehmut, die schnell verschwindet. Sie schmiegt sich vertrauensvoll in die Hand der schönen Frau und wechselt die Gestalt. Nun blickt sie durch die Augen der Dame auf die Rose hinab und haucht einen Kuss auf die weichen Blütenblätter. „Du bist wunderschön.“ flüstert sie er Rose zu. „Du auch.“ antwortet eine wohlklingende Männerstimme in ihrem Rücken. Therese dreht sich erschrocken um, ihr Herz beginnt wild zu pochen. „Oh!“ haucht sie, zwischen Entzücken und Entsetzen. Ein stattlicher Pirat, der in verwegener Pose zwischen den Rosenbüschen steht, präsentiert der Welt ein golden funkelndes Grinsen. Er ist groß, kräftig und unverschämt gutaussehend, sein verwegener Goldzahn und der glitzernde Brillant, den er im linken Ohrläppchen trägt, versetzen Therese in aufgeregte Wallung. „Oh!“ macht Therese wieder. „Blind Date Dot Com. Du findest uns im Internet.“ flüstert der Pirat zärtlich, dann umarmt er Therese und drückt einen heißen Kuss auf ihre Lippen. Therese sinkt in seine muskulösen Piratenarme, romantische Geigenmusik setzt ein, irgendwo schreien Seeschwalben gegen das Rauschen einer unsichtbaren Brandung an. Der verwunschene Garten verflüssigt sich, die Rosenbüsche werden zum wogenden Meer. Therese steht am Steuer eines Piratenschiffes, konzentriert navigiert sie durch einen heraufziehenden Sturm. Der gutaussehende Pirat mit dem verführerischen Goldzahnlächeln stapft mit offenem Hemd auf dem Schiff umher und brüllt unverständliche Anweisungen an seine Mannschaft. Ein einarmiger Matrose schlurft hustend an Therese vorbei, es ist deutlich zu erkennen, dass er schwer erkältet ist. „Hustenpastillen von Stoll. Jetzt in Ihrer Apotheke.“ brummt er, dann verwandelt er sich in eine Möwe und fliegt davon. Therese sieht der Möwe hinterher, bis diese nur noch ein weißer Punkt im wolkenverhangenen Himmel ist. Als sie den Blick wieder auf das Meer richtet, kann sie ein Periskop aus dem Wasser ragen sehen. „Feindkontakt!“ hört Therese sich selbst schreien, dann kracht eine gewaltige Explosion und sie schreckt aus dem Schlaf.

„Nein, ich habe keinen Termin.“ Stefan Falkner verdreht angewidert die Augen, er sitzt steif hinter seinem Schreibtisch, drückt ein Handy an sein Ohr und macht ein verkniffenes Gesicht. Missmutig hört er seichte Warteschleifenmusik, bis ihn die enervierend grelle Stimme einer jungen Sekretärin aus der Erstarrung reißt. „Herr Falkner? Danke, dass Sie gewartet haben. Frau Beerengard befindet sich im Augenblick in einer Besprechung und kann Ihren Anruf leider nicht entgegennehmen.“ „Danke für nichts.“ blafft Falkner unvermittelt ins Telefon und legt auf. Es ist sein neunter Versuch mit seiner Bankberaterin ins Gespräch zu kommen, doch Frau Beerengard ist nicht mehr gewillt den schwülstigen Ergüssen, den dreist erlogenen Beteuerungen und an den Haaren herbeigezogenen Versprechungen zuzuhören, die sich Stefan Falkner bereitgelegt hat. Die Schonfrist für Falkners hochverschuldete Produktionsfirma ist abgelaufen, die Bank wird keinen weiteren Kreditaufschub gewähren. „Gottverdammte Scheiße.“ flucht Falkner frustriert, er reibt sich abgespannt mit einer Hand über das Gesicht, dann wählt er eine neue Nummer. Nach kurzer Zeit meldet sich eine geschmeidige Frauenstimme: „ThinkURsmart Werbeagentur, was darf ich für Sie tun?“ „Stefan Falkner hier. Ich will mit Zielke sprechen.“ „Einen Moment, ich verbinde.“ flötet die Frauenstimme. „Na endlich.“ brummt Falkner gereizt. Er hört sich ungeduldig durch die rockige Warteschleifenmusik des Unternehmens und wartet, bis der Leiter der Werbeagentur das Gespräch entgegennimmt. Von einer Sekunde zur nächsten verwandelt sich Stefan Falkners gesamter Ausdruck, er setzt sein sonnigstes Lächeln auf und strahlt mit unbändiger Energie durch das Mobiltelefon. „Manfred, mein Lieber!“ tönt Falkner mit honigsüßer Stimme, er lässt sich zu einer ausladenden Geste hinreißen, obwohl sein Gesprächspartner ihn gar nicht sehen kann. „Stefan, mein Freund, was kann ich an diesem wunderschönen Nachmittag für dich tun?“ antwortet Manfred Zielke mit übertriebener Freundlichkeit. „Die Frage ist vielmehr, was kann ich für dich tun?“ erwidert Falkner gut gelaunt. „Leider wenig, mein Lieber.“ antwortet Zielke mit gespieltem Bedauern. „Im Augenblick haben wir keine neuen Aufträge.“ „Manfred. Ich brauche Kunden.“ Stefan Falkner kann den Keim der Verzweiflung hören, der sich in seine Stimme schleicht. Er versucht ihn mit einem Räuspern zu vertreiben und lacht gekünstelt. „Du hast doch immer noch ein Ass im Ärmel.“ setzt er hinterher. „Nichts zu machen, mein Guter.“ Das Bedauern verschwindet aus der Stimme des Agenturleiters und wird durch leichten Unwillen ersetzt. Falkner kann intuitiv fühlen, wie sein Gesprächspartner ungeduldig auf die Uhr sieht. Er beginnt schamlos zu betteln, mit dem Rücken an der Wand hat er keine Reserven für weitere Plattitüden. „Was ist passiert, die Spots laufen doch ausgezeichnet! So rede mit mir, Manfred. Ich bitte dich!“ „Die Umsätze entsprechen nicht den Erwartungen.“ antwortet Manfred Zielke geschäftsmäßig. „Die Umsätze entsprechen nicht den Erwartungen?“ wiederholt Stefan Falkner fassungslos. Er sackt in seinem Ledersessel zusammen, das grimassierte Grinsen weicht langsam aus seinem Gesicht. „So sieht es aus.“ schallt es blechern aus dem Handy. Ein heftiges Gefühl der Angst strömt eiskalt über Falkners Rücken, Worte wie Bankrott, Insolvenz und Armenhaus kreisen wie hungrige Geier in seinen Gedanken. „Was kann ich tun?“ fragt er mit monotoner Stimme. „Bring deine Klienten dazu die Produkte unserer Kunden zu kaufen.“ lautet Manfred Zielkes einfache Antwort. „Ich muss jetzt auflegen, Stefan. Die Zeit rennt, du weißt ja.“

Samstag, es ist kurz vor Mitternacht. Therese M. hat den Abend mit einem überraschend angenehmen Blind Date verbracht, nun liegt sie, eingelullt in ein wohliges Gefühl zarter Verliebtheit, in ihrem Bett und träumt mit offenen Augen. Der Platz an ihrer Seite ist seit Jahren unbesetzt und Therese gibt sich der Vorstellung hin, dass der nette Mann, mit dem sie vorhin so lustig Weißweinschorle getrunken hat, diesen Umstand bald ändern könnte. Zwischen hormongeschwängerter Hoffnung und mahnender Vernunft gleitet sie langsam in den Schlaf hinüber und beginnt zu träumen…

Therese steht in Unterwäsche in ihrem Badezimmer und macht ihr Gesicht für eine Verabredung zurecht. Sie trägt dezentes Make-Up auf und bringt ihre Wimpern in Form, ihren Mund verschönert sie mit dunkelrotem Lippenstift. Als sie fertig ist, wirft sie ihrem Spiegelbild eine spielerische Kusshand zu. Im selben Augenblick fallen blutige Zähne aus ihrem lippenstiftroten Mund ins Waschbecken. Therese schnappt erschrocken nach Luft, verängstigt starrt sie auf die ausgefallenen Zähne. Sie schreit heftig, als ihr Spiegelbild einen Arm aus dem Spiegel streckt und eine Zahnpastatube nach ihr wirft. „Mit Zahnpasta von Dentafit wäre das nicht passiert!“ ruft Thereses Spiegelbild, dann löst es sich auf und mit ihm verschwindet auch das Badezimmer. Therese steht auf einer Ranch in Texas, sie atmet den Duft von getrocknetem Heu, fühlt warmen Sonnenschein auf ihrer Haut und vergisst langsam den Schrecken des vergangenen Traumbildes. Auf der Ranch ist es friedlich, Insekten summen, ein sanfter Westwind weht, auf einer nahen Koppel grasen Pferde. Nichts deutet auf das Erscheinen der brennende Kuh hin, die wie aus dem Nichts vor Therese auftaucht. Das Tier steht lichterloh in Flammen und Therese weicht panisch vor der lodernden Kreatur zurück, doch die Kuh folgt ihr mit treuherzigem Muhen nach und setzt dabei kleine Flecken des Weges unter ihren Hufen in Brand. „Geh weg!“ kreischt Therese hysterisch. Die Kuh stößt ein heiseres Lachen aus und verwandelt sich in ein riesiges Steak auf zwei Beinen. Das Steak tanzt vor Thereses angstgeweiteten Augen hin und her und singt: „Steakhaus Friedrich. Wir brennen für gute Qualität.“ „Das soll aufhören!“ schluchzt Therese und drückt fest die Augen zu. Als sie es wagt erneut einen Blick zu riskieren, ist das tanzende Steak verschwunden. Die Ranch liegt verlassen da, die Pferde sind verschwunden, selbst die Insekten schweigen und die Sonne verbirgt sich hinter trüben Wolkenschlieren. „Hallo?“ fragt Therese ängstlich, sie fühlt sich alleine und verwirrt. „Hallo.“ antwortet eine leise Stimme zu ihren Füßen. Mit einem schaurigen Gefühl im Magen senkt Therese den Blick. Auf dem Weg hockt ein kleiner Gartenzwerg, er wirkt verschwommen und ist nur undeutlich zu erkennen, Therese kneift die Augen zusammen, um ihn besser sehen zu können. „Du brauchst wohl eine Brille.“ versetzt der Gartenzwerg freundlich. „Kann schon sein.“ antwortet Therese verwirrt. „Optiker Vucovic.“ rät der Zwerg und reicht ihr eine Visitenkarte. Therese starrt auf die Karte und sagt mechanisch „Danke.“ doch der Gartenzwerg ist bereits verschwunden. Die Ranch löst sich auf, das Traumbild zerfällt. Therese sitzt in einem kleinen Ruderboot, das lautlos auf einem spiegelglatten See aus wellenförmig bedrucktem Papier dahintreibt. Ihr gegenüber hockt Teamleiter Helge Priem auf einem feuchten Aktenstapel, er hält eine goldene Kugel in der Hand und starrt Therese intensiv an. „Küss mich, ich bin der Froschkönig.“ sagt er und sein Gesicht beginnt tatsächlich dem eines Frosches zu ähneln. Therese weicht angewidert zurück, doch das Boot ist zu klein, um dem Priem-Froschwesen auszuweichen und so versetzt sie ihm einen herzhaften Tritt vor die Brust. Der Teamleiter strauchelt und fällt mit einem lauten Platschen in den See. „Das hast du jetzt davon!“ schreit Therese wütend, resolut schnappt sie sich die Ruder und steuert das Boot zurück ans Ufer. Am steinigen Strand springt sie atemlos an Land und ist froh, das eigenartige Wasser hinter sich zu lassen. Therese fühlt sich unwohl. An diesem papierenen See, an diesem steinernen Strand, in ihrer schutzlosen Haut. Sie hat das ungewohnte Gefühl, in einem Alptraum festzustecken und versucht krampfhaft aufzuwachen, aber es gelingt ihr nicht und so bleibt sie hilflos und frustriert am Ufer des stillen Papiersees zurück. „Hallo, meine Schöne.“ Ein gutaussehender Fremder platzt mitten in Thereses wachsendes Unbehagen, sein umwerfendes Lächeln vermag nichts an ihrer verärgerten Gefühlslage zu ändern. „Wer sind Sie?“ fragt Therese barsch. „Wie bitte?“ fragt der Schönling irritiert zurück. „Wer Sie sind, habe ich gefragt.“ Therese stemmt die Arme in die Hüften und stampft zornig mit dem Fuß auf. „Ich bin dein Traummann?“ antwortet der Fremde, doch es klingt mehr nach einer Frage, als nach einer tatsächlichen Antwort. „Auf gar keinen Fall.“ zischt Therese aggressiv. „Ich kenne Sie ja noch nicht einmal!“„Das reicht jetzt. Ich kündige.“ raunzt der Fremde beleidigt, er zieht einen Schmollmund, dreht sich affektiert um und löst sich in Luft auf. „Was?“ fragt Therese verwirrt und erwacht schweißgebadet. Therese M. liegt mit weit aufgerissenen Augen in ihrem Bett und versucht zu verarbeiten, was sie gerade eben geträumt hat. Die Erinnerung an das Geschehene ist nicht ganz zu erfassen, immer wieder tauchen neue Fetzen aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins auf, die sie verwirren und entsetzen. „Ein tanzendes Steak?“ fragt sie laut in der Stille ihres Schlafzimmers, der Klang ihrer eigenen Stimme wirkt befremdlich in ihren Ohren. Ein dringendes Bedürfnis treibt sie schließlich aus dem Bett, auf dem Weg zur Toilette fällt Therese das Bild ihrer ausfallenden Zähe wieder ein. „Dentafit.“ murmelt sie verstört und „Ich muss verrückt geworden sein.“ Beim Händewaschen bricht Therese in Tränen aus.

„Was, zur Hölle, ist da gerade passiert?“ Jean-Patrick Gruber trampelt mit hochrotem Kopf in die Kulisse des steinernen Strandes und brüllt wie ein verletzter Stier. Niemand antwortet auf sein Gebrüll, die Schauspieler und Techniker die sich noch im Studio aufhalten, drücken sich hastig in dunkle Ecken und tun so, als würde sie der Wutanfall des Regisseurs nicht betreffen. „Ihr scheiß dämlichen Idioten!“ grölt Gruber aus vollem Hals. „Ihr seid alle entlassen! Hört ihr das? ALLE!“ Plötzlich fasst er mit schmerzverzerrtem Gesicht an seine gewaltige Brust und lehnt sich gegen einen Felsen aus Styropor. „Ich glaube, ich habe einen Herzinfarkt.“ sagt Gruber in überraschend ruhigem Ton, dann geht er langsam in die Knie. Es dauert einige Minuten, bis ein beherzter Tontechniker den Krankenwagen ruft.

© sybille lengauer

Die T-Rex-Frau

Es war an einem jener grauen Regentage, die ob ihrer trüben Belanglosigkeit nicht im Gedächtnis verhaften, als Karoline H. beschloss ein besseres Leben zu träumen. Ihr altes Leben lag vor ihrem inneren Auge ausgebreitet und wirkte unter dem freudlos sezierenden Blick ihrer Unzufriedenheit spröde und abgetakelt, ganz so wie ihre arbeitsrauen Hände, die, wie zum Gebet gefaltet, in ihrem breiten Schoß ruhten. Während ein steter Westwind dunkelgraue Wolkenmassen über den kränklich blassen Himmel trieb und dicke Regentropfen gegen das geschlossene Wohnzimmerfenster warf, schaute Karoline H. enttäuscht auf ihren öde daliegenden Lebensweg zurück, der aus einer unglücklichen Ehe, eintöniger Arbeit, einer unschönen Scheidung und noch mehr eintöniger Arbeit bestand und den sie schließlich kopfschüttelnd mit folgenden, stoßweise geflüsterten Worten beschrieb: „Es ist ein einziger Jammer.“ Begleitet wurde dieses traurige Bekenntnis von einem herzensschweren Seufzer, der sich quälend langsam Karolines Kehle entrang und genauso in der lieblos dekorierten Wohnung verklang, wie ihre geflüsterten Worte. Und so saß sie da, fast Fünfzig, mit ergrautem Haar, ausweglos der Resignation ergeben und erstarrt in frustrierender Untätigkeit, bis sie plötzlich, mit der Heftigkeit eines Hirnschlags, die Einsicht traf, dass nichts so zu bleiben hatte, wie es bis jetzt gewesen war. Karoline H. erhob sich schwer atmend von ihrer abgesessenen Couch, stieß die hornhautgelben Füße vehement in die bereitstehenden Plüschbommel-Hausschuhe und schlurfte eilig zum geschlossenen Fenster. Kaum angekommen, riss sie es sperrangelweit auf, sie achtete nicht auf den unliebsamen Regen, der ihr kalt ins Gesicht prasselte, ignorierte den scharfen Wind, der ihre Frisur durcheinander wehte, breitbeinig stand sie da und grinste. „Heute ist ein herrlicher Tag für ein Abenteuer!“ rief Karoline H. in den menschenleeren Hinterhof ihrer Wohnsiedlung, dann schloss sie das Fenster mit einem lauten Knall und schlurfte, unverständliches murmelnd, in ihr dunkles Vorzimmer. Vielleicht war es ein Glück, dass niemand zugegen war, ihre eigentümliche Veränderung zu beobachten, vielleicht war es eine Tragödie, niemand weiß das zu sagen. Unter lautem Rumoren schlüpfte sie an der ordentlich sortierten Garderobe in ihren karierten Herbstmantel, auf Schuhe beschloss sie zu verzichten, Karoline war seit ihrer Kindheit nicht mehr barfuß im Regen spaziert. Die Plüschbommel-Hausschuhe stellte sie sorgsam neben der Eingangstür ab, dann verließ Karoline H. auf bloßen Füßen ihre kleine Wohnung. Kaum hatte sie das Treppenhaus mit seinen kalten, glatten Fliesen betreten, da liefen erste Schauer durch ihre Fußsohlen bis ins Rückenmark hinauf und sie kicherte wie ein junges Mädchen im Ferienlager. Die leisen, tapsenden Geräusche, die ihre nackten Füße auf den Steinen erzeugten, klangen kinderweich in ihren Ohren. Am Fenster des Treppenhauses blieb sie kurz stehen, um erneut nach draußen in den Hinterhof zu sehen. Dem neutralen Auge des unvoreingenommenen Beobachters wäre kein nennenswertes Detail aufgefallen, das sich aus dem Treppenhausfenster präsentiert hätte, doch Karoline H. stieß ein begeistertes Jauchzen aus. „Eine Pfütze!“ Erstaunlich behände eilte sie die verbliebenen Stufen hinab und im Nu war sie im bedrückend seelenlosen Hinterhof verschwunden, der einer verkrüppelt gewachsenen Birke und ein paar Mülltonnen als schimmelträchtige Heimstatt diente. Karoline schritt vorsichtig über den rissigen Asphalt, der an vielen Stellen von den Wurzeln der Birke aufgebrochen war und achtete auf spitze Steinchen, die in ihrem Weg lagen. Sie spürte die kalte Berührung des Regens auf ihrem Haar, fühlte die Unnachgiebigkeit des harten Bodens unter ihren Füßen. Vor der großen Pfütze, die sie aus dem Treppenhausfenster erspäht hatte, blieb sie kurz stehen, dann trat sie ein paar Schritte zurück, nahm etwas ungelenk Anlauf und sprang mit einen spitzen Schrei mitten hinein. Wasser spritzte in alle Richtungen und Karoline H. lachte aus vollem Herzen. „Was machen Sie da?“ Dass die Stimme zu einem Jungen von höchstens sieben Jahren gehörte, tat der Missbilligung in seinem Tonfall keinen Abbruch. „Rennen und Ball Spielen verboten. Steht auf dem Schild. Da.“ Der zerzaust wirkende Junge, der betont lässig im gegenüberliegenden Hauseingang lehnte, deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ein Schild neben den Mülltonnen und maß Karoline H. mit tadelndem Blick, doch die zuckte nur desinteressiert mit den Schultern. „Das gilt nur für Kinder.“ sagte sie in leicht überheblichem Tonfall und der Junge legte stirnrunzelnd den Kopf schief, als er über ihre verblüffende Antwort nachdachte. Seine hellen Augen musterten den durchnässten Mantel und die aufgeweichten, nackten Füße der ältlichen Dame, die, wie er wusste, zum Nachbarhaus gehörte und sein Gesicht zeigte die ernsten Züge angestrengten Denkens. „Das ist aber nicht fair.“ vollendete er schließlich laut seinen komplizierten Gedankengang und Karoline H. beschloss einzulenken. „Kinder unter Aufsicht eines Erwachsenen sind ebenfalls von der Regel ausgenommen.“ „Wirklich?“ „Aber ja. Spiel ruhig ein bisschen, wenn dir danach ist.“ Ein normaler Junge hätte nun vielleicht lieber Reißaus genommen, als sich von einer verrückten, alten Frau zu einem Spiel im Hinterhof auffordern zu lassen, doch ein normaler Junge wäre auch nicht an diesem ganz und gar unterdurchschnittlichen Regentag alleine im Hinterhof gewesen und so trat dieser Junge nicht die Flucht an, sondern einen Schritt nach vorn. „Was spielen wir?“ fragte er und klang ganz unbewusst wie ein professioneller Pokerspieler, der sich an einem gut besuchten Tisch im Kasino nach der Variante des Spiels erkundigte. „Texas Holdem.“ grinste Karoline H. und sah im selben Moment den Witz an die Unwissenheit des Siebenjährigen vergeudet, ratlos stierte er durch den Regen und zitterte ein wenig, als der Wind unter seine dünne Jacke fuhr. „Ist dir kalt?“ fragte Karoline in einem Anflug von erwachsener Fürsorglichkeit. „Vielleicht.“ antwortete der Junge und schlang die Arme um sich. „Dann spielen wir Dinosaurier, dabei bewegt man sich ordentlich.“ beschloss Karoline, die sich an ihre Kindheit erinnerte und an das große Dinosaurier-Buch, das ihre damalige Vorstellung von den Riesenechsen geprägt hatte. „Wie geht das?“ fragte der Junge interessiert. „Du stellst dir vor ein Dinosaurier zu sein und dann läufst du herum und bist der Dinosaurier.“ versuchte sich Karoline in einer Erklärung, doch sie konnte selbst hören, wie langweilig das klang. „Hm.“ grunzte der Junge mit berechtigter Skepsis. „Pass auf, ich zeige es dir. Ich bin jetzt ein mächtiger T-Rex.“ Karoline H. trat feierlich aus der Pfütze und stapfte mit behäbigen Schritten durch den Innenhof. Sie krümmte ihren Rücken zu einem Buckel, zog die Arme an den Oberkörper und krümmte die Hände zu verbogenen Klauen, die sie vor ihre Brust drückte. Ihr Gesicht wurde zu einer bösartigen Grimasse mit gefletschten Zähnen und sie grollte bedrohlich, während sie den kleinen Hof durchquerte. „Ruar. Ruar-uar. Ich bin der König der Echsen. Hörst du, wie mächtig ist brülle? Ruar!“ dröhnte der gewaltige T-Rex. „Und was bin ich?“ fragte der Junge mit einem kleinen Hauch von Begeisterung in seiner Stimme. „Keine Ahnung, denk dir etwas aus.“ knurrte der mächtige Tyrannosaurus hinter den Mülltonnen. „Okay, ich bin Dragoran!“ rief der Junge nun mit tatsächlicher Begeisterung und stieß ein wildes Fauchen aus, doch der gefräßige Schrecken der Saurierwelt wandte sich mit einem Kopfschütteln zu der kleinen Gestalt im Regen um und knurrte: „Unfug, so einen Dinosaurier gibt es nicht.“ „Dragoran ist kein Dino, er ist ein Pokemon. Er ist voll supermächtig und kann brutale Sachen und…ich will Dragoran sein oder ich spiele nicht mit.“ Der Tyrannosaurus musterte den widerspenstigen Jungen aus zusammengekniffenen Echsenaugen, dann zuckte er mit seinen aberwitzig kleinen Schultern und zeigte ein grauenvoll zahnreiches Lächeln. „Ist in Ordnung, du kannst dieser Dragomir sein.“ „Dragoran.“ verbesserte der Junge beleidigt. „Dann eben so.“ Der riesige T-Rex schüttelte einen dicken Regentropfen von seiner schuppigen Schnauze und beobachtete den kleinen Jungen, der sich auf die Zehenspitzen stellte, wild mit den Armen wedelte und fauchende Geräusche ausstieß. „Hyperstrahl!“ brüllte der pummelige Drache, der plötzlich wie eine dicke, birnenförmige Taube über der verkrüppelten Birke flatterte und eine Mülltonne explodierte in einem heftigen Feuerstoß. „Meine Güte!“ kommentierte der Tyrannosaurus anerkennend und wedelte mit seinen Ärmchen in der Luft, um ein Klatschen anzudeuten. „Ich kann auch Erdbeben.“ erklärte der untersetzte Drache stolz und der Boden im Innenhof begann heftig zu schwanken. „Oder Orkan. Ich bin voll supermächtig…“ „Das erwähntest du bereits.“ „…und kann brutale Sachen.“ „Auch davon habe ich gehört.“ „Soll ich noch einmal den Hyperstrahl machen?“ Der T-Rex nickte und das Pokemon wandte sich begierig einer weiteren Mülltonne zu, die beinah augenblicklich in einem grellen Feuerstrahl explodierte. Dragoran stieß ein zufriedenes Grunzen aus, seine Flügel peitschten die Zweige der Birke hin und her. „Wirklich nicht übel.“ brummte der König der Dinosaurier zufrieden und stieß ein schauerliches Brüllen aus, in das der großmächtige Dragoran heulend einstimmte.
„Justin-Marcel? Justin-Marcel! Was, verdammt nochmal, treibst du da unten?“ Eine grelle Frauenstimme biss sich hartnäckig durch die Szenen des fantastischen Innenhof-Abenteuers, Dragoran landete ungeschickt neben den schwelenden Überresten der Mülltonnen und blickte mürrisch zu einem geöffneten Fenster im vierten Stock hinauf. „Nichts, Mama!“ rief er mit der zarten Stimme des kleinen Justin-Marcel. Verstohlen zwinkerte er dem Tyrannosaurus zu, der sich mehr schlecht als recht unter der Birke verborgen hielt und Grimassen schnitt wie ein ertappter Eierdieb. „Für Nichts machst du einen scheiß Lärm. Komm jetzt rauf, du hast Hausaufgaben!“ Der mürrische Ausdruck im Gesicht des Drachen verschärfte sich, das mächtige Pokemon schnaubte enttäuscht und ließ schlapp die Flügel hängen. „Ist gut, Mama.“ rief Justin-Marcel zu dem offenen Fenster empor, das kurz darauf energisch geschlossen wurde. „Ich muss gehen.“ sagte der Junge, der zwischen den Mülltonnen im Regen stand, zu Karoline H. „Ich weiß.“ antwortete die Frau mit den grauen Strähnen im Haar. „Sehen wir uns vielleicht morgen?“ fragte Justin-Marcel und es klang fast wie eine Bitte. „Vielleicht.“ „Wie heißt du überhaupt?“ bohrte Justin-Marcel weiter, nur um noch nicht gehen zu müssen, abwesend wischte er sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. „Karoline.“ entgegnete die Frau, die eben noch ein Dinosaurier gewesen war. „Dann bis vielleicht morgen, Karo!“ Justin-Marcel verabschiedete sich mit einem knappen Kopfnicken, bevor er im Hauseingang verschwand. Karoline H. stand barfuß neben der riesigen Pfütze und fühlte der kindlichen Energie hinterher, die mit Justin-Marcel den Innenhof verlassen hatte. „Morgen ist wieder ein herrlicher Tag für ein Abenteuer.“ versicherte sie sich selbst, als sie den Innenhof verließ und ächzend die vielen Treppen zu ihrer Wohnung erklomm, um in dicke Wollsocken zu schlüpfen, heißen Kakao zu trinken und schließlich zufrieden vor dem Fernseher einzuschlafen…

© sybille lengauer

Es war ein verregneter Samstagnachmittag im Juni 1993, als Professor Friedrich Bernstein den Apparat träumte. In tiefem Schlummer versunken lag er in seinem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer auf einer altgedienten Rattancouch. Eine leichte Sommerdecke umschlang den hageren Körper des Schläfers, seine schlanken Hände ruhten, locker ineinander verschränkt, auf der eingefallenen Altherrenbrust. Sein blasser Mund stand leicht geöffnet und atmete den Duft von Pfefferminzpastillen aus. Man hätte meinen können, es handele sich nur um einen einfachen Pensionist, der hier sein wohlverdientes Nachmittagsschläfchen absolvierte, doch war der Professor nicht irgendjemand. Er war der bedeutendste Träumer unserer Zeit. Während durch ein gekipptes Fenster regengekühlter Wind in die Wohnung wehte und die hellen Stimmen einer lärmenden Kinderschar von der Straße heraufdrangen, träumte er von massiven Zahnrädern und hunderten Schrauben, sah kupferrot glänzende Röhren und Ventile, die sich vor seinem inneren Auge, Stück für Stück, zu einem kunstvoll verschlungenen Ganzen zusammenfügten. Der Apparat entstand in seinem Geiste und während er ihn erdachte, lächelte der Professor zufrieden im Schlaf. Nach einer geraumen Weile tauchte er langsam aus den tiefsten Schichten seines Unterbewussten auf, hielt jedoch weiter die faltenumkränzten Augen geschlossen, um das Bild nicht zu verlieren, das in seinem Kopf Gestalt angenommen hatte. Vorsichtig tastete er mit der linken Hand über das kleine Beistelltischchen, das auf dünnen Holzbeinen neben der Couch stand. Seine suchenden Finger glitten über eine leere Kaffeetasse und mehrere Kugelschreiber hinweg, griffen kurz in den halbvollen Kristallaschenbecher, der in seiner klobigen Größe das Tischchen dominierte, überwanden eine zerknüllte Zigarettenschachtel und fanden schließlich das kleine Diktiergerät, welches immer parat lag, wenn er ein Schläfchen wagte. Ohne ein Blinzeln zu riskieren, hielt Professor Bernstein das Aufnahmegerät nah an seine Lippen und begann in rasender Geschwindigkeit aufzusagen, was er in seinem Traumbild sah.

Es war ein kühler Dienstagabend im September 1996, als Gerda Roth dem Tod begegnete. Frustriert von einem stumpfsinnigen Arbeitstag, den sie im überheizten Großraumbüro einer renommierten Versicherungsgesellschaft verlebt hatte, fuhr sie in ihrem roten Peugeot 106 Dreitürer die Landstraße entlang und führte Selbstgespräche mit dem eingebauten Radio. Ihre keck auffrisierte Dauerwelle und die knallig bunt lackierten Fingernägel konnten nicht über ihre zänkisch verkniffenen Gesichtszüge hinwegtäuschen. Gerda Roth war gerade damit beschäftigt, den Moderator einer beliebten Talk-Sendung einen arroganten Esel zu schimpfen, als ein gigantischer Tintenfisch gegen die Windschutzscheibe ihres Kleinstwagens prallte. Entsetzt trat sie die Bremse bis zum Boden durch und riss gleichzeitig das Lenkrad herum. Der rote Peugeot schleuderte quer über die dunkle Landstraße und landete mit einem dumpfen Knall im matschigen Straßengraben. Der riesige Tintenfisch, der den Wagen in seiner blinden Agonie fest umklammert hielt, kollabierte unter dem zentnerschweren Gewicht seines monströsen Leibes und erstickte zugleich in der feindlichen Umgebung, der er plötzlich ausgesetzt war. In seinem schrecklichen Todeskampf zerquetschte er die Windschutzscheibe des kleinen Peugeot und tötete Gerda Roth, die zwischen Autositz und Lenkrad eingekeilt war und von den wild peitschenden Tentakeln zermalmt wurde. Wenige Sekunden später verwandelte sich der Kadaver des Tintenfisches in dampfenden Schleim, der an der zerdrückten Karosserie des Wagens hinunterfloss und im finsteren Straßengraben versickerte.
Zur selben Zeit schritt Professor Friedrich Bernstein in einer geräumigen Werkstatt auf und ab, die er vor drei Jahren angemietet hatte. Er betrachtete kopfschüttelnd den fertiggestellten Apparat, der auf einem stabilen Eisengestell mit vier massiven Rädern ruhte. Dutzende Zahnräder ratterten munter im Inneren der würfelförmigen Maschine, heißer Dampf brodelte durch gewundene Röhren und entwich in zischenden Fontänen. Ein dickes Kabelgeflecht stellte eine Verbindung mit einem enormen Glastank her, der zu zwei Dritteln mit milchig trübem Salzwasser gefüllt war. An einem rechteckigen Schaltpult blinkten grüne und orange Lämpchen fleißig um die Wette, während ein kleiner Bildschirm Ausschnitte eines fernen Korallenriffs zeigte. Alles erregte den Anschein betriebsamer Ordnung, doch der Professor seufzte nur deprimiert. Er musterte die verzerrte Reflektion seines demoralisierten Spiegelbildes in der dicken Tankglasscheibe, dann sog er scharf die Luft durch seine Nasenflügel ein, wandte sich entschlossen dem Schaltpult zu und legte energisch einen Heben um. Nach und nach verstummte das Rattern und Zischen im Bauch des Apparates. Die Lämpchen auf den Bedienfeldern erloschen und es wurde merklich dunkler in der Werkstatt, nur das Wasser im großen Glastank tauchte die Szenerie in fahl schimmerndes Licht.
Friedrich Bernstein nickte seinem jungen Assistent zu, der in diesem Augenblick bei der Tür hereinkam und mit großer Konzentration einen Teller mit, liebevoll garnierten, Schinken-Käse-Sandwiches vor sich hertrug. „Es funktioniert nicht, Roger.“ konstatierte der Professor niedergeschlagen und schlug mit der flachen Hand auf das glattpolierte Holz des Schaltpultes. Sein Blick glitt über den flimmernden Monitor, der immer noch Ausschnitte eines fernen Meeresbodens zeigte. Ein Ichthyosaurier schoss pfeilschnell durch das Bild, doch der Professor achtete nicht darauf. Roger Bloch stellte den Teller auf einer Werkbank ab, die mit Papieren und Notizblöcken überfüllt war und blickte mit gerunzelter Stirn zum Apparat. „Es könnte an der Unschärfe liegen.“ dachte Professor Bernstein laut nach und kratzte sich ratlos an der kahlen Schläfe. „Vielleicht sollten wir noch einmal ein unbelebtes Objekt testen?“ schlug Roger Bloch vor und rückte geschäftig seine ovale Nickelbrille zurecht. Der Professor maß den jungen Mann mit einem verächtlichen Seitenblick. „Was soll das nützen?“ fragte er in gereiztem Ton. „Wir transportieren seit acht Monaten Steine durch die Zeit. Das bringt uns nicht weiter.“ Der junge Assistent begann unter dem bohrenden Blick des Professors zu schwitzen. „Vielleicht haben wir die Zeit-Ort-Verschiebung falsch kalkuliert?“ stotterte er und sah dabei betreten zu Boden. „Die Chance besteht. Rechnen wir es noch einmal durch.“ Friedrich Bernstein trat an die überfüllte Werkbank und winkte Roger Bloch ungeduldig an seine Seite. Gemeinsam arbeiteten sie sich durch lange Zahlenkolonnen, füllten karierte Notizblöcke mit komplizierten Formeln und Berechnungen. Bevor sie schließlich einen neuerlichen Versuch wagten, griff Roger Bloch zu den Schinken-Käse-Sandwiches, die er für den Professor mitgebracht hatte und verschlang sie mitsamt der Petersiliengarnierung.
Kurze Zeit später hauchte der sechzehn Jahre alte Bäckerlehrling Johann DeMondelle sein Leben aus, als er, zwei Stunden nach Mitternacht, von einem riesigen Ammonit erschlagen wurde. Der Parapuzosia seppenradensis fiel buchstäblich aus heiterem Himmel und begrub den ahnungslosen Jugendlichen donnernd unter sich, der, nur wenige Schritte von seinem Elternhaus entfernt, sein brandneues Hercules Prima Mofa besteigen wollte, um zur Bäckerei zu fahren. Es blieb nicht viel übrig, vom armen Johann DeMondelle, denn der tonnenschwere Kopffüßer zermalmte ihn bis zur Unkenntlichkeit und hinterließ einen tiefen Krater im Asphalt. Als der Ammonit sich wenige Sekunden später in dampfenden Schleim auflöste, blieb nur der zerdrückte Leichnam des unglücklichen Bäckerlehrlings zurück. Das Hercules Prima stand, von der Katastrophe völlig unbeschadet, neben dem tiefen Krater. Der mysteriöse Todesfall erregte überregionale Aufmerksamkeit und wurde in den Medien ausgiebig diskutiert, doch weder Professor Bernstein, noch sein Assistent Roger Bloch, nahmen von dem Ereignis Kenntnis. Frustriert vom neuerlichen Misserfolg, zerlegte der Professor den Apparat, um Teile der Transportvorrichtung zu verbessern, während sich Roger Bloch in die Berechnungen vertiefte, die ein Navigieren durch die Zeit ermöglichten.

Es war ein windiger Mittwochmorgen im Dezember 1996, als Professor Bernsteins Kreation endlich den erträumten Erfolg erzielte. Der alte Mann hatte unermüdlich an der Vollendung des Apparats gearbeitet und mithilfe seines Assistenten sämtliche Berechnungen bis auf das letzte Komma überprüft. Für einen ersten Versuch hatte der Professor eine Zeitlinie im frühen Kambrium ausgewählt, die er für vielversprechend hielt. Nun stand er neben Roger Bloch in der hell erleuchteten Werkstatt und nickte anerkennend. Zufrieden beobachteten die beiden einen großen Anomalocaris, der im trüben Wasser des Tanks schwamm und immer wieder gegen die durchsichtigen Glaswände stieß. „Wir haben es geschafft.“ flüsterte Roger Bloch fassungslos, während der Professor selbstgefällig lächelte. „Haben Sie je daran gezweifelt, mein Sohn?“ fragte er in jovialem Ton. „Natürlich nicht, Professor.“ Roger Bloch beeilte sich, das Lächeln zu erwidern. „Nun holen Sie schon das Videogerät.“ Professor Bernstein wedelte fahrig mit einer Hand durch die Luft. Roger Bloch verließ im Laufschritt die Werkstatt und kehrte, fast Augenblicklich, mit einem modernen Camcorder zurück. Seine Hände zitterten stark, als er das schlanke Gerät aktivierte und auf den riesigen Glastank richtete. „Wir schreiben den vierten Dezember 1996. Es ist, ähm…wie spät ist es?“ „Fünf Uhr Dreiunddreißig.“ „Es ist Fünf Uhr Dreiunddreißig und wir haben endlich…, wir können vermelden, dass… ähm.“ „So wird das nichts, Roger. Richten Sie die Kamera auf mich.“ Professor Bernstein postierte sich breitbeinig und mit grimmigem Gesichtsausdruck vor den dicken Kabeln, die den Apparat mit dem Glastank verbanden. In seinem Rücken stieß der Anomalocaris dumpf gegen die massive Glasscheibe. „Meine sehr verehrten Damen und Herren, geneigtes Fachpublikum. Es ist mir eine große Freude, Ihnen heute vom erfolgreichen Test meines fantastischen Zeit-Materie-Transporters zu berichten.“ Mit einer theatralischen Handbewegung wies er auf den zischenden Apparat. „Filmen Sie jetzt den Apparat, Roger. Gut. Ausgezeichnet. Und jetzt wieder mich.“ Der Professor hüstelte geziert und wandte sich der Linse des Camcorders zu. „Bestaunen Sie nun eine urtümliche Kreatur, die eben noch durch die warmen Wasser des Japetus-Ozeans pirschte und jetzt hier, in unserer Zukunft…“ „Professor!“ Irritiert durch Roger Blochs Zwischenruf unterbrach Professor Bernstein seine dramatische Rede. Er wandte sich nach dem Glastank um und fluchte. „Es hat sich plötzlich aufgelöst,“ hauchte sein Assistent, „da ist überall Schleim!“ „Stellen Sie das Videogerät ab.“ murmelte Professor Bernstein.

Es war ein verschneiter Freitagnachmittag im Januar 1997, als Professor Bernstein den Apparat erneut testete. Er tat dies alleine und ohne fremde Hilfe, da er die Erniedrigung nicht ertragen wollte, die er jedes Mal empfand, wenn er die ratlosen Blicke seines Assistenten auf sich ruhen fühlte. Anstelle des jungen Gehilfen leistete ihm nun süßer Portwein Gesellschaft. Friedrich Bernstein stand in Jogginghose und Unterhemd vor dem holzvertäfelten Schaltpult und legte mit steinerner Miene jenen Hebel um, der seinen fantastischen Apparat zum Leben erweckte. Summend und ratternd erwachte die Maschine zum Leben, der kleine Bildschirm, der in das Schaltpult eingelassen war, flackerte und zeigte eine Unterwasserlandschaft, durch die gewaltige Schwärme von Quallen trieben. Professor Bernstein suchte mit einem einfachen Zielsystem nach einer passenden Lebensform und schoss einen Transportstrahl durch die Zeit. Ein helles Gleißen flutete durch die Werkstatt, doch der Professor kannte den Effekt und wandte vorbeugend den Blick ab. Als sich das Licht wieder auf ein normales Maß reduziert hatte, schwamm eine riesige, fluoreszierende Qualle im milchigen Wasser des Glastanks. Friedrich Bernstein erlaubte sich ein kurzes, erleichtertes Seufzen, dann kniff er skeptisch die Augen zusammen. Er trank einen großen Schluck Portwein und überprüfte einige Anzeigen auf dem Schaltpult, als plötzlich Bilder und Emotionen sein Gehirn mit großer Heftigkeit überfluteten. Er spürte die unbeschreibliche Verbundenheit einer winzigen Lebensform mit der unermesslichen Weite des riesigen Ozeans. Fühlte sich im nächsten Moment sicher an einem rauen Felsen verankert, der im warmen Meereswasser einer kleinen Lagune lag. Bunt schillernde Fische schwammen pfeilschnell umher und mit einem Mal fing er einen dieser zappelnden Leckerbissen mit langen Tentakeln und führte die gelähmte Beute genüsslich zu seinem Mund. Er spürte einen Schauder der Zufriedenheit, dann brachen plötzlich Gefühle von Angst und Zorn über ihn herein. „Hilfe!“ schrie Professor Bernstein. Er taumelte rückwärts und schlug sich die Hände vors Gesicht. Doch die Bilder und Empfindungen hörten nicht auf, er sah trübes Wasser, die verzerrten Konturen der Werkstatt und sich selbst, wie er zusammengekrümmt an einer Wand hinter dem Schaltpult lehnte. Er spürte Verwirrung und großen Zorn, zugleich Entsetzen und eine unbändige Angst, wusste nicht, wer er war oder wo er sich befand, kannte nicht einmal mehr die Anzahl seiner Gliedmaßen. Er wollte wieder um Hilfe rufen, konnte aber nicht die beiden Münder in Einklang bringen, die er zugleich empfand. Ein Gefühl großer Hilflosigkeit wanderte zwischen dem Professor und der riesigen Qualle hin und her, dann schoss rasender Schmerz durch Friedrich Bernsteins Körper, als sich die majestätische Meduse langsam zu zersetzen begann. Wie die Lebensformen, die vor ihr durch die Zeit transportiert worden waren, löste auch sie sich unerbittlich auf, doch die verbesserten Formeln des Professors verzögerten den grausamen Prozess. Das wehrlose Tier wand sich verzweifelt hinter der dicken Glasscheibe, während sich sein Körper langsam zersetzte und Friedrich Bernstein fühlte jede Sekunde seines großen Schmerzes. Erst als sich der Schirm der Qualle restlos in Schleim aufgelöst hatte, brach die Verbindung zwischen ihnen ab und Professor Bernstein verlor das Bewusstsein.

Es war ein eiskalter Samstagmorgen im Januar 1997, als Professor Friedrich Bernstein den Apparat demontierte. Schluchzend kniete er auf dem kalten Werkstattboden und löste Schraube um Schraube aus den Eingeweiden der Maschine. Eine leere Flasche Portwein ragte aus dem Wirrwarr von Röhren und Zahnrädern hervor, das den Professor umgab und auf dem stillgelegten Schaltpult stand eine weitere, halbleere Flasche neben einem umgekippten Glas. Stück für Stück nahm der Professor seinen Zeit-Materie-Transporter auseinander, trennte Kabel, kappte Verbindungen, löste Gewinde. Er hielt erst inne, als er die Maschine vollständig auseinandergenommen hatte. Dann stand er ächzend auf und ließ das dunkelbraun verfärbte Wasser aus dem Glastank in die Kanalisation ablaufen. Er trank noch mehr Portwein, trank direkt aus der Flasche und lauschte mit gesenktem Haupt dem Rauschen des abfließenden Wassers, dachte an das unendlich weit entfernte Meer, das seit Millionen von Jahren nicht mehr existierte, dachte an die tiefe Verbundenheit, die er für kurze Zeit empfunden hatte und das Gefühl des schwerelosen Dahintreibens. Die Minuten verstrichen, der Professor stand mit geschlossen Augen da und fühlte der Wehmut in seinem Herzen nach. Er stellte sich vor, wie er die Werkstatt abschloss, sich in seinen Volvo S40 setzte und bis an die Nordsee fuhr. Er träumte sich an den Stand und während über seinem Kopf die Möwen kreischten, watete er in die sturmumtosten Wellen des Meeres, kehrte zurück in die vertraute Geborgenheit seiner archaischen Heimat. Professor Bernstein trennte sich nur schwer von diesem melancholischen Gedanken. Er öffnete widerstrebend die Augen und starrte niedergeschlagen auf den leeren Glastank. „Es tut mir so leid.“ flüsterte er. Betrübt löschte er beim Verlassen der Werkstatt alle Lichter, ohne sich noch einmal umzusehen. Er schloss sorgfältig hinter sich ab und fuhr in seinem Volvo S40 nach Hause, um nie wieder zu träumen.

© sybille lengauer